Diversity-Day | 28.05.2024 Raus aus der Werkstatt: Inklusions-Projekt der Hochschule Magdeburg-Stendal hilft Menschen mit Behinderung
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05. Mai 2024, 04:00 Uhr
Manche Menschen haben von Anfang an wenig Chancen auf ein finanziell unabhängiges Leben, sie stecken fest in der Armutsfalle. Auch bei Sabine Schulze aus Eichstedt in Sachsen-Anhalt sah es zunächst so aus, als wäre ihr Weg durch Sonderschule und die Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung vorgezeichnet. Doch sie schaffte den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt durch ein Inklusions-Projekt der Hochschule Magdeburg-Stendal, wo sie heute als Bildungsfachkraft beschäftigt ist.
Erst seit zwei Jahren steht Sabine Schulze beruflich und finanziell auf eigenen Beinen. Zuvor war die heute 36-Jährige von Sozialleistungen abhängig. Der Weg in ein selbstständiges Leben war für sie lang und schwer.
5. Mai 2024: Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
*Am 5. Mai war der Europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.
*Verbände forderten mehr Geld und weniger Hürden für Betroffene: "Es muss ein mindestens existenzsicherndes Einkommen für alle Werkstattbeschäftigten - auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf - geben und die bestehenden Nachteilsausgleiche müssen erhalten bleiben, betonte vorab die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen ( BAG WfbM ).
*Die Aktion Mensch macht unter dem Motto "Viel vor für Inklusion! Selbstbestimmt leben – ohne Barrieren." aufmerksam machen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention besser umgesetzt werden muss, veröffentlichte eine Studie zum Stand und ein Online-Spezial mit einem Inklusions-Check der deutschen Parteien vor der Europawahl am 9. Juni.
"Da kommt die Bekloppte!"
Schon früh wird bei Sabine eine Mathe- und auch eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert: "Da wurde immer gesagt, da kommt die Bekloppte, das ist die Behinderte, mit der können wir es machen. Ich wurde schon morgens am Bus mit Schnee beworfen und bespuckt." Ab der zweiten Klasse geht sie auf eine Sonderschule in Osterburg. "Doch auch da wurde ich von der ganzen Klasse gemobbt." Sie habe keinem Menschen mehr getraut, erinnert sie sich.
Neun Jahre hält sie durch und schafft trotz alledem einen Hauptschulabschluss, beginnt eine Ausbildung zur Maler- und Lackiererin, die sie abbricht.
Selten: Von der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt
Daraufhin bietet ihr ein Berufsberater ein Praktikum in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung an – in Osterburg. Dann wird sie gefragt, ob sie bleiben möchte. "Ich habe gemerkt, die Leute kümmern sich um mich, mich ärgert keiner, ich habe mich wohl gefühlt. Also blieb ich da." Sabine Schulze arbeitet in der Wäscherei, später in der Holzverarbeitung und lange in der Autopflege. Es werden 17 Jahre.
Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind einerseits geschützte Räume, die Arbeit gilt als Maßnahme zur Rehabilitation. Auch Sabine fühlt sich dort gut aufgehoben und nach Jahren der Kränkungen beschützt. Andererseits steht das System der Werkstätten wegen fehlender Inklusion in der Kritik, denn nur etwa ein Prozent der Menschen kann wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. So widerspricht es der auch von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention, wonach es gänzlich abgeschafft werden müsste. Zudem ist das Werkstattentgelt so gering, dass die Beschäftigten mit Sozialleistungen aufstocken müssen. Zur Teilhabe gehörte es auch, genügend Geld zur Verfügung zu haben. Für Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, gilt kein Mindestlohn.
Auch Sabine bekommt damals für ihre Vollzeitarbeit maximal 276 Euro im Monat. "Das war eher ein Taschengeld", sagt sie heute und dass es damit für sie keine Aussicht auf eine selbstbestimmte Zukunft gab. "Man bleibt auf der Stelle stehen, fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse." Auf ewig gefangen im Kinderzimmer zuhause bei den Eltern, die auch nicht viel Geld haben. "Ich kam mir hier vor wie in einem Maulwurfsloch."
Man wird klein gehalten mit diesem Taschengeld und fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse.
Bildungsfachkraft für Inklusion an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Dass Menschen mit Behinderung häufiger von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, liegt vor allem im erschwerten Zugang zu Bildungsressorucen und den schlechteren Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Doch ein glücklicher Umstand hilft Sabine Schulze, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Heute arbeitet sie für ein gutes Gehalt an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Angestellt ist sie als Bildungsfachkraft in einem Team, das über Behinderung und Inklusion aufklärt. Zu verdanken hat sie das einem Projekt, das Wiebke Bretschneider vom Kompetenzzentrum Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt im August 2018 mit gestartet hat: "Wir haben Werkstätten besucht und das Projekt vorgestellt und gesagt, dass wir Bildungsfachkräfte suchen, sechs Personen. Und der nächste Schritt waren dann die Bewerbungsgespräche."
Sabine bewirbt sich, wird angenommen. Und sie startet ein dreijähriges Qualifizierungsprogramm. Durch eine Therapie bekommt sie außerdem ihre Angsterkrankung in den Griff. Im Sommer 2022 unterzeichnet sie ihren ersten richtigen Arbeitsvertrag.
An der Hochschule Magdeburg-Stendal gestaltet sie heute Seminare und berichtet Studierenden, etwa der Rehabilitations-Psychologie, aus erster Hand über das Leben von Menschen mit Behinderung. Sie redet dabei auch ganz offen über ihre eigenen Einschränkungen: "Ich habe eine Angsterkrankung. Ich kann nicht wie andere einfach in den Bus steigen und losfahren. Das ist für mich einfach nur die Hölle."
Trotz ihrer Angsterkrankung meistert Sabine ihren Job. Sie klärt nicht nur an der Hochschule auf, sondern auch in Konzernen, Firmen und Vereinen. Das Inklusions-Team ist in ganz Sachsen-Anhalt unterwegs: Für mehr Teilhabe und um Berührungsängste im Umgang mit Menschen mit Behinderung abzubauen.
Jetzt bist du in der Öffentlichkeit, kannst etwas bewirken. Als behinderter Mensch. So ein Glück muss man erst mal haben im Leben.
Erstmals in ihrem Leben kann sie sich eine eigene Wohnung leisten, die sie sich gerade in ihrem Elternhaus ausbaut. Manchmal kann sie ihr Glück selbst kaum fassen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 20. Juni 2024 | 22:40 Uhr