Menschen stehen 2020 mit Abstand in einer Kirche. 4 min
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Weder Gottesdienst noch Seelsorge, die Kirche geschlossen – so sah es schlimmstenfalls aus für Gläubige mitten in der Corona-Pandemie. Auch in der evangelischen Kirche wird Aufarbeitung gefordert. Nur wie?

MDR KULTUR - Das Radio So 16.06.2024 06:00Uhr 04:17 min

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Stimmen Muss die Kirche die Corona-Zeit aufarbeiten?

22. November 2024, 09:22 Uhr

Weder Gottesdienst noch Seelsorge, die Kirche geschlossen – so sah es schlimmstenfalls aus für Gläubige mitten in der Corona-Pandemie. Kürzlich hat in Sachsen-Anhalt eine Kommision die Arbeit aufgenommen, die von der Politik verordnete Schutzmaßnahmen auch im Hinblick auf ihre sozialen Folgen untersucht. Im Gespräch ist zudem eine Enquete-Kommission des Bundestages. Auch in der evangelischen Kirche wird Aufarbeitung gefordert. Nur wie? Wir haben Pfarrer und Theologen dazu befragt.

Aufarbeitungsbedarf gibt es vor allem beim Thema Impfen. Die damalige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus hatte im November 2021 erklärt: "Impfen ist eine Pflicht aus christlicher Nächstenliebe heraus." Das sei ausgrenzend, sagt der Leipziger evangelische Theologieprofessor Rochus Leonhardt. Sein Vorwurf: Die Kirche habe sich kritiklos der staatlichen Impfkampagne angeschlossen. "Man hat gesagt: 'Es mag zwar sein, dass es keine Impfpflicht gibt, aber moralisch hast du sehr wohl die Pflicht, sonst gefährdest du die Menschen um dich rum.'"

"Sakralisierung des Impfens" in der Pandemie?

Rochus Leonhardt spricht von einer kirchlichen "Sakralisierung des Impfens". Die Bedenken und Vorbehalte der Impfskeptiker habe man nicht zur Kenntnis nehmen  wollen. Und Leonhardt kritisiert auch, dass vor allem alte Menschen in der Hochphase der Pandemie in Kliniken und Heimen einsam und allein verstorben seien. Da hätte die Kirche "mal den Mund aufmachen" und sagen müssen: "Wir haben eine Pflicht, gerade mit Blick auf alte Menschen, dafür zu sorgen, dass die nicht in einer von sozialen Kontakten völlig abgelösten Raum sich aufhalten zu müssen. Ich finde, es ist ein Riesenversäumnis."

"Ost-Sozialisierte kritischer gegenüber staatlichen Maßnahmen"

Vor allem in ostdeutschen Gemeinden werden die Corona-Entscheidungen der Kirchenleitungen nach wie vor kritisch gesehen. So haben in Mecklenburg kirchliche Mitarbeitende die "Sanitzer Thesen" verfasst, in denen sie der Kirchenleitung vorwerfen, dem Schüren von Ängsten nicht widersprochen und die Verletzung der Menschenwürde hingenommen zu haben. Leif Rother, evangelischer Klinikseelsorger in Mecklenburg, gehört nicht zu den Verfassern der "Sanitzer Thesen", aber er kennt die Stimmungslage und sieht sie darin begründet, "dass wir als Ost-Sozialisierte kritischer gegenüber staatlichen Maßnahmen sind".

Der Religionssoziologe Detlef Pollack, in Weimar geboren und heute in Münster Professor, hat lange zur evangelischen Kirche und politisch alternativen Gruppen in der DDR geforscht und zuletzt über Protest und Ressentiment in Ostdeutschland publiziert. Er meint:

Es gibt im Osten Deutschlands wirklich so ein Gefühl: 'Wir sind nicht auf der Seite des Staates und nicht auf der Seite des Systems; wir haben immer opponiert.'

Detlef Pollack Religionssoziologe

Offene Wunden aus der Corona-Zeit

Im Osten wie im Westen ist mit und nach der Pandemie der Gottesdienstbesuch stark zurückgegangen. In den Gemeinden hätten sich zahlreiche Ehrenamtliche während der Corona-Zeit sehr engagiert, dennoch hätten viele Menschen der Kirche den Rücken gekehrt, beobachtet Michael Stahl als Pfarrer im sächsischen Freiberg. Dabei seien es weniger die Menschen, die direkt erlebt hätten, wie sich Kirche mit der Pandemie-Situation auseinandersetzt, "sondern eher Menschen, die schon vorher mit einer Distanz aufs kirchliche Leben geblickt haben", schätzt Stahl ein.

Noch immer gibt es – nicht nur in den Kirchen – offene Wunden aus der Corona-Zeit. Der Mecklenburger Pastor Leif Rother beklagt, dass sich damals viele Menschen mit ihrer Skepsis vorschnell als Verschwörungserzähler abgestempelt gefühlt hätten. Er plädiert dafür, sich als Kirche bei denen zu entschuldigen, "denen wir was schuldig geblieben sind". Das könne einen "Weg zur Heilung" eröffnen. "Es braucht immer einen Spiegel für jeden selber reinzugucken. Diesen Prozess wünsche ich mir auch von Seite der Kirchenleitungen."

Kontrovers, aber lieber kirchenintern diskutieren?

Auch der Freiberger Michael Stahl sieht einen Bedarf bei vielen Kirchenmitgliedern, noch einmal offen über die Pandemie-Zeit zu sprechen: "Allerdings halte ich nicht sehr viel von einer öffentlichen Aufarbeitung, weil die sehr schnell instrumentalisiert wird, und sehr schnell die alte Radikalität wiederaufkommt." Stahl hält "den geschützten Bereich, den Kirchengemeinden bieten können" für besser geeignet, um Erfahrungen aus dieser Zeit zu teilen.

Beispielhaft könnte da Tilman Jeremias sein, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern. Dort fand unter dem Motto "Kirche und Corona – was bleibt?" ein kircheninterner, auch kontroverser Austausch statt. Am Ende bekannte der Bischof: Wo Menschen ausgrenzt wurden, weil sie die Corona-Maßnahmen kritisierten oder sich nicht impfen ließen, da sei Kirche schuldig geworden. Doch trotz aller Differenzen komme es nun darauf an, beisammen zu bleiben. 

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 16. Juni 2024 | 09:15 Uhr