Fünf Menschen schauen in die Kamera. Collage
Das sagen Migranten in Thüringen zur hitzigen Migrationsdebatte Bildrechte: MDR/Paul Ilten, David Straub, Nesreen Schmidt, Eyup Kaya (v.l.)

Meinungen "Jeden Tag spüre ich die Abneigung": Thüringer Migranten über die aufgeheizte Migrationspolitik

22. Februar 2025, 05:00 Uhr

Migration ist zum Wahlkampfthema Nummer eins der vergangenen Wochen hochgekocht. Vor allem nach den Anschlägen in Aschaffenburg und München. Migration ist als Begriff vage und meint irgendwie alle 21,2 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland auf einmal. Wie fühlt es sich an, als Migrantin oder Migrant in diesen Zeiten zu leben? Wir haben fünf Menschen mit Migrationsgeschichte aus Thüringen befragt.

David Straub schaut in die Kamera.
Bildrechte: Privat

Hiba Alabed aus Syrien

Eine junge Frau schaut in die Kamera.
Hiba Alabed Bildrechte: MDR/David Straub

Kurz nach 8 Uhr am Dienstagmorgen. Hiba Abaled hat noch ein bisschen Zeit, bis sie in die erste Behandlung muss. Vor neun Jahren flüchtete ihre Familie aus dem syrischen Damaskus. Hiba Alabed war damals noch eine Jugendliche - vor kurzem hat die ausgebildete Therapeutin mit ihrer Familie die "Physiopraxis Ilvers" in Erfurt eröffnet. Wegen den vollen Arbeitstagen fehlt ihr die Energie, regelmäßig die Nachrichten zu verfolgen. Der Anschlag in München hat sie getroffen:

Protokoll "Es ist sehr schlecht, dass wegen dieser einen Person jetzt alle Ausländer mitschuldig gemacht werden. Das finde ich sehr ungerecht. Die Ausländer, die hier leben und fleißig sind, haben auch das Recht hier zu sein. Diejenigen, die andere schädigen oder viele Probleme machen, sollten abgeschoben werden.

Ich finde das Multikulturelle in Deutschland sehr schön. Das ist anders als in Syrien. In der Praxis hier sind Menschen aus vielen Ländern, man hört Deutsch in den unterschiedlichsten Akzenten. Das macht Spaß. Ich liebe diese Stadt - trotzdem gehört Rassismus zu meinem Leben: Ich trage immer bequeme Schuhe, um wegrennen zu können. Ich habe vor allem Angst vor Betrunkenen, von denen ja auch viele deutsch sind. Ich renne immer weg, weil ich Angst habe, dass sie mir mein Kopftuch herunterreißen."

Verband: Migranten keine homogene Gruppe

Während das Thema Migration den Wahlkampf dominierte, können nur relativ wenige Migranten selbst in Thüringen mitwählen. Wahlberechtigte mit Einwanderungsgeschichte machen nur etwa zwei Prozent aller Wahlberechtigten in Thüringen aus - so schätzt das Landesstatistikamt.

Elisa Calzolari ist Geschäftsführerin von Migranetz Thüringen. Migranetz vernetzt und vertritt die vielen Thüringer Migrantenorganisationen. Calzolari stört, dass Migration immer öfter "als Mutter aller Probleme" dargestellt wird und Migranten dadurch marginalisiert werden.

Was dabei auf den ersten Blick vielleicht überrascht: 21 Prozent der Menschen mit Migrationsgeschichte halten die AfD für wählbar. Das zeigt eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Dass Forderungen nach mehr Abschiebungen oder strengeren Regeln für Asylbewerber auch bei Migranten verfangen, wundert Elisa Calzolari von Migranetz aber nicht. "Es gibt nicht 'die' Migranten, sondern eine Vielfalt wie in der Mehrheitsgesellschaft auch.

