Artenschutz Zu wenig Jungvögel: Verschwindet der Rotmilan aus Thüringen?
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17. November 2023, 10:30 Uhr
Fehlende Brutbäume, zu wenig Nahrung, Waschbären, die die Jungen töten und Windräder - der Rotmilan ist vielen Gefahren ausgesetzt. Seit Jahren werden in Thüringen zu wenig Jungtiere aufgezogen. Kann der größte Greifvogel im Freistaat das überstehen?
- Warum werden immer weniger Jungtiere ausgebrütet und aufgezogen?
- Was frisst der Rotmilan und warum findet er in Thüringen zu wenig Nahrung?
- Sind Windräder gefährlich für Rotmilane? Und warum sind Pappeln so wichtig?
"Wenn der Milan sein Nest baut, pass auf die Wäsche auf!", schrieb schon William Shakespeare im "Wintermärchen". Rotmilane lebten früher mitten in London und wurden als Abfallverwerter geschätzt.
Susanne Löw ist Biologin, stellvertretende Vorsitzende des Naturschutzbundes (Nabu) Gotha und hat ihre Diplomarbeit über den Rotmilan geschrieben. Seitdem bestimmt der Greifvogel einen großen Teil ihres Lebens. "Er ist einfach faszinierend, wenn man ihn fliegen sieht. Es gibt ja auch viele mythologische Geschichten über ihn."
Im Landkreis Gotha leitet sie ein Monitoring-Projekt im Auftrag der Thüringer Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz (TLUBN), das schon seit 1992 läuft. Eigentlich werden dort sogar schon seit den 1970er-Jahren Daten zum Rotmilan gesammelt.
Er ist der "inoffizielle Wappenvogel Deutschlands" sagt Susanne Löw. Mehr als 50 Prozent aller Rotmilane brüten in Deutschland. Das ist natürlich auch eine große Verantwortung für seinen Schutz und seinen Fortbestand." Sein Verbreitungsgebiet ist nahezu auf Europa beschränkt und es gibt insgesamt nur rund 25.200 bis 33.400 Brutpaare. Laut "Atlas der Brutvögel Thüringens" leben etwa 1.400 davon in Thüringen.
Zum Aufklappen: Steckbrief Rotmilan
Aussehen
Mit einer Körpergröße bis zu 70 cm und einer Spannweite bis zu 170 cm ist der Rotmilan in Thüringen unser größter heimischer Greifvogel. Auffälligstes Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Arten sind sein tief gegabelter Schwanz und seine rostfarbene Grundfarbe. Auf der Unterseite sind im Flug weiße Fenster am Flügel erkennbar. Das Gefieder am Kopf hat eine graue Färbung. Im Flug wirkt seine Körperhaltung leicht buckelig.
Verhalten
Spektakuläre Verfolgungsjagden im Flug oder das gezielte Aufgreifen von Kleinnagern im Vorbeifliegen sind nichts Besonderes für den Rotmilan. Auch zur Reviermarkierung unternehmen die Partner atemberaubende Flugmanöver. Zum Schlafen in Bäumen tut er sich mit anderen Rotmilanen zusammen, was eher ungewöhnlich für Greifvögel ist.
Zugverhalten
Der Rotmilan bleibt, je nach Nahrungsangebot, häufig den Winter über in Deutschland. Ein Teil zieht nach Südfrankreich und Spanien, um dort zu überwintern.
Nahrung
Als Hauptnahrungsquelle dienen kleine Säugetiere wie Wühlmäuse, andere Vögel oder Aas. Auf frisch bearbeiteten Feldern sucht er häufig nach Nahrung. Er ernährt sich aber auch von Abfällen des Menschen. Auch Regenwürmer und Insekten verschmäht er nicht. (Quelle: Nabu)
Das Problem mit den Zahlen
Um etwa 35 Prozent ist der Brutbestand des Rotmilans laut Monitoring Greifvögel und Eulen Europas (MEROS) insgesamt gesunken. Von 1988 bis 2016 war im Mittel ein Rückgang des deutschen Bestands von 16,5 Prozent zu verzeichnen. Monitoring-Daten zeigen allerdings, dass es deutliche regionale Unterschiede bei der Bestandsentwicklung gibt.
