Selbstbestimmt-Reportage Marie – Mit Kind und Rollstuhl
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11. September 2023, 10:10 Uhr
Als Turmspringerin hat Marie gelernt, ihre Ängste zu überwinden. Doch 2013 ändert sich für sie alles. Nach einem Unfall wacht sie querschnittsgelähmt aus dem Koma auf. Sie kämpft sich ins Leben zurück – und wird Mutter gegen alle Bedenken: In seinem Film "Marie – Mit Kind und Rollstuhl" zeigt Tom Lemke den Alltag der alleinerziehenden jungen Frau. Ein Jahr hat er sie dafür begleitet und selber viel gelernt.
Als Turmspringerin musste Marie ständig mutig sein – und das tun, was ihre Trainerinnen von ihr verlangten. Damals war sie ein Kind, aber noch heute denkt sie an diesen Turm in der Schwimmhalle zurück. An den Moment vor dem Absprung ganz allein oben auf dem Brett.
Und dann änderte sich alles
Sie lernte, ihre Ängste zu überwinden, um etwas zu schaffen, was erstmal unmöglich schien. Ihr größter Erfolg war die Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften.
2013 änderte sich für Marie alles. Sie war gerade nach Leipzig gezogen, wollte ihr Fachabitur machen und später als Erzieherin in einer sozialen Einrichtung arbeiten. Doch ein bis heute nicht komplett aufgeklärtes Ereignis, ein Unfall, stellte das Leben der damals 18-Jährigen auf den Kopf. Sie lag im Koma, kämpfte um ihr Leben. Die Ärzte konnten damals nicht sagen, in welchem Zustand sie sein würde, wenn sie wieder aufwacht ...
Für mich war immer klar, wenn mal was passiert, wenn ich mal nicht mehr laufen könnte, damit könnte ich nicht leben. Als ich aus dem Koma wach geworden bin, klar, gab's da Momente, wo ich geweint habe oder verzweifelt war, aber ich dachte nie: 'Ich hab' jetzt keine Lust mehr.' Ich hatte trotzdem einen extremen Überlebenswillen.
Mutter sein im Rolli?
Ein Blutgerinnsel hatte sich im Rückenmark gebildet. Auch nach einem Jahr Reha trat keine große Besserung ein. Seitdem sitzt Marie im Rollstuhl. Die junge Frau nahm dieses Schicksal an und fand neuen Lebensmut:
Vor drei Jahren wurde Marie schwanger. Trotz aller Bedenken der Ärzte und ihres privaten Umfeldes entschied sie sich, das Kind zu bekommen.
Wenn sie's dir nicht zutrauen, dann musst du's denen zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich so viel Sorgen zu machen.
Sorgenfrei verlief ihr weiteres Leben freilich nicht. Auf eine wahrscheinliche Frühgeburt hatten die Ärzte Marie vorbereitet, da das dauerhafte Sitzen im Rollstuhl den Verlauf einer Schwangerschaft beeinflusst. Als ihre Tochter zehn Wochen zu früh durch einen Notkaiserschnitt auf die Welt kam, blieb Marie nur die Hoffnung, dass die Kleine es schafft – und die bohrende Frage, ob sie andernfalls wegen ihrer Behinderung dafür die Verantwortung trägt. Inzwischen ist Juna drei Jahre alt und geht in den Kindergarten.
Grenzen akzeptieren lernen
Von ihrem damaligen Partner lebt Marie getrennt. Die kleine Tochter ist ihr ein und alles, sie bestimmt den Alltag der alleinerziehenden jungen Frau. Dazu gehören Rituale, wie das Picknick, wenn Marie Juna aus der KITA holt. Überhaupt sind sie gern gemeinsam mit dem Hund an der frischen Luft. Inzwischen kann Marie den Rollstuhl als das sehen, was er ist; als ständigen Begleiter, der ihr hilft, den Alltag selbst zu gestalten.
Dazu musste sie allerdings lernen, unüberwindbare Grenzen zu akzeptieren. Das können auch Spielplätze sein, die auf Sand gebaut sind. Dort ist Marie auf die Unterstützung anderer angewiesen. Schlimmer war anfangs "diese Angst: Ja, was ist, wenn wirklich mal was passiert? Dann bist du die Mutter mit Einschränkungen, die ihr Kind dieser Gefahr ausgesetzt hat. Aber dadurch, dass ich gemerkt habe, dass es eigentlich super funktioniert, ist die Angst dann ziemlich schnell weg gewesen", erzählt sie.
