Hate Speech "Alltag, aber das macht es nicht weniger schlimm": Wie Thüringer Politiker Hass und Hetze ertragen

23. Juni 2023, 12:19 Uhr

Sie erleben Aufmärsche vor dem eigenen Haus, rassistisch-sexistische Anfeindungen im Internet oder Bedrohungen von lokalen Neonazis: Regelmäßig sind Mandatsträgerinnen und -träger in Thüringen Hass und Hetze ausgesetzt. Drei von ihnen berichten, was das mit ihnen macht.

Ulrich Töpfer hat einen bemerkenswerten Wandel durchlebt - vom "Staatsfeind Nummer eins" zum "Volksverräter". Vom Rebellen und anerkannten Verfolgten der DDR-Diktatur zum von Querdenkern angefeindeten Vertreter "des Establishments".

Ulrich Töpfer lebt seit Jahren mit seiner Frau im Gemeindepfarrhaus im südthüringischen Meiningen. In seinem kleinen Arbeitszimmer breitet der gelernte Diakon Ausdrucke aus: Ein vor dem Haus aufgehängtes Bettlaken ist zu sehen, "Volksverräter" steht darauf. Daneben Papiere mit Screenshots von Facebook-Kommentaren, in denen Töpfer angefeindet und verleumdet wird.

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Ulrich Töpfer ist ehrenamtlicher Bürgermeister in Meiningen. Vor allem zu Corona erlebte er Aufmärsche vor dem Haus und Anfeindungen im Netz. Was macht das mit ihm?

MDR THÜRINGEN - Das Radio Fr 23.06.2023 11:37Uhr 02:32 min

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Politisch aktiv schon zu DDR-Zeiten

Töpfers Leben besteht aus Aktivismus und Politik: Zu DDR-Zeiten organisierte er Friedensgebete oder debattierte in der "Arbeitsgruppe mehr Gerechtigkeit für die DDR". Die Zielscheibe der Stasi stets auf dem Rücken. "Ich habe hinterher erfahren, dass ich liquidiert werden sollte - nicht nur interniert, sondern liquidiert", sagt er. In den 1990er-Jahren gründete er die Grünen vor Ort mit und ist bis heute ehrenamtlicher Stadtrat und stellvertretender Bürgermeister.

Als damals die rechten Strukturen in Südthüringen sichtbar und stärker wurden, kam es immer wieder zu Aufmärschen der NDP und des Dritten Wegs. Töpfer rief zu Gegendemos auf und bekam den Hass ab.

Töpfer erhält Polizeischutz

"Das Feindbild war schon immer da. Aber es hat sich dann mit Corona verschärft", blickt er zurück. "Als mehr als 1.000 Leute an unserem Haus vorbeigezogen sind, mit Fackeln, und auch geschrien wurde 'Töpfer an die Wand', das war schlimm." Noch krasser habe sich das im Netz fortgesetzt, auf Facebook. Zu dieser Zeit habe er auch Polizeischutz bekommen, erzählt er: "Ich wollte es eigentlich gar nicht, aber als stellvertretender Bürgermeister musste das sein. Jedes Mal bei den Demos standen sie unten und haben aufgepasst."

Das Feindbild war schon immer da. Aber es hat sich dann mit Corona verschärft.

Ulrich Töpfer Stadtrat in Meiningen

Beleidigungen auch für junge Landtagsabgeordnete auf der Tagesordnung

Auch Lena Saniye Güngör kennt den Hass im analogen und digitalen Leben. "Ab dem Moment, an dem meine Kandidatur bekannt war, ging es los." 2019 zog Güngör für die Linke als jüngste Abgeordnete in den Thüringer Landtag ein. "Die Reaktionen haben deutlich gemacht, dass es quasi gar nicht geht, dass eine migrantische junge Frau meint, hier Politik machen zu dürfen."

Gleichzeitig seien die Motive nicht eindimensional, betont Güngör: "Es ist nicht nur das eine, es ist nicht nur Frau sein. Es ist nicht nur jung sein. Es ist nicht nur Migrantin sein. Es ist nicht nur links sein, es ist die Kombination von allem." Güngör bekommt Sprüche an Infoständen gedrückt und sexualisierte Gewaltnachrichten oder Hasskommentare in den sozialen Medien.

Und obwohl sie ihre eigenen Erfahrungen öffentlich anspricht, will sie nicht, dass das Problem an sich individualisiert wird. Viele andere Menschen erlebten ähnliche Anfeindungen, sagt Güngör, doch würden aus berechtigten Gründen nicht darüber sprechen wollen.