Laut Atlas der Brutvögel, den der Verein Thüringer Ornithologen e.V. herausgibt, sind die Zahlen in Thüringen dagegen gestiegen. Demnach gibt es derzeit 1.400 Rotmilan-Brutpaare in Thüringen, im Jahr 2010 waren es 1.000.
Um diese unterschiedlichen Zahlen zu erklären, muss man sich die Methodik anschauen, sagt Susanne Löw. Es würden ja nicht alle Vögel tatsächlich gezählt. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter betreuen ein Kontrollgebiet, in dem sie beobachten und zählen. Die Ergebnisse werden dann zusammengefasst und hochgerechnet. In Gebieten, wo niemand zählen kann, wird der Bestand geschätzt.
Seit Jahren zu wenig Jungvögel
Um aber wirklich einschätzen zu können, wie es um den Rotmilan steht, dürfe man nicht nur die Bestandszahlen sehen, so Löw. Sehr aussagekräftig sei beispielsweise die sogenannte Fortpflanzungsziffer (FPFZ). "Sie errechnet sich aus der Zahl ausgeflogener Jungvögel pro begonnener Brut. Die FPFZ sollte beim Rotmilan für einen dauerhaften Erhalt der Population bei mindestens 1,6 liegen. Dieser Wert wird aber leider seit vielen Jahren nicht mehr erreicht. Das ist besorgniserregend."
Warum der Rotmilan es in Thüringen schwer hat
In Thüringen war die Intensivierung der Landwirtschaft der Hauptgrund dafür. Vor 1990 wurden auf den Feldern aufgrund des hohen Viehbestands viele Feldfutterpflanzen angebaut, die regelmäßig gemäht wurden. Das Nahrungsangebot für den Rotmilan war durch die frisch gemähten Flächen und die geringe Bodenbearbeitung kontinuierlich gesichert.
Nach der Wiedervereinigung veränderte sich die Landwirtschaft im Osten Deutschlands gravierend. Es wurde beispielsweise deutlich mehr Raps angebaut, der den Boden für den Rotmilan laut Susanne Löw quasi "versiegelt". Des Weiteren war der Feldhamster - einstiges Hauptbeutetier des Rotmilans - in der Zeit nach 1990 nahezu ausgestorben.
Für das Jahr 1992 wurde der deutschlandweite Rotmilanbestand auf 9.000 bis 12.700 Brutpaare geschätzt, obwohl keine bundesweiten Bestandserhebungen durchgeführt wurden. Im Jahr 2000 wählte der Nabu den Rotmilan zum "Vogel des Jahres", der daher besondere Aufmerksamkeit erfuhr. In diesem Zuge wurden in manchen Bundesländern erstmalig Bestandserhebungen durchgeführt. Zunehmende Bestandsschätzungen liegen für Susanne Löw auch den immer genauer werdenden Datengrundlagen und Erhebungen zugrunde.
Mangel trotz breiter Nahrungspalette
Der Rotmilan ist ein sogenannter Generalist. Das heißt, er hat sich nicht auf eine spezielle Nahrung spezialisiert. Susanne Löw sagt: "Er frisst im Prinzip alles. Sonntagmorgens kann man Rotmilane gerne mal über den Dörfern über den Gärten kreisen sehen. Dann gucken sie, ob da nicht von einer Party noch eine Bratwurst übriggeblieben ist."
Am liebsten mag der Rotmilan Kleinsäuger, er frisst aber auch Amphibien oder Fische. Wenn die Kleinsäuger selten sind, jagt er auch kleine Vögel. Aber auch Regenwürmer frisst er. Dass der Greifvogel auch Hasen schlägt, hält Löw für ein Gerücht. "Ein Rotmilan kann höchstens 500 Gramm tragen. Ein Hase ist ihm deutlich zu schwer."
Ein Rotmilan kann höchstens 500 Gramm tragen. Ein Hase ist ihm deutlich zu schwer.
Allerdings sei der Rotmilan eher ein Aasfresser, ergänzt die Biologin. Wenn also irgendwo ein toter Hase liegt, nimmt er schon gerne ein Stück davon mit. Genau wie tote Mäuse. Und auch wenn dem ausgewachsenen Vogel vergiftete Mäuse eher nichts ausmachen, können sie für den Nachwuchs dennoch tödlich sein.
