Dienstags direkt | 17.12.2024 | 20-23 Uhr Mittendrin und doch allein?! - Einsamkeit hat viele Facetten
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Versagen wir als Gesellschaft dabei, Gemeinschaft zu organisieren - vor allem für die Jüngeren? Welche Möglichkeiten es gibt, der Isolation zu entgehen und Ersatz zu finden, wenn der Familienkreis fehlt oder zu fern ist? Darüber haben wir bei Dienstags direkt gesprochen.
In der Weihnachtszeit fällt es besonders auf, wenn Menschen nicht in geselliger Runde sitzen, sondern ihre Zeit allein verbringen. Was von einigen gewünscht ist, wird von vielen gefürchtet: Einsamkeit. Aktuelle Studien zeigen, dass sich immer mehr Jüngere einsam fühlen. Dem gerade erschienenen Einsamkeitsreport der Techniker Krankenkasse zufolge, sagen das zwei Drittel der 18- bis 39-Jährigen. Dagegen sagt das nur jeder fünfte Rentner von sich.
Versagen wir als Gesellschaft dabei, Gemeinschaft zu organisieren - vor allem für die Jüngeren? Welche Möglichkeiten es gibt, der Isolation zu entgehen und Ersatz zu finden, wenn der Familienkreis fehlt oder zu fern ist?
Diese Gäste ware live im Studio bei Dienstags direkt:
- Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller | Leiterin des Instituts für Sozialmedizin an der Uni Leipzig
Menschen sind soziale Wesen und Einsamkeit macht krank.
Individualismus und Kapitalismus führen zu... einer neuen Einsamkeit, die nicht nur die Alten, sondern vor allem die Jungen betrifft.
- Ingo Reichel | Johanniter Kreisverband Erzgebirge/Mitglied des Kreisvorstands
Wir begegnen Einsamkeit mit Gemeinsamkeit, sind füreinander da - im Auftrag der Nächstenliebe.
Brieffreundschaften zwischen Generationen
Im Jahr 2020 entstand die Idee zur Aktion "Post mit Herz". Zu Ostern und im Advent sollen ein paar persönlich geschriebene Zeilen Freude in Einrichtungen bringen, in denen Seniorinnen und Senioren leben, deren Kontakt nach "draußen" eingeschränkt ist. Inzwischen sind es weit mehr als 700.000 Postkarten und Briefe.
Auch in Sachsen wird "Post gegen Einsamkeit" verschickt. Die Johanniter kümmern sich um die Verteilung. Lehramtsstudierende der Universität Leipzig sind im Rahmen des Projekts "StartTraining" beim Schreiben der Briefe dabei.
Anke Weinreich, Projektleiterin vom Zentrum für Lehrerinnenbildung und Schulforschung, weiß, dass nicht nur auf der Empfängerseite die Freude über die analoge Weihnachtspost groß ist.
Ein Silbernetz, das Gold wert ist
Der lange unbemerkt gebliebene Tod eines Nachbarn war für die gebürtige Leipzigerin Elke Schilling ein Weckruf. Schon länger hatte sie sich ehrenamtlich für die Belange von Senioren eingesetzt. Über einen Roman lernte sie ein britisches Hilfetelefon kennen und holte die Idee hierher. In der Weihnachtszeit 2017 gab es einen Test in Berlin, wo sie inzwischen lebt. Unter der kostenfreien Nummer 0800-4 708090 konnten vereinsamte oder isoliert lebende ältere Menschen anrufen. Das Angebot, einfach mal zu reden, wurde dankbar angenommen. Dadurch bestärkt ging es weiter. Zunächst stundenweise und räumlich begrenzt.
Heute ist die Hotline bundesweit von 8 bis 22 Uhr erreichbar. Das Besondere sind ehrenamtliche Silbernetz-Freundinnen und Freunde. Einmal pro Woche ruft jeder "seinen persönlichen älteren Menschen" an. Die Gespräche helfen dabei, aus der Isolation zurück ins Leben zu finden. Die Anrufe an der Hotline mehren sich. Glücklicherweise finden sich genügend Freiwillige.