Güngör: Politische Mandate werden unattraktiv

Die Politikerin fügt hinzu, dass sich die Gewalt- und Hassnachrichten nicht auf das politische Handeln, sondern auf "meine bloße Existenz" beziehen. "Und ich kenne genug Kolleginnen und Kollegen - kluge Leute - von denen ich mir wünschte, dass sie politische Mitspracherechte hätten, die aber sagen: Das mache ich nicht. Ich will mich und meine Familie schützen. Solange wir mit den Schwierigkeiten, denen wir politisch ausgesetzt sind, nicht ernst genommen werden, wird es tendenziell unattraktiv, sich für Mandate aufzustellen. Und das halte ich für ein Demokratiedefizit."

Gerade mit Blick auf die Kommunalwahlen stelle sich für sie die Frage, wer dann noch Lust auf ein Stadt- oder Kreistagsmandat habe.

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Lena Saniye Güngör ist für die Linke im Thüringer Landtag. Seit Bekanntgabe ihrer Kandidatur 2019 sieht sie sich Hate Speech und rassistisch-sexualisierten Angriffen ausgesetzt. Was bedeutet das für sie und andere?

MDR THÜRINGEN - Das Radio Fr 23.06.2023 11:37Uhr 01:20 min

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So sind die Zahlen zu Anfeindungen auf Mandatsträger

Vor allem verbale und schriftliche Beleidigungen und Bedrohungen gehören für viele Kommunalpolitiker und auch Verwaltungsmitarbeiter mittlerweile zum Arbeitsalltag. Das stellt die 2023 veröffentlichte Studie "Demokratie unter Druck" des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) fest. Die Forschenden beobachten eine Zunahme an Anfeindungen seit der Corona-Pandemie. Viele Befragte wünschen sich demnach eine effektivere Strafverfolgung oder bessere Unterstützungs- und Beratungsangebote.

Die aktuelle Statistik der politisch motivierten Kriminalität weist für Thüringen derweil einen generellen Anstieg der strafbaren Hasskriminalität um rund 47 Prozent auf: von 390 Fällen im Jahr 2021 auf 573 Fälle 2022.

Schleusinger Bürgermeister von Neonazis angefeindet

Bei André Henneberg sieht die Sache ein bisschen anders aus, aber auch er ringt dieser Tage mit ihm entgegenschlagendem Hass. Seit Wochen erhitzen sich in Schleusingen im Kreis Hildburghausen die Gemüter um die Weiternutzung des ehemaligen Krankenhauses. Der Landkreis plant, dort irgendwann im Sommer Geflüchtete unterzubringen. Immer wieder demonstrierten Bürger der Stadt gegen die Pläne. Zu den Protesten gesellten sich bald auch Neonazis aus der Region.

Ende Mai wollte Bürgermeister Henneberg (Freie Wähler) dann ein Zeichen setzen - ausdrücklich ausschließlich gegen die Rechten "von außerhalb" - und beteiligte sich an einer Gegendemonstration.

André Henneberg blickt in die Kamera.
Schleusingens Bürgermeister André Henneberg. Bildrechte: MDR/David Straub

Handwerker sagt Auftrag ab

Auf Facebook ist er direkt nach der Veranstaltung auf Beschimpfungen gestoßen, auf der Seite des Neonazis Tommy Frenck, der im benachbarten Kloster Veßra ein Gasthaus - einen Szene-Treffpunkt - führt. Was in Telegram-Kanälen steht, will Henneberg lieber erst gar nicht wissen.

Nicht nur wird ihm vorgehalten, er würde alle Demonstranten in die rechte Ecke stellen, auch auf sein privates Leben hatte die deutliche Positionierung Konsequenzen: Ein Handwerker aus der Region sagte einen privaten Auftrag bei Henneberg ab.

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André Henneberg (FW) ist Bürgermeister von Schleusingen. Als er sich im Mai gegen Neonazis positionierte, die gegen eine mögliche Flüchtlingsunterkunft demonstrierten, erhielt er viele Hassnachrichten. Was macht das?

MDR THÜRINGEN - Das Radio Fr 23.06.2023 11:37Uhr 02:45 min

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"Es macht schon was mit einem", sagt der Bürgermeister, "wenn dort steht, dass man mal einen Hausbesuch bei mir machen müsse. Da guckt man dann auch einmal mehr ums Auto, ob da nicht irgendetwas ist. Die ersten Tage passt man intensiver auf, dass die Haustür verschlossen ist." In den Tagen danach habe er sich schon gefragt, warum er das alles noch mache, meint Henneberg.

Da guckt man dann auch einmal mehr ums Auto, ob da nicht irgendetwas ist.

André Henneberg Bürgermeister von Schleusingen (FW)

Unterstützung kam zwar, unter anderem von Justizministerin Doreen Denstädt (Grüne), er habe allerdings eine innerliche Mauer hochgezogen. "Man muss nur aufpassen, dass nicht von außen einer schneller mit einem Hammer dagegen haut, als man selber die Ziegelsteine hochziehen kann."

Wie umgehen mit dem Hass?