Übrigens, wenn man derzeit am Straßenrand Greifvögel sitzen sieht, ist das kein gutes Zeichen für Susanne Löw: "Das heißt, dass die Tiere Hunger haben. Sie wissen, dass auf der Straße immer mal etwas überfahren wird und darauf warten sie dann. Das ist natürlich auch gefährlich für die Vögel."
Auch das Wetter wirkt sich auf den Rotmilan aus, weiß Löw: "Durch die trockenen Frühjahre kommt es häufig gar nicht erst dazu, dass ein Weibchen überhaupt Eier legen kann. Denn die Tiere fressen Regenwürmer wegen des Kalziums, das zur Eiproduktion benötigt wird. Und wenn es die wegen der Trockenheit nicht gibt, kann das Paar nicht brüten."
Durch die trockenen Frühjahre kommt es häufig gar nicht erst dazu, dass ein Weibchen überhaupt Eier legen kann.
Greifvogelverfolgung im Landkreis Gotha
Immer wieder finden Löw und ihre Mitstreiter auch getötete Rotmilane. Sie werden vergiftet oder illegal geschossen. "Vor allem Hühnerhalter und Taubenzüchter sind nicht gut auf den Greifvogel zu sprechen. Aber natürlich sind es immer nur Einzelne, die ihn verjagen oder töten", betont sie.
Greifvögel gehören zu den streng geschützten Arten. Sie unterliegen dem Jagdrecht mit ganzjähriger Schonzeit, zudem dem Bundesnaturschutzgesetz und der EU-Artenschutzverordnung. Das Fangen, Verfolgen und Töten verstößt damit gegen das Bundesnaturschutzgesetz, gegen das Jagdrecht, das Strafgesetzbuch und das Tierschutzgesetz. Wer sich dessen strafbar macht, kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden.
Sind Windräder gefährlich für Rotmilane?
Greifvögel stoßen immer wieder mit Rotorblättern zusammen und verenden. Bislang gibt es aber nur wenige offizielle Daten dazu. In Gebieten, wo Rotmilane vorrangig ihre Horste haben, müsse man größere Abstände zu Windrädern einhalten, sagen Naturschützer. Außerdem, so Löw, könnte man Windräder zu bestimmten Zeiten abschalten oder technisch so ausstatten, dass sie das bei drohendem Zusammenstoß automatisch tun. Allerdings ist es schwer, das für verschiedene Vögel umzusetzen, so Löw.
"Greifvögel stechen da so ein bisschen raus. Das liegt an ihrem Verhalten, wie sie fliegen, wie sie Nahrung suchen. Außerdem erwarten sie auch keinen Angriff aus der Luft. Und sie lieben einfach die Standorte mit dem besten Wind, die mag aber auch die Windkraft."
Gefährliche Vorlieben
Der Rotmilan, so erzählt die Biologin, habe eine Eigenheit, die ihm auch oft zum Verhängnis wird. Er schmückt seine Nester gerne mit verschiedenen Sachen. "Wir haben sogar schon mal einen Teddybären im Horst gefunden."
Gefährlich werde es, wenn es Kunststoff-Bindegarn ist. "Auch Kartoffel- oder Zwiebelnetze und Angelschnur sammelt er ein. Das kann tödliche Folgen haben." Sie bittet darum, solche Dinge, wie auch Gummiringe, nicht in den Biomüll oder auf den Kompost zu werfen.
Gefahr auch durch andere Tiere
Dadurch, dass unsere Winter immer milder werden, bleibt der Rotmilan zunehmend hier. Susanne Löw: "Man kann dann größere Schlafgesellschaften von mehr als hundert Vögeln an einer Stelle beobachten. Die lösen sich dann meistens im Februar, März auf. An den Schlafplätzen knüpfen sie auch schon erste Kontakte zu möglichen Partnern."
Die Größe des Brutgebietes eines Rotmilans hängt vor allem vom Nahrungsangebot ab. Die Vögel ziehen maximal vier Junge auf, das ist aber heute eher die Ausnahme, sagt Löw.
Ein Grund ist auch die immer größere Konkurrenz zu anderen Arten. "Das wird immer stärker, weil er jeder Hunger hat. Jeder will den verbliebenen Baum, der irgendwo noch steht, für seine Brut nutzen", so Löw.
