Jüdisch sein – Eine Frage des Glaubens? Akiva Weingarten: Vom Aussteiger zum Rabbiner in Dresden
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15. Oktober 2021, 10:00 Uhr
Er flüchtete aus einem Leben, in dem alles vorherbestimmt war. Ausgerechnet nach Deutschland. Er ließ seinen Glauben zurück und schwor dem ultraorthodoxen Judentum ab. In Berlin entdeckte er, dass Jüdisch sein keine Frage des Glaubens ist. Eine Erkenntnis, die Akiva Weingarten veranlasste, ein weltweit einzigartiges Aussteigerprogramm für orthodoxe Juden in Dresden zu gründen. Als Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in der Stadt sagt er: "Mein Ziel ist nicht, die Menschen zu Gott zu bringen, sondern dass wir bessere Menschen werden."
Er ist ständig auf Achse, Akiva Weingarten in seinem Büro per Telefon zu erreichen, grenzt an ein Wunder. Seine Sekretärin kann mich glücklicherweise "zwischenschieben". Eine halbe Stunde vor seinem nächsten Termin hätte er Zeit, sagt sie. So besuche ich Akiva Weingarten im Dresdner Gemeindehaus neben der Brühlschen Terasse. Förmlich im Anzug kommt er mir im Foyer schon entgegen. Mit Kippa auf dem Kopf und Vollbart steht mir ein Mann gegenüber, der nur etwas älter ist als ich. Während wir uns begrüßen, rattern die Stationen seiner Respekt einflößenden Biografie durch meinen Kopf.
Mehr über Akiva Weingarten
Akiva Weingarten wurde 1984 in New York geboren, als Kind einer ultraorthodoxen chassidische Familie wuchs er mit elf Geschwistern auf. Seine Muttersprache ist Jiddisch. Erst spät lernte er Englisch. Mit 17 ging er nach Israel, um an einer Talmudschule zu studieren. 2014 verließ er die ultraorthodoxe Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv und ging nach Berlin. Sein Abschied von der Ultraorthodoxie war für seine Familie und viele Mitglieder seiner Gemeinschaft ein Schock. Seit September 2019 lebt er als liberaler Gemeinderabbiner in Dresden. Die Tradition der osteuropäischen Juden ist für ihn weiter wichtig.
Der große Bruch
Aufgewachsen in einer streng gläubigen jüdischen Gemeinde New Yorks, siedelte er mit 17 Jahren nach Israel über. Ein Jahr später war er verlobt, mit 22 hatte er bereits zwei Kinder und wurde zum Rabbiner ordiniert. Mit 29 kam dann der große Bruch in seinem Leben, nachdem er bereits jahrelang mit seinem Glauben gehadert hatte. Immer wieder musste er feststellen, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen; dass die Rabbiner der Gemeinde eben keine fehlerlosen Heiligen waren, wie es ihm beigebracht worden war, sondern auch nur Menschen; dass die Interpretation der Tora in seiner Gemeinde nicht mit den historischen Fakten übereinstimmte.
Akiva Weingarten wandte sich von seiner chassidischen Gemeinde ab, wollte weg aus Israel. Der Kontakt zu seiner Frau und seiner Familie brach fast komplett ab. Er entschied sich, nach Deutschland zu gehen, noch einmal zu studieren, er warf alle Regeln seiner Religion über Bord und begann in Berlin, ein säkulares Leben zu führen. An der Universität kam er mit einer liberalen jüdischen Theologie in Berührung, die ihm fremd war und stellte fest, dass die orthodoxen Ansichten aus seiner Gemeinde auch abgelehnt werden können. So schrieb er sich noch einmal für Judaistik ein, fand eine neue Art, sich mit dem Judentum zu identifizieren. Und als ihm 2019 die jüdische Gemeinde in Dresden eine Stelle als Rabbiner anbot, sagte er zu.
Hier in Dresden werde ich als religiöser Jude gezählt, in meiner Heimat nicht. Also, was bedeutet Religion? Jüdisch sein ist mehr als Religion.
Und das alles in gerade einmal 35 Jahren, denke ich mir, während ich gar nicht erst versuche, mein Leben mit seinem zu vergleichen. Ich berichte ihm von meinem Anliegen, meine Abschlussreportage über ihn und sein Leben zwischen Glauben und Zweifeln zu drehen. Während wir die Drehtage abstimmen, stelle ich fest, dass ein Thema in seinem Terminkalender immer wieder auftaucht: die Besht Yeshiva – die Bibelschule der Gemeinde. Viele seiner Termine drehen sich darum. Sei es, dass er für sie Kooperationen mit den örtlichen Universitäten aufbaut, dass er durch Gespräche mit Landespolitikern versucht, sie als Hochschule anerkennen zu lassen oder dass er selbst vor Ort unterrichtet.
Die Besht Yeshiva – Bibelschule mit Aussteigerprogramm
Die Yeshiva, die Akiva Weingarten aufgebaut hat, ist mehr als eine gewöhnliche Bibel-Schule: Denn sie ist die erste, die sich mit ihrem Programm an ausgestiegene ultra-orthodoxe Juden richtet. Neben dem Studium der Tora und des Talmuds befassen sich die Schülerinnen und Schüler auch mit jüdischer Kultur und den Traditionen des Chassidismus im Allgemeinen, das heißt auch mit seiner Musik oder dem Essen.