Anzeigen wollte er die Kommentare nach der Gegendemo trotzdem nicht. Weil es ohnehin schwierig sei, jemanden tatsächlich zu belangen. Auch, ob er direkt wieder bei einer solchen Kundgebung teilnehmen würde, weiß er nicht. "Ich würde es mir zweimal überlegen" - um "kein Öl ins Feuer zu gießen".

Es ist Alltag, aber das macht es nicht weniger schlimm.

Lena Saniye Güngör Abgeordnete der Linksfraktion im Thüringer Landtag

Lena Saniye Güngör warnt davor, sich an die Angriffe zu gewöhnen. "Es ist Alltag, aber das macht es nicht weniger schlimm", betont sie. "Also natürlich gibt es Gewohnheitseffekte, was die Angriffe angeht. Aber es darf halt nicht normal sein. Wir dürfen es als Gesellschaft nicht als gegeben hinnehmen."

Regelmäßig, sagt Güngör, erstatte sie deshalb Anzeige, doch: "Ich kann sagen, dass bei dem, was ich sowohl analog als auch digital angezeigt habe, wenig rausgekommen ist. Und damit, dass so wenig justiziabel zu sein scheint oder verwendet werden kann, wird man natürlich mit dieser Art von Gewalt alleingelassen. Und das ist die große Schwierigkeit für all diejenigen, die davon betroffen sind."

Ehrenamtler Töpfer hat sich dickes Fell zugelegt

Und Ulrich Töpfer? Er hatte viele Jahre Zeit, sich ein dickes Fell zuzulegen. "Ach, wer eine Diktatur überstanden hat, den erschüttert nicht mehr so viel", sagt er. Dennoch seien vor allem die Anfeindungen zu Pandemie-Zeiten hart gewesen. "Es verunsichert ungemein. Man hat nicht mehr die Freiheit, sich zu bewegen. Ich bin in die Stadt gegangen, wo man ja jeden kennt, und habe überlegt: Ist jetzt die Person, der du begegnest, mit dabei gewesen? Die Leichtigkeit ist futsch."

Die Leichtigkeit ist futsch.

Ulrich Töpfer Ehrenamtlicher Politiker in Meiningen

Einmal seien die Radmuttern seines Wagens gelockert worden, berichtet er. Diesen Vorfall und auch die verbalen Attacken der "Corona-Spaziergänger" habe er angezeigt. "Ich weiß, da kommt nichts raus. Aber es ging mir darum, die in die Statistik einfließen zu lassen."

Aggression wirkt in private Beziehungen hinein

Betroffen zeigt sich Töpfer im Gespräch vor allem immer dann, wenn es um zerbrochene Freundschaften geht. "Es gab heftige Trennungen. Zum Beispiel von einem ganz alten Freund aus dem Stadtrat, der irgendwann angefangen hat, sozialdarwinistisch zu argumentieren. Er sagte, wie im Tierreich, wenn jemand schwach ist, muss er halt sterben."

Er habe über die Jahre gemerkt, wie Unverständnis bei manchen Weggefährten in Aggression umgeschlagen habe: "Die haben gesagt, früher hat er doch mitgemacht und die friedliche Revolution mitgestaltet. Jetzt geht es auch um Menschenrechte und staatliche Willkür, und er macht nicht mehr mit."

Töpfer antwortet mit noch mehr Engagement

Aufgeben scheint jedoch nicht sein Ding zu sein. Im Gegenteil: Fragt man Töpfer, was die Anfeindungen mit ihm machen, spricht er sehr schnell wieder von neuen Gesprächskreisen oder Versuchen, Menschen aus Meiningen zusammenzubringen. "Wir haben dann die Meininger Stadtgespräche als Format eingeführt", ist so ein Beispiel. Sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, sich zu verstecken, kann er sich nicht vorstellen und sagt: "Ich denke, das hat schon was mit meiner Geschichte zu tun."

Neue Beratungsstelle soll auch Politikern helfen

Mitte Mai eröffnete in Erfurt die neue Beratungsstelle Elly für Betroffene von Hate Speech - also von Anfeindungen im Netz. Die Beraterinnen können darüber informieren, welche Möglichkeiten es gibt, um gegen Täter und Täterinnen vorzugehen, zu erfahrenen Anwälten vermitteln und Betroffene vor Gericht begleiten.

Während Schleusingens Bürgermeister Henneberg noch nicht von der Beratungsstelle gehört hat, schätzt Lena Saniye Güngör die Stelle als hilfreich ein. "Die Frage ist nur: Bleiben wir bei der Symptombekämpfung oder schaffen wir da so einen grundlegenden Wandel?"

Güngör betont deshalb: "Für mich ist das Wichtigste, dass von Diskriminierung Betroffene nicht ständig betonen müssen, dass es wirklich passiert ist, nicht ständig Beispiele bringen müssen, was sie erlebt haben. Und dass andere verstehen, dass es Alltag ist und wir als Gesellschaft eben nicht so weit sind, wie man vielleicht gerne denken oder hoffen würde."

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 14. Juni 2023 | 19:00 Uhr

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