Auch Waschbären schlafen gern in den Horsten der Rotmilane. Und sie fressen die Jungen. Derzeit wird versucht, mit Manschetten, die an den Horstbäumen angebracht werden, die Waschbären fernzuhalten.
Die Sache mit den Pappeln
Eins der größten Probleme allerdings sind die fehlenden Brutbäume. Rotmilane nisten gern auf sehr hohen, stabilen Bäumen. Im Landkreis Gotha fanden in diesem Jahr 74 Prozent der Horste in Pappeln. Und genau das ist problematisch. Denn diese Pappeln wurden zum größten Teil zu DDR-Zeiten gepflanzt.
Als Windschutz sieht man sie vielerorts in Thüringen in Reihen an Feld- und Wirtschaftswegen. Auch als kleine Wäldchen wurden sie gepflanzt. "Wir reden hier von Hybridpappeln. Die wachsen sehr schnell und werden wirklich hoch", sagt Susanne Löw. Das Problem: Die Pappeln wurden fast alle nahezu gleichzeitig gepflanzt und sehr viele von ihnen zeigen inzwischen deutliche Zusammenbruchserscheinungen.
Sie fallen um oder werden aus Sicherheitsgründen gefällt. Das Abholzen eines Pappelwäldchens bei Pferdingsleben hatte im Februar zu viel Aufsehen und Kritik geführt.
"Die Rotmilane finden aber keinen Ersatz. Selbst wenn man jetzt Bäume nachpflanzt, sind sie ja erst in vielen Jahren hoch genug", so Löw.
In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands steht der Rotmilan in der Rote-Liste-Kategorie "Vorwarnliste". Susanne Löw stellt eine wenig optimistische Prognose: "Ich befürchte, dass der Rotmilan bald aufsteigen wird auf 'sehr gefährdet‘ bis hin zu 'vom Aussterben bedroht‘. Davon muss man ausgehen."
Ich befürchte, dass der Rotmilan bald aufsteigen wird auf "sehr gefährdet" bis hin zu "vom Aussterben bedroht".
Eine Lösung für dieses Problem sieht Susanne Löw nicht. "Der Rotmilan ist sehr heimatverbunden. Die Vögel, die beispielsweise im Raum Erfurt geboren werden, möchten da in der Nähe selbst brüten, weil sie da ein gutes Gefühl hatten. Die ziehen dann nicht einfach woanders hin."
Trotzdem gibt es Ideen, die Natur wieder diverser zu machen, um die Lebensbedingungen für alle, auch für den Rotmilan, zu verbessern.
Zum Beispiel durch das Bepflanzen von Landwirtschaftswegen oder von Radwegen, damit mehr Struktur in die Landschaft kommt. Dadurch hätten kleine Säuger oder auch kleine Vögel wieder Brutplätze und die Insekten hätten mehr Nahrung.
Neuen Lebensraum schaffen
"Das Nachpflanzen von Bäumen ist das A und O. Das sollte man machen, wenn man Greifvögel haben möchte in der Natur. Aber da gibt es eine Lücke von 20 bis 30 Jahren. Das wird man jetzt erstmal nicht beheben können. Die Tiere werden abnehmen, das müssen wir sehen, das wird kommen."
Aber, so Susanne Löw, das alles könne nicht von Ehrenamtlichen allein bewältigt werden. "Die tragen sehr viel, die machen sehr viel. Aber sie haben eigentlich nichts zu sagen. Wir sind nicht die genehmigende Behörde, aber wir haben ja die Daten. Wir geben die auch weiter. Und dennoch wird unsere Meinung oder unser Wirken oftmals nicht wertgeschätzt."
Trotzdem machen Susanne Löw und ihre Mitstreiter weiter. Sie streifen durch den Landkreis Gotha, suchen Rotmilan-Horste und die Kletterer im Team untersuchen sie. Dann werden die Jungen vermessen, gewogen und beringt und die Nahrungsreste werden untersucht. Alle Daten und Zahlen werden erfasst und mit den Vorjahren verglichen.
Alle Ergebnisse und Vorschläge werden dann ans TLUBN geschickt. Und alle Beteiligten hoffen, dass die Experten dort bald Lösungen zum Schutz des Rotmilans finden. Bei deren Umsetzung sind Susanne Löw und ihr Team dann natürlich auch wieder dabei.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 17. November 2023 | 19:00 Uhr
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