Akiva Weingarten bekommt Anfragen aus der ganzen Welt von Menschen, die nach Dresden kommen wollen: "Der Bedarf für so eine Schule ist sehr groß. Wir könnten hier morgen 1.000 Schülerinnen und Schüler haben, wenn wir das Geld hätten." Denn nicht nur in religiösen Dingen, sondern auch im Alltag hilft die Besht Yeshiva weiter: Angeboten wird Deutschunterricht sowie Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Die Aussteigerinnen und Aussteiger erleben Gemeinschaft und merken, sie sind nicht auf sich allein gestellt, wie Weingarten erklärt.
Mehr über die Besht Yeshiva in Dresden
Eine Yeshiva ist eine Schule zum Studieren religiöser Schriften wie Tora, Talmud und Halacha. Ursprünglich lernten in Yeshivas ausschließlich Männer, erst liberale Strömungen des Judentums ließen auch Frauen zu.
Die Besht Yeshiva in Dresden wurde im Frühjahr 2020 gegründet und soll einerseits ein Anlaufpunkt für ultra-orthodoxe Aussteigerinnen und Aussteiger sein, andererseits aber auch Nicht-Juden aus Dresden die Möglichkeit geben, Hebräisch zu lernen und sich über die jüdische Religion und Kultur zu informieren. Die Besht Yeshiva ist die weltweit erste, dezidiert liberal-chassidische Yeshiva.
Sie ist benannt nach dem Begründer der osteuropäischen chassidischen Bewegung Baal Shem Tov, einer ultra-orthodoxen Strömung im Judentum mit Ursprung in Polen und Litauen. Was Akiva Weingarten zufolge kein Widerspruch ist, da die Besht Yeshiva chassidische Traditionen - spezielle Gewänder des Rabbiners oder eine hohe Bedeutung von Gesang und Musik - mit einer liberalen Auslegung der religiösen Texte verbinden soll. Aktuell die größte Gruppe im Chassidismus sind die Satmarer, welche vor allem in New York leben. Akiva Weingarten wuchs in dieser Gruppe auf.
Eigene Antworten auf religiöse Fragen finden
Er weiß aus eigener Erfahrung, was die jungen Menschen brauchen. Vor allem geht es ihm darum, den Teilnehmenden Halt zu geben: "Es ist alarmierend, dass so viele Aussteiger Selbstmord begehen. Sie verlieren ihre ganze Identität mit dem Ausstieg. Viele stellen fest, dass sie ein Leben lang in einer Blase gelebt haben und fragen sich dann: Warum soll ich leben, warum morgens aufstehen, wenn alles eine große Lüge war?"
In der Besht Yeshiva sprechen sie über diese Fragen, lernen die Bibeltexte selbst auszulegen, statt die Interpretationen anderer einfach hinzunehmen. Striktes Befolgen von Regeln, wie in den Gemeinden zu Hause, und nichts zu hinterfragen, das sind die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Heimat gewohnt. Aber das sei nicht der Sinn von Religion, sagt Akiva Weingarten:
Wir sind nicht hier, um der Religion zu dienen, die Religion ist hier, um uns zu dienen; uns besser zu machen.
Und wenn die Ausgestiegenen für sich selber dann feststellten, dass sie sich nicht mehr mit dem Glauben identifizierten, sollten sie wissen, dass sie weiterhin Juden sein könnten: "Im liberalen Judentum kann man atheistisch sein und jüdisch – in anderen Religionen ist das nicht sehr einfach. Man kann nicht atheistisch und katholisch sein, das geht normalerweise nicht zusammen." Akiva Weingarten findet, es gehe darum, Traditionen anzunehmen, wenn man sie als wichtig erachte und nicht einfach die Meinung anderer zu übernehmen. Die Schülerinnen und Schülern in der Yeshiva sollten lernen, sich die brennenden Fragen selbst zu beantworten. Ohne dass sie Angst haben müssten, ausgestoßen zu werden.
Und so versucht Akiva Weingarten, den sicheren Anlaufpunkt für orthodoxe Aussteigewillige aus der ganzen Welt in Dresden weiter auszubauen. Sein nächstes Ziel ist es, eine anerkannte Sprachschule für die Studierenden zu etablieren. Das könnte die Einreisebeschränkungen für Teilnehmende lockern. Doch um das zu erreichen, muss der Rabbiner noch viele Gespräche mit Land, Uni und Sprachinstituten führen – daher wird er auch weiterhin eher selten im Büro neben seinem Telefon anzutreffen sein.
Mehr über die Jüdische Gemeinde Dresden
Die Jüdische Gemeinde zu Dresden besteht aktuell aus rund 700 Mitgliedern, welche hauptsächlich aus Russland, Deutschland und Israel stammen. Akiva Weingarten ist bei ihr zu 50 Prozent angestellt und verantwortet neben den Gottesdiensten auch den Chor der Gemeinde, betreut Jugendliche zur Bar Mitzwa und hält Kontakt zu Gemeinden anderer Konfessionen. Die weitere Zeit ist er bei der Besht Yeshiva engagiert. Weiterhin ist Akiva Weingarten als Rabbi in Basel tätig.
Stand: Februar 2021
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 20. Februar 2021 | 18:00 Uhr