Nach Amoklauf in Belgrader Grundschule Essay: Der Tod kam an die Schule meiner Töchter
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13. Mai 2023, 17:57 Uhr
Am vergangenen Mittwoch tötete in einer Grundschule in Belgrad ein 13-Jähriger acht Mitschüler und den Schulwächter. Am Tag danach erschoss ein 21-Jähriger acht Jugendliche in der Umgebung von Belgrad. Serbien trauert. Ich trauere und kann es nicht fassen: Der erste Amoklauf passierte in der Schule, in die meine Töchter gegangen sind, ihr Gymnasium ist direkt nebenan.
Vier Jahre lang wartete ich fast jeden Tag vor dem Eingang in die Grundschule Vladislav Ribnikar in der Svetozar-Marković-Straße im Zentrum Belgrads auf meine Töchter. Wenn die Schulglocke klingelte, rannten fröhliche, lachende Kinder in die Umarmung ihrer Eltern, Großeltern, oder wer auch immer auf sie wartete.
Nun herrscht dort Totenstille. Die Stille für die Toten. Erstarrt und stumm stehen Menschen vor der Schule oder sitzen auf der Bank, auf der ich früher so oft saß. Sie warten auf niemanden. Das Schweigen der Kinder fällt mir ein. Der ermordeten Schulkinder.
Die Stille und die Trauer
Nur Schluchzen zerreißt ab und zu die Stille, unterdrücktes Heulen. Ein 13-Jähriger hatte am vergangenen Mittwoch in der ehemaligen Schule meiner Kinder mit der Pistole seines Vaters acht Mitschüler und den Schulwächter erschossen. Ein Kind brachte Kinder um. Geplant, eiskalt, treffsicher.
Dort stehend, kann ich den Aufschrei schmerzerfüllter Eltern nicht aus meinem Kopf wegjagen, als sie ihre toten Kinder sahen, die sie an diesem Morgen in die Schule begleitet hatten. Mussten sie die Leichen identifizieren? Wie undenkbar qualvoll muss die Ungewissheit gewesen sein, als sie die Nachricht von der Schießerei in der Schule ihrer Kinder erreichte? Wie groß die Hoffnung, dass ihr Kind davongekommen ist? Wie zerschmetternd die Wirklichkeit?
Die Außenwand der Schule hat sich in einen Traueraltar verwandelt. Unmengen in einer zärtlichen Unordnung abgelegter, weißer Blumen, von Kindern für tote Kinder geschriebene Worte, Spielzeuge, brennende Kerzen. Die serbische Klagemauer, denke ich.
Die genommene Unschuld
Meine mittlerweile siebzehnjährigen Töchter gehen in das Gymnasium gleich nebenan. Nur ein Schulhof trennt die beiden Schulen. Ich sehe es ihnen an, dass ihnen dieser Massenmord die Unschuld der Kindheit genommen hat. Ein Amoklauf war bisher nur ein filmisches, amerikanisches, weit entferntes Etwas. Nun ist dieses Etwas in der Nachbarschaft und wird hier für immer bleiben. "Wir werden nie wieder so wie früher Zeit vor der Schule verbringen können", sagt eine meiner Töchter. Ihre Schulzeit ist vom Tod gezeichnet.
Der zweite Amoklauf
Und nach dem ersten Amoklauf am Mittwoch folgte im Belgrader Vorort Mladenovac am Donnerstag gleich der zweite. Ein 21-Jähriger schoss mit einer auf dem Schwarzmarkt gekauften Schnellfeuerwaffe auf Jugendliche. Acht traf er tödlich. Der Täter wurde nach einem Großeinsatz der Polizei gefasst.
Was zu viel ist, ist zu viel. Zwei Amokläufe in Serbien in zwei Tagen. Insgesamt sechzehn Tote und über zwanzig Verwundete. Über die Motive der beiden Mörder wird nur spekuliert. Nichts verbindet die beiden Täter, außer die Aggression in der serbischen Gesellschaft, die seit Jahren geschürt wird – über soziale Netzwerke, über gleichgeschaltete Medien, Reality-Shows, durch das ungezügelt grobe und vulgäre Vokabular von Politikern.
Seit den beiden Amokläufen verbreitet sich Angst in Serbien. Viele Eltern ließen ihre Kinder nicht in die Schule. Viele Schulen überließen es den Schülern, trotz anders lautender Anweisungen des Bildungsministeriums, selbst zu entscheiden, ob sie zum Unterricht kommen oder nicht.