Paul Ilten, AfD-Politiker mit US-Wurzeln

Ein Mann schaut in die Kamera
Paul Ilten Bildrechte: Paul Ilten

Irgendwann hat Paul Ilten seiner Mutter erzählt, dass er "zur AfD tendiert". "Sie hat mich dann daran erinnert, dass ich ja selbst Migrationsgeschichte habe." Gehindert hat ihn das nicht. Ilten ist Kaufmann und stellvertretender Vorsitzender der AfD im Kreistag Weimarer Land. Auch im Verein "Migranten für Deutschland" ist er mittlerweile. Dass er eine migrantische Geschichte mitbringt, sieht man Ilten nicht an. Es war für seine politische Karriere in der AfD auch bislang nie ein Problem, sagt er:

Protokoll "In meiner Schulzeit wurde ich immer mal wieder gefragt, ob wir nicht in die USA zurückgehen wollen. Das macht was mit einem - auch wenn ich mich tendenziell als Deutscher fühle. 

Man muss zwischen Migration und Migration unterscheiden. Ich bin seit ein paar Jahren im ländlichen AfD-Umfeld unterwegs. Niemand hat generell etwas gegen Migranten. Sondern nur dann, wenn sie sich nicht benehmen. Da wird das Bild der AfD verzerrt - von unseren politischen Mitbewerbern und den Medien.

Das Wählerpotenzial für die AfD bei Migranten ist hoch. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte sehen, dass sich in Deutschland vieles nicht zum Guten entwickelt. Ich finde es beschämend, dass es erst einen US-Vizepräsidenten wie JD Vance braucht, um demokratische Defizite in Deutschland zu bemängeln. Dass sich die politische Führung der USA genötigt fühlt, sich mit unserer Partei zu solidarisieren - das sagt viel über das politische Klima in Deutschland aus."

Nesreen Schmidt, Geraer Dolmetscherin mit sudanesischen Wurzeln

Eine Frau schaut in die Kamera
Nesreen Schmidt Bildrechte: Nesreen Schmidt

Auch Nesreen Schmidt lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Sie hat als Migrantin ganz andere Erfahrung gemacht als Paul Ilten. Als schwarze Frau in Gera. Schmidt hat zwei Töchter, acht und 17 Jahre alt. Die Eltern kommen aus dem Sudan, lebten aber mit ihren Kindern lange in Dubai. Nachdem Schmidt beim Studium in Dubai einen Thüringer kennengelernt und sich verliebt hatte, zogen beide zunächst in dessen Dorf - 400 Einwohner, in der Nähe von Zeulenroda im Landkreis Greiz. Nesreen Schmidt arbeitet bei Migranetz und ist seit 2015 selbstständige Dolmetscherin. Der Hass auf Ausländer, sagt sie, habe sich seitdem verstärkt:

Protokoll "Heute versuche ich es zu vermeiden, in die Stadt zu gehen. Jemand wie ich steht ständig unter Strom. Es ist das Flüstern 'Ausländer raus' von Passanten - einmal hatte mich auch ein Ehepaar im Supermarkt angeschrien. Jeden Tag spüre ich die Abneigung der Menschen. Manchmal möchte ich schreien: Ich bin Deutsche. Eine Freundin schlug vor, mit einem Zettel auf der Stirn rumzulaufen, mit meinem Nachnamen drauf: Schmidt. Wer als Migrant hierherkommt, hat den Druck, sich beweisen zu müssen.

Die Attentate sind schlimm. Jedes Mal, wenn ein Attentat wie in München passiert, kriege ich einen Klumpen im Hals. Jetzt hassen sie uns noch mehr, denke ich dann. Die Attentate sind auch deshalb schlimm, weil sie instrumentalisiert werden. Dass Migration kontrolliert werden sollte, diese Forderungen nach mehr Abschiebungen, finde ich falsch. Wichtiger ist, dass wir passende Maßnahmen für Menschen haben, die zu uns kommen. Ich hatte damals das Glück, in eine deutsche Familie zu kommen. Die meisten Menschen haben das nicht. Es reicht nicht einfach nur ein Integrationskurs. Wir brauchen für die Menschen bessere Maßnahmen, wie Betreuungen und so weiter. Wenn wir ihnen alle Wege nach der Ankunft erst einmal versperren, fehlt ihnen eher die Kraft, ein ordentliches Leben zu führen."

