20.02.2025: Eine Geschichte in zwei Versionen
"Wissen Sie", sagt Waltraud Märker, während sie mir Kaffee nachschenkt, "wissen Sie, ich kann mein Leben als zwei unterschiedliche Geschichten erzählen. In der einen habe ich im Januar 1945 Polio bekommen und musste ins Krankenhaus. Also sind meine Mutter und mein Bruder ohne mich aus unserem schlesischen Dorf geflohen. Ich lag bis April im Krankenhaus und kam dann zu einer Tante, die man glücklicherweise ausfindig machen konnte. Erst zwei Jahre später hab ich meine Mutter und meinen Bruder wiedergefunden. Ich habe die Schule ohne Abschluss verlassen. Meinen Mann Rudi hab ich beim Tanzen in der Konsumgaststätte kennengelernt. Wissen Sie überhaupt was das ist, Frau Pfarrer?"
Ich nicke vage und nehme einen Schluck aus der Kaffeetasse. Frau Märker erzählt weiter: "Ich war dann auch gleich schwanger und wir haben schnell geheiratet. Bald kam das zweite Kind. Unsere Ehe war nicht gerade glücklich. Der Rudi war auf Montage und fast nie da. Irgendwann haben wir uns getrennt und ich hab die Kinder allein großgezogen. Später, das war schon nach der Wende, ist der Rudi krank geworden und da hab ich ihn wieder aufgenommen und gepflegt bis zum Schluss." Sie schaut aus dem Fenster und schweigt.
"Und die andere Geschichte, Frau Märker" frage ich nach einer Weile. "In der anderen Geschichte hat mir die Polio den grauenhaften Treck erspart. Meine Tante, bei der ich nach dem Krieg gelebt hab, hat mir Kochen und Backen beigebracht. Und ja mit dem Rudi war es nicht einfach, aber als er dann krank wurde und wieder bei mir eingezogen ist, hatten wir es richtig gut miteinander bis zu seinem Tod. Jetzt bin ich fast 90, habe vier phantastische Enkel, zwei Urenkelinnen und backe immer noch gern."
Wir reden noch eine Weile, trinken Kaffee und schauen uns Fotos von den Urenkeln an. Am Ende meines Besuchs spreche ich ein Gebet. Ich bete etwas unbeholfen, wie immer wenn ich es aus dem Bauch heraus machen muss: „Großer Gott“, bete ich, „danke, dass Waltraud Märker bewahrt worden ist. Danke für ihre Familie und dass sie heute so liebevoll zurückzublicken kann. Auch auf das Schwierige. Danke, dass sie mir davon erzählt hat.“ Ich öffne die Augen. Frau Märker weint ein bisschen. "Kommen Sie bald mal wieder", sagt sie, "dann backe ich uns schlesischen Apfelkuchen."