Kunstprojekte in Chemnitz und Freiberg Von der Kunst, Altäre zu verhüllen
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24. Februar 2023, 13:15 Uhr
Altäre und Kreuze sind für gewöhnlich das Zentrum einer jeden Kirche – in der Chemnitzer Propsteikirche und im Freiberger Dom sind sie momentan unsichtbar. Denn Künstler haben sie verhüllt – und die Kirchen selbst haben dieses ungewöhnliche Projekt angestoßen, als Teil einer Initiative der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.
Jesus ist nicht mehr zu sehen in der Chemnitzer Propsteikirche, 40 Tage lang. Die Berliner Künstlerin Sabine Herrmann hat ihn am Aschermittwoch verhüllt: "Ein Kunstwerk verhüllt ein anderes Kunstwerk, um den Raum zu verändern und nach vierzig Tagen an Ostern wieder eine neue Sicht auf das dahinterliegende Kunstwerk zu ermöglichen", erklärt die Künstlerin.
Klingt nach moderner Konzeptkunst – die Idee ist aber schon ziemlich alt. Seit Jahrhunderten decken Christinnen und Christen in der Fastenzeit ab Aschermittwoch den Altar ab, weiß die Chemnitzer Autorin Ulrike Lynn.
Diese Tradition, den Altar, manchmal auch bildliche Darstellungen des Auferstandenen oder des gekreuzigten Christus zu verhüllen, geht zurück bis ins Mittelalter.
Europäische Kulturhauptstadt 2025: "Sehe das Ungesehene"
In Chemnitz wird die Tradition sehr zeitgenössisch ausgelegt: Denn dieser alte Brauch passt gut zum Motto der Stadt als Europäische Kulturhauptstadt 2025: "Sehe das Ungesehene". Das weiß auch die katholische Kulturhauptstadtbeauftragte Ulrike Lynn: "Natürlich verdecken wir etwas, aber indem wir verdecken, bringen wir das Ungesehene wieder zum Vorschein."
Am Aschermittwoch begann dieser kirchliche Beitrag zur Kulturhauptstadt: In der katholischen Propsteikirche in Chemnitz verhüllt seitdem ein Werk von Sabine Herrmann den Altar. Im Freiberger Dom deckt ihn ein monumentaler Vorhang aus Seidenpapierblättern des Künstlers Michael Morgner ab. In zehn weiteren Kirchen der Region soll bis 2025 Ähnliches geschehen. "Intervention zur Passion“ heißt das Projekt. Die Berliner Künstlerin Sabine Herrmann verhüllt bereits seit zwölf Jahren Altäre in ihrer Heimatstadt.
Auch das Leid der Frauen sichtbar machen
Von Weitem meint man, auf dem von Sabine Herrmann gestalteten Vorhang Wolken über einem Stein zu erkennen – von Nahem lassen sich Sätze lesen. Geschrieben mit roter Kreide und Bleistift. Es sind biblische Verse über Frauen in der Leidensgeschichte Jesu. "Zeuginnen ohne Text" hat Sabine Herrmann ihr Werk genannt – die Frauen bewegen sie.
Ich habe mir schon immer vorgestellt, was das für eine Situation ist: Dass die Mutter, möglicherweise auch eine Geliebte, dass diese Frauen den Menschen, den sie lieben, dann am Kreuz sterben sehen.
Für die Künstlerin Sabine Herrmann ist das Mitleiden dieser Frauen unter dem Kreuz keine Vergangenheit. Sie weiß, solches Leiden ist ganz gegenwärtig: "Täglich hören wir diese Kriegsnachrichten, wo auch wieder klar ist, wer da zuguckt und nichts zu sagen hat: die Frauen", so die Künstlerin.
Einladung an die Stadtgesellschaft zum Dialog
Mit ihrer Verhüllung des Altars will Sabine Herrmann genau diese Gegenwärtigkeit der biblischen Geschichten enthüllen. Darum geht es auch diesem kirchlichen Projekt insgesamt, sagt die katholische Kulturhauptstadt-Beauftragte Ulrike Lynn: "Das Ungesehene sichtbar machen – nicht nur bei uns in der Kirche, sondern auch an den Rändern der Gesellschaft, die sonst nicht so gesehen oder überhaupt nicht gesehen werden."
Dazu laden die Gemeinden der Chemnitzer Propsteikirche und des Freiberger Doms nun jeden Mittwoch vor die verhüllten Altäre ein: zur Besinnung, aber auch zu Vorträgen.
Man will ins Gespräch kommen, vor allem mit Menschen, die eher wenig Berührung mit dem Glauben und der Kirche haben. Erst Ostern sollen die Hüllen vor den Altären in Chemnitz und Freiberg fallen. Gut möglich, dass sie manche dann mit anderen Augen sehen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 26. Februar 2023 | 09:15 Uhr