Der Schockzustand
Die Belgrader sind nicht leicht einzuschüchtern, aber der Amoklauf in der Grundschule hat sie in einen Schockzustand versetzt. Mit wem auch immer man dieser Tage redet – die Emotionen kochen hoch, Erwachsene beginnen aus heiterem Himmel zu schluchzen, die Worte kommen nur schwer aus dem Mund. Zu viele Krisen hat man schon erlebt, Kriege, Luftangriffe der NATO, was jedoch am vergangenen Mittwoch passierte, war einfach zu viel – ein Kind hatte acht Kinder erschossen.
Aus unerfindlichen Gründen hat die offizielle, dreitägige Staatstrauer erst am Freitag begonnen. Doch die Belgrader trauern, seit sie erfahren haben, was geschehen ist. Und wie sie trauern. Die Metropole mit zwei Millionen Einwohnern erstarrte vor Schmerz. Die Menschen versuchten ihre Tränen zurückzuhalten. In den Cafés war es still. In Bussen die Stimmung wie auf einem Friedhof. Sogar der Straßenlärm schien gedämpft zu sein.
Die Politik und der Amoklauf
Die Bilder prägen sich ein. Teenager umarmen in der Nähe des Tatortes einen Freund, dessen elfjährige Schwester erschossen wurde. Einige Menschen versuchen eine Frau zu beruhigen, deren Tochter während des Amoklaufes in der Schule war und unverletzt davongekommen ist. Spontan versammelten sich tagelang tausende Schüler in der Nähe des Tatortes. Sie zündeten Kerzen an und gedachten der Toten.
Und die Politiker? Bildungsminister Branko Ružić gab zuerst "westlichen Werten" die Schuld an der Tragödie. Danach wurde er gezwungen, abzutreten. Und Staatspräsident Aleksandar Vučić verspürte in seiner ersten Ansprache an das fassungslose Volk den Drang zu betonen, dass in die Schule Vladislav Ribnikar Kinder "vermögender" Eltern gingen, die in "Hülle und Fülle" lebten. Als ob das irgendetwas mit dem Schrecken des Augenblicks zu tun hätte. Als würde er sich an Wähler wenden, von denen viele nicht vermögend sind.
Weder der Bürgermeister Belgrads, noch die serbische Ministerpräsidentin wagten es, sich bei der betroffenen Schule zu zeigen und eine Kerze anzuzünden oder Blumen niederzulegen. Wahrscheinlich aus Angst vor der Reaktion der Bevölkerung. Die Trauer ist zum politischen Problem geworden. Die Behörden erwecken den Eindruck, der Situation nicht gewachsen zu sein.
Die Proteste
Am Dienstag folgten tausende Menschen in Belgrad und Novi Sad dem Aufruf der Opposition und schlossen sich einem Protestmarsch "gegen die Gewalt" an. Oppositionsparteien stellten auch irgendwelche Forderungen an die Regierung, aber das war den Meisten egal. Mir auch. Ich verspürte auch den Drang irgendetwas zu tun, weil Regierungsvertreter mehr als nur nichts gemacht hatten – ihre Auftritte wirkten fast zynisch, arrogant, wirklichkeitsfremd, gefühllos, hochmütig, beleidigend, sie wirkten wie Eigenwerbung in dieser bedrückenden Situation.
"Fuck you!", dachte und sagte ich laut, so wie viele andere auch. Die Feiglinge wagten es nicht, unter die trauernden Menschen vor die Schule zu kommen, als ob das für sie feindliches Territorium wäre. Stattdessen richteten sie ihren eigenen Gedenkort vor dem Rathaus ein. Dort legten sie Kränze ab, knappe 200 Meter von der Ribnikar-Schule entfernt, für sich selbst und ihre gleichgeschalteten TV-Sender. Keine Menschenseele habe ich dort gesehen, nur einen verirrten jungen Russen, der eine Kerze für die toten serbischen Kinder anzünden wollte. Warum mussten sie selbst diese Tragödie politisieren? Was ist aus Mitgefühl, Menschlichkeit geworden? Sind es immer nur die Betroffenen, die wirklich leiden?
Meine Töchter gehen wieder in die Schule. Aus den Klassenzimmern sehen sie ihre ehemalige Schule, in der ein Kind acht Kinder tötete. Ihre Welt hat sich verändert. Sie haben begonnen zu verstehen, in welch einer Welt sie wirklich leben.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 06. Mai 2023 | 07:15 Uhr