Doch es mangelt an Spendengeld. Steigende Gebühren gefährden den Betrieb der kostenfreien Telefonnummer. Für alte Menschen mit geringer Rente wäre das eine Katastrophe, sagt Elke Schilling und hat eine Petition gestartet.
Spaziergänge mit Selbsterkenntnis-Potential
Anke John hatte mitten in der Corona-Pandemie die Idee, sich selbst als Begleiterin für Spaziergänge anzubieten. An der frischen Luft war das trotz Hygieneauflagen möglich. Frauen, die jemanden zum Reden brauchten, konnten die "Spazier-Geberin" buchen. Anfangs nahm sie dafür einen kleinen Betrag, der es ihr als Schriftstellerin erlaubte, die Einbußen durch gestrichene Lesungen ein wenig auszugleichen. Später wurde es zum Ehrenamt.
Gleich geblieben sei die Leidenschaft für die Natur und für gute Gespräche, sagt sie. Dabei konzentriere sie sich aufs Zuhören. Ratschläge seien nicht ihr Ding. Eine Therapeutin sei sie erst recht nicht. Dennoch habe sie oft erlebt, dass durch die Spaziergänge Frauen ihre Persönlichkeit positiv veränderten. Im Grunde biete sie nur eine Reflektionsfläche. Vor allem zu jungen Frauen habe sie dabei einen guten Draht, sagt Anke John.
Der Buchspazierer und die realen Menschen
Carsten Henn kennt sich mit Wein aus und offenbar auch mit Menschen. Er lässt sie in seinen Romanen die Welt entdecken, und vielleicht beeinflussen sie die Welt auch ein wenig. Eine dieser Figuren ist der alleinlebende Buchhändler Carl Kollhoff, der in einer Kleinstadt seinen Laden hat. Auf dem Heimweg bringt er Kunden, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ins Geschäft kommen, die bestellten Bücher nach Hause.
Er ist "Der Buchspazierer". Obwohl Kollhoff täglich Begegnungen hat, ist Einsamkeit ein wichtiges Motiv im Buch. Vor vier Jahren erschien der Roman. Nun spaziert Kollhoff über die Kinoleinwand. Für seinen Erfinder, Carsten Henn, noch immer ein merkwürdiges Gefühl, sagt er im Interview.
Einsamkeit und Glück müssen sich nicht ausschließen
Auch nach den bevorstehenden Neuwahlen wird die nächste Bundesregierung wohl kein Ministerium einrichten, das für unser Glück sorgt. Bereits vor gut zehn Jahren hat die Kommunikationsexpertin Gina Schöler deshalb das "Ministerium für Glück und Wohlbefinden" gegründet.
Schöler findet, dass auch ein Einsamkeitsministerium, wie es die Briten oder die Japaner haben, seine Berechtigung hätte. Noch besser findet sie, dass Länder wie Island, Schottland oder Neuseeland, Wohlbefinden auf der politischen Agenda haben. Der Ansatz der positiven Psychologie sei lösungsorientierter als der Blick auf Probleme oder Defizite, sagt Schöler
Ruhestand hat oft unterschätztes Einsamkeitspotential
Der Unternehmensberater Frank Leyhausen hat seit langem das Alter professionell im Blick. Bisher hat er Unternehmen in Bezug auf eine alternde Gesellschaft beraten. Im Buch "Graues Gold statt altes Eisen", das er mit der Psychologin Anja Klute schrieb, beleuchten beide das Ende des aktiven Berufslebens.
Vor allem wenn der Renteneintritt mit einer mentalen Vollbremsung einhergehe, sei die Gefahr der Vereinsamung groß, sagt Leyhausen. Etwa vier Fünftel derer, die in Ruhestand gehen, machten sich zuvor keine Gedanken darüber. Dienstliche Kontakte verebben und Freizeit verliert an Wert, wenn sie keine Arbeitszeit als Gegenspieler hat. Deshalb bräuchten die verbleibenden Lebensjahre eine andere Struktur und neuen Sinn.
Interviewpartner:
Anke Weinreich | wissenschaftliche Mitbeiterin der Universität Leipzig
Elke Schilling | Gründerin "Silbernetz e.V."
Carsten Henn | Schriftsteller
Mögliche Anlaufstellen (eine Auswahl):
Redaktion & Moderation:
Leitung: Lucas Görlach