Interview | Europäischer Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma | 02. August 2024 Gjulner Sejdi: "Wir sind ein Querschnitt der Gesellschaft"
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01. August 2024, 04:00 Uhr
2015 wurde der 2. August offiziell vom Europaparlament zum Gedenktag für den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma festgelegt. Anlässlich des Gedenktages sprachen wir mit Gjulner Sejdi, dem Vorsitzenden des Vereins Romano Sumnal in Leipzig über das Leben der Minderheit in Sachsen, über Rassismus im Alltag und den aktuellen Fall von Robert A. aus Chemnitz.
Der 2. August ist ein Tag des Gedenkens an die geschätzt 500.000 Sinti und Roma, die während der NS-Diktatur im besetzten Europa getötet wurden. In der Nacht vom 2. August auf den 3. August 1944 kamen die letzten noch in Auschwitz lebenden 4.300 Sinti und Roma in den Gaskammern des KZs um.
Der Jurist Gjulner Sejdi ist seit 2016 Vorsitzender des Leipziger Vereins Romano Sumnal - dem Verband der Roma und Sinti in Sachsen. Gemeinsam mit anderen Engagierten gründete er 2013/14 den Verein, der heute Teil des deutschen Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland ist. Romano Sumnal versteht sich als Informations- und Beratungsplattform und als Kulturvermittler in allen Fragen zu Roma und Sinti in Sachsen.
Herr Sejdi, was hat Sie dazu gebracht, sich bei Romano Sumnal in Leipzig zu engagieren?
Ich bin im ehemaligen Jugoslawien in Mazedonien geboren und aufgewachsen. Dort waren Roma sehr anerkannt und ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Durch den Krieg kam ich in den 1990er-Jahren nach Leipzig und musste leider feststellen, dass hier in Sachsen oft weniger Anerkennung für uns existierte und die Gesellschaft auch viel weniger über uns wusste.
Mich hat immer gestört, dass - wenn es in der Öffentlichkeit um Roma und Sinti ging - Menschen aufgetreten sind, die selbst keine Roma oder Sinti waren und auch wenig über uns wussten. Das wollte ich - genau wie viele andere - ändern. Deswegen haben wir eine Selbstvertretung gegründet.
Sinti und Roma gibt es heute als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten. Die große Mehrheit lebt seit rund 700 Jahren in Europa. Aktuell sind das schätzungsweise 12 Millionen Menschen. In Deutschland leben zwischen 70.000 und 150.000 Sinti und Roma.
Welche Aufgaben hat der Verein, wofür setzt er sich konkret ein?
Wir wollen über uns und unsere Kultur, Geschichte und Sprache informieren, wir wollen Vorurteile abbauen, Rassismus bzw. Antiromaismus bekämpfen. Darüber hinaus wollen wir uns gegenseitig unterstützen und denen von uns helfen, die Unterstützung brauchen.
Was macht Ihnen dabei Hoffnung?
Hoffnung macht mir, dass das Interesse der Menschen in Sachsen für uns gewachsen ist, dass immer mehr Menschen etwas über uns erfahren wollen und zum Beispiel auch zu unseren Veranstaltungen kommen. Dieses Jahr haben wir zum dritten Mal in Leipzig das Kulturfestival "Latcho Dives" mit sehr großem Erfolg durchgeführt. Das Interesse wächst von Jahr zu Jahr.
Welche Unterstützung erfährt der Verein von der Stadt und vom Land?
Wir erhalten ganz besonders von der Stadt Leipzig sehr viel Interesse und Anerkennung, auch politisch gab es wichtige Entscheidungen dazu. So wurde in diesem Jahr zum dritten Mal die Roma-Flagge am 08. April - dem Internationalen Tag der Roma - am Leipziger Rathaus gehisst, was einzigartig in Sachsen ist. Auch zu den wichtigen Gedenktagen, wie zum Beispiel am 27. Januar (Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, Anm. d.R.) oder am 02. August ist die Stadt Leipzig immer mit uns am Mahnmal für die ermordeten Roma und Sinti. Im Übrigen ist auch das Mahnmal in Sachsen einzigartig.
Der Freistaat Sachsen hat uns in den letzten Jahren ebenfalls sehr gut unterstützt und in vielen Projekten finanziell gefördert - uns dabei geholfen, vom Ehrenamt ins Hauptamt zu kommen. Das ist sehr wichtig, da wir so unsere Arbeit professionalisieren konnten.
Gedenken am 02. August
15:00-15:30 Uhr: Gedenken und Kranzniederlegung am Mahnmal "Geschlagener" am Schwanenteich in der Goethestraße
Grußworte von Dr. Skadi Jennicke, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig und von Gjulner Sejdi – 1. Vorsitzender von Romano Sumnal – Verband der Roma und Sinti in Sachsen
Musikalische Begleitung: Samuel Seiffert
Seit Januar 2023 gibt es das Projekt "Landesweites Fachnetzwerk Antiziganismus" von Weiterdenken e.V. in Kooperation mit Romano Sumnal. Was beinhaltet das Projekt genau?
Das Fachnetzwerk spielt eine große Rolle in Sachsen, wenn es um die Vernetzung der Zusammenarbeit von Akteuren geht, die im Bereich Antiziganismus/Antiromaismus tätig sind. Wir haben in diesem Zusammenhang zum Beispiel das IKS gegründet – das Informations- und Kulturzentrum Roma und Sinti in Sachsen. Hier kann sich jeder informieren oder Materialien zum Beispiel für die eigene Bildungsarbeit bekommen oder sich unsere Ausstellung angucken. Daneben vermitteln wir als Netzwerk auch Bildungsveranstaltungen an unsere Partner, aber auch an alle anderen Interessierten.