Aleksei Artamonov, Ukraine-Aktivist aus Russland

Ein Mann schaut in die Kamera
Aleksei Artamonov Bildrechte: MDR/David Straub

Früher war Aleksei Artamonov Hundeführer bei der Polizei - in Russland. Jetzt empfängt er Hotelgäste in Apolda und leitet einen ukrainischen Verein: "Pidtrymka der Ukraine" - Unterstützung der Ukraine. Artamonovs Frau erhielt als Spätaussiedlerin einen deutschen Aufenthaltstitel, vor gut zehn Jahren zog die Familie nach Thüringen. Er hat seit einem Jahr einen deutschen Pass. Eine halbe Minute hörte er Putin nach dessen Überfall auf die Ukraine zu, dann wechselte er innerlich die Seite. Sollte er einmal nach Russland reisen, so sagt Artamonov im Gespräch, würde er sofort nach Sibirien geschickt. Seine Zeit nutzt er deshalb lieber, um ukrainischen Geflüchteten zu helfen.

Protokoll "Migranten sind ein wichtiger Teil Deutschlands, ohne sie geht hier gar nichts. Das Problem für viele Menschen, die zum Beispiel aus Syrien oder Afghanistan kommen ist, dass die Bürokratie und alle Prozesse hier am Anfang zu lange dauern.

Unter den Spätaussiedlern, also den deutschstämmigen Leuten, die aus Russland, Kasachstan oder auch der Ukraine gekommen sind, gibt es einige Leute, die die AfD unterstützen. Sie wollen die Partei unterstützen, weil sie denken, sie sind für die deutsche Bevölkerung. Diese Leute wählen die AfD, um sich als Deutsche zu identifizieren und um als solche wahrgenommen zu werden. Sie sind dann auch oft Kritiker neuer Migranten zum Beispiel aus Afghanistan oder Syrien."

Eyup Kaya, Lehrer aus der Türkei

Ein Mann schaut in die Kamera
Eyup Kaya Bildrechte: Eyup Kaya

Eyup Kaya lebt seit sieben Jahren in Thüringen. Er ist Lehrer, musste aber aus der Türkei mit seiner Familie fliehen. Als Mitglieder der Hizmet-Bewegung (auch Gülen-Bewegung genannt) waren sie von Präsident Recep Tayyip Erdogan als Terroristen eingestuft worden. Kayas Frau arbeitet als Pädagogin an einer Schule. Eyup Kaya selbst macht gerade eine dreijährige Zusatzausbildung, um endlich wieder als Lehrer arbeiten zu dürfen.

Protokoll Der Angriff in München hat uns tief erschüttert. Wir beten für die Opfer und lehnen Gewalt in jeder Form ab. Dennoch dürfen einzelne Taten nicht zur pauschalen Verurteilung von Migranten führen, da das den gesellschaftlichen Frieden gefährdet.

Migration ist Teil der Menschheitsgeschichte, und erfolgreiche Integration ist für den sozialen Zusammenhalt unerlässlich. Die Hizmet-Bewegung setzt sich seit jeher für Bildung, Dialog und friedliches Zusammenleben ein. Statt nur auf Sicherheitsmaßnahmen zu setzen, müssen Bildung, Arbeitsmarktintegration und gesellschaftlicher Dialog gefördert werden. Konstruktive Lösungen sind gefragt, keine spaltende Rhetorik.

Mehr zur Migration und zum Bundestagswahlkampf

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Nachrichten | 22. Februar 2025 | 18:00 Uhr

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