Bildband Was vom "Jüdischen Leben in Anhalt" übrig blieb
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25. Oktober 2024, 14:45 Uhr
Nur zwei alte Synagogen gibt es noch auf dem Gebiet des einstigen Fürstentums Anhalt. In Wörlitz und in Gröbzig. Dass jüdisches Leben einst zum Alltag auch in dem ländlich geprägten Anhalt gehörte, zeigt der Bildband "Jüdisches Leben in Anhalt". Die Idee dazu hatte der inzwischen pensionierte Dessauer Pfarrer Dietrich Bungeroth, der sich seit Jahrzehnten für ein lebendiges Erinnern daran einsetzt. Doch nicht nur ein wertschätzender Blick zurück soll das Buch sein.
Als Dietrich Bungeroth Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger Jahre die Schule in Dessau besuchte, kannte er selbstverständlich den Vesta-Tempel im Wörlitzer Park. "Das war der Name aus der Nazi-Zeit", erinnert er sich:
"Es gibt kein Gebäude im Wörlitzer Park, dass so oft den Namen gewechselt hat wie dieser Tempel am Ende der Amtsgasse – Synagoge, Vestatempel, Judentempel. Heute heißt der nach römischen Vorbild erbaute Tempel wieder Synagoge." Aus dem Dessauer Schüler wurde ein – mittlerweile pensionierter – Pfarrer, den die Spuren jüdischen Lebens in Anhalt nicht mehr losließen: "In Bernburg sind wir 1987/88 das erste Mal auf Spurensuche gegangen. Das heißt, ich war mit Gemeindegliedern auf dem dortigen verwilderten jüdischen Friedhof." Nun hat Dietrich Bungeroth den Sammelband "Jüdisches Leben in Anhalt" herausgegeben. Fokussiert auf das Gebiet des einstigen Fürstentums Anhalt liefert das Buch einen spannenden Einblick in ein nahezu ausgelöschtes und verdrängtes Kapitel regionaler Geschichte.
Fotoreise durch 18 Orte von Bernburg über Wörlitz bis Zerbst
1301 erwähnt der "Codex Diplomaticus anhaltinus" mit "Michel aus Bernburg" erstmals einen Juden für Anhalt. Doch erst nach dem Dreißigjährigen Krieg lässt sich von einem jüdischen "Leben" sprechen, als sich sich jüdische Familien in größerer Zahl in Nienburg, Ballenstedt, Radegast, Harzgerode, Coswig oder Zerbst ansiedelten. 18 Orte werden in dem Sammelband in Wort, Grafik und Bild vorgestellt: "Wir haben bei den beiden Fotoreisen 2019 mit Torsten Lüders versucht, ins Bild zu kriegen, was gab es früher mal und wie sieht es heute aus?"
Gräber vor DDR-Neubau, Grabsteine zum Hofpflastern
Oft erschreckend sieht es heute aus. In Nienburg zeigt eine der Fotografien von Torsten Lüders eine frisch verputzte übermannshohe Mauer, darin ein morsches hölzernes Tor. Der Eingang zum Friedhof. Blättert man im Buch um, so sieht man verwitterte Grabsteine und direkt hinter der letzten Reihe einen unsanierten DDR-Neubau mit halb heruntergelassenen Rollläden vor den Fenstern. Lakonische Bildunterschrift: Grabstellen im hinteren Teil des jüdischen Friedhofes Nienburg. So wird schnell der Bruch in der jüdischen Geschichte Anhalts deutlich. Das Verdrängen und Vergessen. In Wulfen wird der jüdische Friedhof heute als privater Garten genutzt. In Ballenstedt sind Synagogenreste zum Teil einer Gartenmauer geworden, Vogelhäuschen inclusive. Und in Zerbst erstreckt sich ein DDR-typischer Garagenhof dort, wo bis 1938 die Synagoge stand. Noch geschichtsvergessener und pietätloser geht es in Wörlitz, weiß Bungeroth: "Dort waren es Grabsteine, die einer privat zum Hofpflastern benutzt hatte."
"Ja, die Gedenkkultur ..."
Die 18 anhaltinischen Orte werden immer nach der gleichen Gliederung vorgestellt: Einem kurzen historischen Abriss folgen Informationen über Synagoge und Friedhof, Handel und Wirtschaft, bedeutende jüdische Persönlichkeiten und abschließende Bemerkungen zur Gedenkkultur: "Ja, die Gedenkkultur in den anhaltinischen Orten ist recht unterschiedlich ausgeprägt", bemerkt Bungeroth, "An manchen Orten sind Tafeln angebracht. Das hing dann aber damit zusammen, dass die Geschichtsvereine, die Kommunen oder Protagonisten, die sich schon lange dieser Geschichte annahmen, dafür gesorgt haben."
Neben Kirchgemeinden waren es auch in den 1980er-Jahren auch Schülerinnen und Schüler, die wie in Ballenstedt unter Leitung einer engagierten Geschichtslehrerin die lokale jüdische Geschichte aufzuarbeiten begannen.
Doch das meiste wurde erst in den letzten 20 Jahren erforscht. Oder eben auch nicht, wie Bungeroth immer wieder feststellen musste: "Meine Überraschung war, dass wir an so vielen Orten gar keinen Hinweis haben. Nicht selten sind sie völlig verborgen und überwuchert. Und diese Orte werden wohl nicht wieder kenntlich gemacht." Der Judenbusch bei Güsten ist einer dieser Orte. Ein jüdischer Friedhof, der 1942 mit Pflaumenbäumen bepflanzt wurde.
Der Sammelband zum "Jüdischen Leben in Anhalt" versucht, sie diesem Vergessen zu entreißen. Auch indem die Publikation deutlich macht, dass jüdisches Leben einst zum Alltag selbst in den kleineren Orten Anhalts gehörte. Die Fotografien von Torsten Lüders zeigen eindrucksvoll, was davon noch geblieben ist.
Die Absicht des Werkes liegt nicht allein im wertschätzenden Rückblick, sondern ist auch als vehementes Zeugnis gegen aktuellen Antisemitismus und jede Intoleranz zu verstehen. Aus der Erinnerung an jüdisches Leben und seiner immensen gesellschaftlichen Bedeutung weit über die Region hinaus erwächst daher nicht nur Trauer über den Verlust, sondern idealerweise die Motivation, unser gegenwärtiges und zukünftiges Miteinander zu gestalten.
Angaben zum Buch
Jüdisches Leben in Anhalt
Hrsg.: Kirchengeschichtliche Kammer der Ev. Landeskirche Anhalts
Redaktion: Dietrich Bungeroth, Johannes Killyen, Fotografien: Torsten Lüders, Grafik: Wolf-Erik Widdel
240 Seiten, Dessau-Roßlau 2020
ISBN: 978-3-9819215-5-7
Preis: 15 Euro
Aufgeführte Orte: Bernburg, Großmühlingen, Nienburg, Ballenstedt, Harzgerode, Gernrode, Hoym, Köthen, Wulfen, Radegast, Güsten, Dessau, Sandersleben, Gröbzig, Jeßnitz, Großalsleben, Wörlitz, Coswig und Zerbst
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. Januar 2021 | 09:15 Uhr