Barrierefrei wohnen Wie Annes Traumhaus in Leipzig entsteht
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07. August 2024, 17:34 Uhr
In Leipzig-Reudnitz entsteht derzeit ein besonderer Neubau: Menschen mit und ohne Behinderung sollen hier schon in wenigen Monaten gemeinsam wohnen. Barrierefrei und zu bezahlbaren Mieten. Gebaut wird das Haus von der Genossenschaft "Inklusiv leben". Mitgegründet hat sie Heiko Schott, um seiner Tochter ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen. Denn mit 29 will Anne schon lange raus von Zuhaus.
Anne Schott will endlich ausziehen. Schon lange träumt die 29-Jährige von einer eigenen Wohnung. Doch die müsste nicht nur günstig, sondern auch barrierefrei sein. Und ein Zimmer für eine 24-Stunden-Assistenz wäre außerdem nötig. Denn die junge Frau hat eine spastische Lähmung und sitzt im Rollstuhl.
Barrierefrei wohnen: Ein Traum?
Den Alltag bewältigt sie bisher mit Hilfe ihrer Eltern, die sie täglich auch von Bad Dürrenberg aus ins 50 Kilometer entfernte Leipzig zur Arbeit bei der Diakonie am Thonberg und wieder nach Hause bringen. "Andere in meinem Alter sind längst ausgezogen oder in einer Wohngruppe. Bei mir hat sich das ein wenig schwierig gestaltet", bedauert Anne.
Andere in meinem Alter sind längst ausgezogen oder in einer Wohngruppe.
Wenn alles gut läuft, wird sich in Annes Leben in einigen Monaten aber einiges ändern.
Ich habe in der Recherche festgestellt, dass barrierefreies Wohnen in Deutschland alternatives Wohnen ist, was eigentlich super traurig ist.
Eltern gründen Genossenschaft: "Inklusiv leben"
Über Jahre hinweg erfolglos nach einer barrierefreien Wohnung suchen – mit dem Problem stehen die Schotts nicht allein da. Doch gemeinsam mit anderen Familien haben sie 2021 eine Genossenschaft gegründet, um selbst aktiv zu werden. Ein Zufall brachte sie mit dem Architekten Dirk Stenzel zusammen, der mit seinem Konzept für ein barrierefreies Haus bei einer Projektvergabe der Stadt Leipzig mitmachte und gewann.
Jeder macht seine Aufgabe mit Bravour.
Annes Vater, Heiko Schott, ist einer der beiden Vorsitzenden der Genossenschaft "Inklusiv leben". Seine Arbeit und auch die der 13 anderen Mitglieder ist reines Ehrenamt. Er staunt selbst, wie "die Mannschaft so nach vorne schreitet": "Wir sind ja tatsächlich in einer Situation, wo gepowert werden muss, wo es auf Ergebnisse ankommt. Aber es funktioniert. Wir haben vieles auf mehreren Schultern verteilt, jeder macht seine Aufgabe mit Bravour."
Gemeinnützig und nachhaltig bauen
Auf 2,2 Millionen Euro beläuft sich der finanzielle Umfang des Projekts. Ein großer Teil wird durch Fördermittel von Stadt und Freistaat finanziert. Alle, die einziehen wollen, müssen zudem zwei Genossenschaftsanteile kaufen. Ein Anteil kostet aber nur 50 Euro. Und auch die Kaltmiete soll mit 6,50 Euro pro Quadratmeter vergleichsweise günstig sein. "Wir wollen ja mit der Miete keine Rendite erzielen, also keine Gewinne machen. Wir sind gemeinnützig und sprechen Leute an, die sonst eigentlich kaum eine Chance haben, in der Stadt in einen Neubau zu ziehen." Kosten hätten Menschen mit Behinderungen ohnehin schon genug, fügt Heiko Schott mit Blick auf die behindertengerechte Ausstattung einer Wohnung angefangen bei den Möbeln hinzu.
Und Architekt Dirk Stenzel betont, wenn Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werde, werde ein Neubau nicht unbedingt teurer, aber auf alle Fälle nachhaltiger. So gebe beim Haus-Projekt für die Genossenschaft "Inklusiv leben" schon mal eine Rampe, um vom Hof ebenerdig ins Gebäude reinzukommen. "Es geht darum, gemeinschaftlich in diesem Haus zu wohnen." Egal ob mit oder ohne Handicap, betont er.
Ein barrierefreier Neubau ist nicht unbedingt teurer.
Heißt: Menschen mit und ohne Behinderung sollen in den insgesamt zehn barrierefreien Sozialwohnungen leben – und sich auch gegenseitig unterstützen. Um seiner Tochter und anderen den Traum vom selbstbestimmten Leben zu ermöglichen, verbringt Heiko Schott nicht erst seit Gründung der Genossenschaft viele Stunden am PC. Seine Ehefrau Silke, die ihren Job für die Betreuung ihrer Tochter aufgegeben hat, meint, phasenweise stehe er regelrecht "unter Strom". Heiko Schott räumt ein, dass vieles hintenan steht, aber nimmt es mit Humor: "Und der Rasen wächst und die Blumen schreien nach Wasser, aber dann muss man einfach Prioritäten setzen und sagen: 'Gut, dann wird's jetzt halt ein Ökogarten.'"
"Ich kann es kaum erwarten"
Der Keller des Hauses in Leipzig-Reudnitz ist inzwischen fertig. Bis zum Einzug Anfang nächsten Jahres scheint es noch ein weiter Weg. Doch mit Blick auf die Pläne von Architekt Dirk Stenzel und beim Besuch vor Ort auf der Baustelle sieht Anne, wie ihre erste eigene Wohnung im Hochpaterre Gestalt annimmt.
Sie kann sich vorstellen, wie sie vom Wohn- und Küchenbereich auf den Balkon kommt. Oder ins barrierefreie Bad. Einfacher als jetzt noch zuhause in Bad Dürrenberg, wo sie den Rollstuhl vor der Tür abstellen muss, um sich dann mit Hilfe ihrer Mutter ins Bad zu hangeln. Außerdem verfügt sie in der neuen Wohnung über ein Schlafzimmer und es gibt einen Raum für die Assistenz. Über die Organisation ihres neuen Lebens macht sich Anne jetzt schon Gedanken. Die Vorfreude ist groß. Darüber, dass sie dann nicht mehr "mitten in der Nacht" aufstehen muss, um von Bad Dürrenberg zur Arbeit nach Leipzig gefahren zu werden. Denn die wäre quasi um die Ecke mit dem Bus erreichbar. Oder darüber, dass sie wie andere in ihrem Alter, auch mal ins eigene Heim einladen kann.
Für Anne – aber auch für ihre Eltern – bedeutet der Auszug ein weitaus selbstbestimmteres Leben. Wenn alles nach Plan läuft, wäre es in wenigen Monaten so weit. Zu den neuen Herausforderungen meint Anne Schott, im Großen und Ganzen müsse sie dann vieles "alleine wuppen": "Ich denke, dass ich da ganz gut damit klarkomme. Ich kann es kaum erwarten."
Redaktionelle Bearbeitung: ks
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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 26. Oktober 2024 | 18:00 Uhr