Wie leben aktuell Sinti und Roma in Sachsen?
Wir leben sehr verschieden, so wie auch alle anderen Menschen. Manche von uns leben hier seit Generationen, andere sind erst zugezogen. Manche sind Unternehmer, andere Angestellte, wieder andere Arbeiter. Wir sind ein Querschnitt der Gesellschaft, wir haben auch verschiedene Religionen. Natürlich gibt es leider auch in Sachsen Diskriminierung und Rassismus gegen uns. Das betrifft leider sehr häufig diejenigen, denen es sozial nicht so gut geht.
Welche Begegnung/Erfahrung bei Ihrer Arbeit oder in ihrem Umfeld hat sie in diesem Jahr am meisten gefreut und warum?
Mich hat besonders gefreut, dass unser Festival in diesem Jahr so viel Erfolg hatte, und dass sich so viele Menschen für unsere Veranstaltungen interessierten. Eine andere Sache, die mich sehr gefreut hat, war die Hilfe für unser Mitglied Robert A. aus Chemnitz. Die große Unterstützung aus allen Teilen der Gesellschaft hatte den Effekt, dass wir Roberts Abschiebung verhindern konnten. Nun hoffen wir, dass er endlich ein Bleiberecht bekommt.
Sie erwähnen es – vor kurzem erregte die geplante Abschiebung von Robert A. sehr viel Aufmerksamkeit. Wie stellt sich aus ihrer Sicht der Fall dar?
Robert A. ist seit längerem bei uns aktiv und wir kennen ihn gut. Sein Schicksal betrifft auch andere Menschen in seinem Alter, die aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen. Sie sind als Babys oder Kleinkinder mit den Eltern geflüchtet oder wurden auf der Flucht geboren und haben durch die politischen Veränderungen in der ehemaligen Heimat der Eltern keine Staatsangehörigkeit.
Sie leben ihr ganzes Leben nur in Deutschland, fühlen sich auch selbst als Deutsche, werden hier aber nicht anerkannt. Das ist für die Betroffenen sehr schwierig - so auch für Robert. Er ist kein Serbe, hat dort nie gelebt, kann nicht einmal die Sprache. Er ist Deutscher, doch das erkennt man hier nicht an.
Einen besonders schlechten Beigeschmack bekommt seine Geschichte, wenn wir uns die deutsche Verantwortung gegenüber den europäischen Roma vor Augen halten. In der Nazizeit wurden Roma auch in Serbien entrechtet, in KZs gebracht und ermordet. Und auch das Thema Staatenlosigkeit von Roma und Sinti hat in Deutschland eine traurige Geschichte: Während der Nazizeit hat man ihnen die Staatsangehörigkeit aberkannt und sie erst Jahrzehnte nach dem Krieg zurückgegeben.
Ist Robert A. im Verein Romano Sumnal in Leipzig integriert?
Ja, er ist Mitglied bei uns, engagiert sich sehr. Wir haben ihm sogar einen Arbeitsvertrag ausgestellt, leider hat er aber noch keine Arbeitserlaubnis erhalten. Er hat zum Beispiel den ersten und einzigen Stolperstein für Sinti in Chemnitz initiiert.
Inwieweit widerspiegelt der Fall exemplarisch die Stellung von Sinti und Roma in Sachsen und in Deutschland?
Wie oben schon erklärt, ist es kein Einzelfall und leider auch nicht nur ein Fall der heutigen Zeit, es zeigen sich Kontinuitäten.
Deutschlandweit haben sich antiziganistische Vorfälle gegen Roma und Sinti laut Jahresbericht (2023) der Meldestelle fast verdoppelt. Worauf führen Sie das zurück?
Ich würde nicht sagen, dass sie gestiegen sind. Es waren schon immer viele, leider wurden und werden sie viel zu selten öffentlich. Viele Menschen erleben das, nur wenige zeigen es an, nur wenige Anzeigen werden wirklich ernstgenommen. Erst seit es die Meldestelle MIA gibt, entwickelt sich hier eine Veränderung bei der Meldestruktur. Dennoch ist die Dunkelziffer groß.
Momentan gibt es einen Rechtsruck in der Politik in Deutschland und Europa. Was bedeutet das für die Arbeit des Vereins?
Der Antiromaismus/Antiziganismus war schon immer stark, heute so wie auch in der Vergangenheit. Das beobachten wir ständig. Dennoch macht es der allgemeine Rechtsruck für Vereine und Träger, die gegen Rassismus arbeiten, schwerer, ihre Arbeit umzusetzen. Wir Roma und Sinti sind immer mit die ersten, die einen Rechtsruck spüren, da wir Diskriminierung und Rassismus abbekommen.
Wenn es in ihrer Macht stünde: Was würden Sie - Ihre Arbeit betreffend – gern verändern?
Wir wünschen uns einen Staatsvertrag, der deutlich macht, dass Roma und Sinti zu Sachsen gehören, so wie zum Beispiel auch die Sorben. Denn wir sind genau wie die Sorben eine nationale Minderheit in Deutschland.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Jenny und die Roma-Kinder | Niemals aufgeben | 01. August 2024 | 22:40 Uhr