Marie hat mich auf eine Reise mitgenommen, die meine Perspektive auf das Leben von Menschen mit Behinderung verändert hat.
Ankämpfen gegen die vielen Fragezeichen
Eine kleine Auszeit vom Alltag, auch vom Gefühl ständig unter Beobachtung zu sein, sind für Marie die Besuche zuhause bei ihrer Mutter in Schirmenitz bei Riesa. Maries Erfahrung, sich ständig unter Beobachtung zu fühlen, kennt Dr. Marion Michel aus ihrer Arbeit für den Verein "Leben mit Handicaps" in Leipzig und auch aus Befragungen für Studien der Universität Leipzig, an denen sie mitwirkte. Viele Eltern mit Behinderungen berichteten davon, sagt Michel:
Eltern mit Behinderung leben immer mit der Angst: 'Hoffentlich passiert meinem Kind nichts.' Jedem Kind passiert mal was. Aber wenn es eine Mutter mit Behinderung hat, steht das sofort in einem anderen Licht.
Eine Mutter im Rollstuhl? Selbstverständlich ist das noch immer nicht. Marie passt nicht in das gängige Rollenbild. Mit Energie und Mut kämpft sie an gegen die vielen Fragezeichen und um Akzeptanz.
Es wirkt fast ein bisschen so, als klettere sie jeden Tag wieder auf den Turm ihrer Kindheit, um sich und der Welt zu zeigen, was sie alles schaffen kann.
Es ist an der Zeit, dass nicht-behinderte Menschen dazulernen und das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe in allen Bereichen, eben auch im Bereich der Elternschaft, akzeptieren.
Tom Lemke: Gedanken zur Arbeit am Film
Als ich nun, nachdem der Film fertig ist, in meinen Aufzeichnungen stöberte, fand ich mein erstes Exposé zu diesem Film. TROTZDEM MUTTER, stand da als Überschrift über dem Text. Da hatte ich Marie noch nicht persönlich getroffen. Na klar, dachte ich mir damals, die Geschichte hat etwas mit Kampf und Durchsetzungskraft zu tun. Marie zeigt der ganzen Welt, dass sie auch im Rollstuhl eine Mutter sein kann.
Diese Geschichte steckt auch heute im Film drin, aber verschwunden ist das TROTZDEM. Mein TROTZDEM, das ich dem Ganzen oben drauf setzen wollte. Unbewusst hatte ich in eine Schublade gegriffen. Schon nach dem ersten Treffen mit Marie war mir klar, dass es so überhaupt nicht funktioniert. TROTZDEM ist anmaßend, allein deshalb, weil ich als gehender Mensch gar nicht weiß, was es bedeutet, im Rollstuhl zu sitzen. Es ist ein Vorurteil. Das Wort war Ausdruck meiner eigenen Unsicherheit und Angst.
Ich war etwas erschrocken darüber, dass ich etwas Grundlegendes meiner Arbeit zunächst übersehen hatte.
Ob als Filmemacher, Regisseur oder Autor ... ein Film beginnt für mich beim Menschen. Hier stand für mich zuallererst lediglich die Rollstuhlfahrerin im Zentrum. Doch Marie hat mich auf eine Reise mitgenommen, die meine Perspektive auf das Leben von Menschen mit Behinderung verändert hat. Sie hat mich für Momente an ihrem Leben teilhaben lassen und mir dadurch die Chance gegeben, dass ich es selbst begreife.
Irgendwann habe ich den Rollstuhl gar nicht mehr primär wahrgenommen. Wenn es Situationen gab, wo sie mit dem Rollstuhl an Grenzen kam, wurden sie fast beiläufig gelöst. Es waren keine Probleme in dem Sinne, es war Alltag. Nur anders, als ich ihn kenne.
Das Wort TROTZDEM ist verschwunden. Letztendlich setzt der Titel des Filmes ihren Namen, MARIE, in den Vordergrund. Der Zusatz "Mit Kind und Rollstuhl" beschreibt eine Aufgabe, die sie alltäglich löst.
Leipzig im Herbst 2020
Erstausstrahlung: 2020/MDR
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 25. September 2022 | 08:00 Uhr