Dienstag, 16.05.2023: Verschenkekiste
Sie steht am Wegesrand und lacht mir zu. Meist radle ich vorbei. Aber aus dem Augenwinkel nehme ich sie wahr. Und manchmal kommt da noch so ein kleiner Gedanke: Heute wäre vielleicht was für dich drin gewesen.
Die Verschenkekiste. Ein einfacher Karton an einem geschickt gewählten Platz. Direkt am Rand des Fußwegs, aber unter einem kleinen Vorsprung, der vor Regen schützt. Sie ist gut gepflegt, nicht einfach abgestellt und vergessen. Und sie hält mir wunderbare Dinge entgegen. Eine kleine elektrische Maschine, mit der sich aus Karotten lange dünne Spiralen schneiden lassen. Wie aufwändig das mit einem Küchenmesser wäre, wenn ich einmal solche Streifen brauchte. Eine kleine Bratpfanne ist auch dabei, sie sieht eigentlich noch fast neu aus. Ein Wanderführer durch ein weit entferntes Mittelgebirge: da waren wir eigentlich noch nie. Und: Kindersachen, schöne Sachen und gut behandelte Kinderbücher. Zu Verschenken.
Meistens gehe ich dann doch weiter. Wir haben ja schon alles und eigentlich auch vieles, was wir weiterverschenken könnten. Aber ich denke daran, was mir in meinem Leben geschenkt worden ist. Mir fallen bei kurzem Nachdenken sehr viele Erlebnisse ein, in denen ich erfreut, durch Freigebigkeit beschämt, in Verlegenheit gerettet wurde, weil Menschen mir etwas geschenkt haben.
Das waren manchmal Sachen, aber es war auch Vertrauen, Gastfreundschaft, Aufmerksamkeit. Manchmal auch nur eine Trinkflasche Wasser, eine Mahlzeit, eine Mitfahrgelegenheit. Dafür bin ich wirklich dankbar. All den Schenkenden und letztlich auch Gott im Himmel, den ich hinter all den schützenden und schenkenden Engeln in meinem Leben spüre. Und ich frage mich, ob es mir eigentlich gelingt, das irgendwie weiterfließen zu lassen an andere. Wie steht es um meine Verschenkekiste, ist sie gut gepflegt und fällt sie anderen Menschen auf?
Montag, 15.05.2023: Die kalte Sophie
In der DDR gab es nach meiner Erinnerung ein festes Datum, an dem die Freibäder nach dem Winter wieder öffneten. Der 15. Mai. Ob das mit ihr zusammenhing? Ob sie dahintersteckt? Ich weiß es nicht. Aber, dass auf manchen Fensterbrettern immer noch Töpfchen mit ausgesäten Tomaten und andere Pflänzchen stehen, das liegt an ihr. Langsam nervt das. Die sollen jetzt mal raus in den Garten, in gute Erde und richtig wachsen. Aber an ihr müssen sie erst vorbei. So sagt es die Gärtnerweisheit. Pflanze nie vor der kalten Sophie. Sie ist die einzige Frau unter den Eisheiligen neben Mammertus, Pankratius, Servatius und Bonifatius.
Heute ist ihr Tag. Der Gedenktag der Sophia von Rom, einer jungen Frau, die 304 gestorben ist und über deren Leben wir nicht viel wissen. Aber für die Weisheit der Bauernregeln ist sie verbunden mit der Erfahrung, dass es bis zum 15. Mai noch einmal frostige Nächte und nasse Tage geben kann. Sie heißt auch die nasse Sophie. Nässe und Frost gemeinsam können jungen Pflanzen gefährlich zusetzen. Darum warten viele Gärtner ihren Tag ab.
Es wird ihr nicht viel Gutes zugeschrieben - Kälte und Nässe, und trotzdem mag ich sie. Sophia heißt Weisheit. Und im biblischen Denken hat die Weisheit mit der geheimnisvollen Gegenwart Gottes in unserem Leben zu tun. Weisheit ist Lebensklugheit, Weisheit ist Vernunft, Weisheit sind Erfahrungsregeln. All das ist Weisheit, aber es ist auch die Einsicht, dass in allem und hinter allem, was wir erkennen und ahnen , Gott nahe ist. Im Wohltuenden und in dem, was wir ertragen müssen. Selbst dann, wenn die menschlichen Regeln versagen. Wer am 15. Mai Frost erwartet, kann sehr daneben liegen und vielleicht bleibt das auch so in Zeiten des Klimawandels. Trotzdem erinnert mich die kalte Sophie an einen tragenden Rhythmus des Lebens und darin ahne ich Gottes Gegenwart in meiner Welt. Ob die Tomaten wirklich gute Frucht tragen, hängt noch von vielen anderen Faktoren ab. Aber jetzt können sie rausgepflanzt werden.