Schabbat Schalom | MDR Kultur | 01.12.2023 Rabbiner Alexander Nachama: Wann macht eine Beziehung Sinn und wann nicht?
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03. November 2023, 12:00 Uhr
Manchmal müssen wir auf unser Gefühl hören – und abwägen, ob wir eine Beziehung, sei sie privat oder geschäftlich, fortführen wollen. Wenn wir auseinander gehen, so muss das keine Katastrophe sein, meint Rabbiner Alexander Nachama in seiner Auslegung des Wochenabschnitts Wajischlach.
Der Wochenabschnitt Wajischlach ist von der ersten Begegnung zwischen Jakob und Esau seit zwanzig Jahren geprägt. Jakob, der den Segen des Erstgeborenen vom Vater, von Isaak erhält, obwohl dieser ihn eigentlich Esau geben wollte. Esau, der zuvor das Erstgeburtsrecht an Jakob verkauft hatte, jedoch trotzdem wütend reagiert und sogar damit droht, Jakob umbringen zu wollen.
Schlussendlich verläuft die Begegnung friedlich. Esau läuft Jakob entgegen, sie umarmen sich, küssen sich und weinen.
Allerdings fällt auf, dass über dem Wort "küssen" im hebräischen Text der Tora Punkte stehen. Dies ist ungewöhnlich, und so stellt sich die Frage, was uns diese Punkte anzeigen wollen. Eine Erklärung besagt, dass der Kuss von Esau nicht von Herzen kam. Dass Esau Jakob hier zwar friedlich und mit brüderlicher Liebe begegnet, dass sich dies jedoch danach nicht fortgesetzt hat, nur für diese Situation galt.
Wir haben wahrscheinlich alle schon einmal die Erfahrung gemacht, dass eine Person nicht aufrichtig mit uns gewesen ist. Manchmal werden wir hinterher feststellen, dass es schon in der Situation, in der sie die angebliche Unterstützung zugesagt hat, bestimmte Anzeichen gegeben hat, die darauf hindeuteten, dass es doch nicht ernst gemeint war.
Dies wiederfährt hier Jakob, mit dem Unterschied, dass er sich darüber bewusst zu sein scheint, dass er Esau nicht vertrauen kann. Esau bietet Jakob mehrfach an, dass sie fortan gemeinsam ziehen können, zusammenbleiben können. Immer wieder lehnt Jakob dies ab. Schließlich sieht Esau dies ein und es heißt: "So kehrte an demselben Tag Esau zurück seines Weges nach Seir."
In den rabbinischen Kommentaren wird hinterfragt: Was bedeutet "seines Weges"? Ist das nicht eine überflüssige Angabe?
"Seines Weges" wird hier nicht wörtlich verstanden, sondern in dem Sinne, dass Esau zu "seinen Wegen" zurückkehrte, seinen schlechten Wegen: Zu seinen Sünden. So sollen Esaus Frauen Götzen gedient haben. Diese waren, wie die Thora bereits im Abschnitt vor zwei Wochen festgestellt hat, "eine Bitternis dem Isaak und der Rebekka", seinen Eltern.
Aber auch sonst: Esau der Jäger, der das Erstgeburtsrecht verkauft und dann doch nichts davon wissen wollte, der seinen Bruder ermorden wollte, der sich seinem Bruder mit 400 Mann nähert: Diesem Esau ist hier keine plötzliche Umkehr von seinen schlechten Taten zuzutrauen.
Daher geht Jakob ihm fortan aus dem Weg, denn jede Begegnung mit ihm hätte in einer Katastrophe enden können. Nur weil es hier gut gegangen ist, bedeutet es nicht, dass es auch fortan gut gehen würde.
Dieses Bauchgefühl von Jakob, dass es nicht passt, gemeinsam mit Esau zu gehen, können auch wir in bestimmten Situationen anwenden. Es bedeutet nicht, dass man im Unfrieden auseinandergeht. Das tun Esau und Jakob hier nicht, sie gehen friedlich auseinander.
Es bedeutet vielmehr, auf unser Gefühl zu hören und abzuwägen, ob eine Freundschaft, Partnerschaft, geschäftliche oder sonstige Beziehung Sinn ergibt. Wenn nicht, dann muss das, wie Jakob und Esau zeigen, keine Katastrophe sein.
Schabbat Schalom!
Zur Person: Alexander Nachama Geboren 1983 in Frankfurt am Main. 2005 erhielt er von Rabbiner Zalman Schachter-Shalomi, dem Gründer der Rabbiner- und Kantorenschule "Aleph", eine Urkunde als Kantor. 2008 erhielt er einen Bachelor in Judaistik (Freie Universität Berlin), 2013 einen Master (Universität Potsdam). Ab 2007 absolvierte er eine Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg mit Studienaufenthalten in Israel, die er 2013 mit der Ordination zum Rabbiner abschloss. 1998 - 2011 amtierte Alexander Nachama zunächst als ehrenamtlicher Vorbeter, später als Kantor in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. In den Jahren 2012 - 2018 war er Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Von 2018 bis August 2023 war er Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 03. November 2023 | 15:45 Uhr