Direkte Demokratie Unterschriften statt Festkleben: Wenn sich Einwohner in die Klimapolitik einmischen
Hauptinhalt
19. November 2022, 19:49 Uhr
Während bei der UN-Klimakonferenz in Ägypten internationale Politiker um die Klimapolitik der Zukunft ringen, werfen wir einen Blick auf Thüringen: In mehreren Gemeinden organisieren Menschen gerade Entscheide, um die Klimapolitik ihrer Stadt aktiv mitzugestalten. Aber was bringt ihr Einsatz überhaupt?
Am Ende hatte kaum einer so richtig mit diesem Ergebnis gerechnet. "Ich dachte, ich bin stressresistenter, aber wir haben uns ziemlich ausgeliefert gefühlt." Laura Boeger kann immer noch nicht fassen, dass der Weimarer Stadtrat im September das Bürgerbegehren Radentscheid abgelehnt hat.
Fast 6.000 Stimmen hatten sie und ihre Mitstreiter innerhalb von drei Monaten gesammelt - knapp 4.000 hätten es eigentlich nur sein müssen.
Gruppe will besseres und sicheres Radwegenetz
Im Frühjahr 2021 waren sie zum ersten Mal zusammengekommen: junge und ältere Menschen, vereinzelt in Parteien aktiv oder einfach nur politisch interessiert. Sie formulierten Forderungen für ein durchgängiges und sicheres Radwegenetz, bauten eine Internetseite und reichten die gesammelten Unterschriften bei der Stadt ein.
Mittlerweile zählt das Kernteam gut ein Dutzend Menschen, dazu kommen weitere Ehrenamtliche. Auch Einrichtungen wie die Gedenkstätte Buchenwald und das Deutsche Nationaltheater unterstützen die Arbeit des Radentscheids.
Stadt Weimar verhandelte mit Radentscheid
"Man kann vielleicht sagen, dass wir von vornherein eigentlich nicht so revolutionär waren, sondern auf dem bestehenden Radverkehrskonzept der Stadt aufgebaut haben", beschreibt Lauras Kollege Matti Drechsel das Vorgehen der Gruppe. Immer wieder trafen sich Fahrrad-Aktivisten mit Stadträten, Verwaltungsangehörigen und auch Oberbürgermeister Peter Kleine zu Verhandlungen. Dort wurden Kompromisse ausgehandelt, die "aus fachlicher Sicht über die nächsten Jahre Schritt für Schritt umgesetzt werden können", wie es Kleine selbst beschreibt.
Uns hat das Genick gebrochen, dass es bei der Stadtratssitzung einige Corona-Erkrankungen gab.
Doch Corona machte dem gemeinsam gefundenen Kompromiss für den Ausbau der Radinfrastruktur einen Strich durch die Rechnung: "Dass es bei Linken und SPD an dem Tag der Stadtratssitzung einige Corona-Erkrankungen gab, hat uns das Genick gebrochen", sagt Matti Drechsel. Die wenigen Fehlstimmen reichten aus, dass der von Radentscheid und Stadtverwaltung abgestimmte Entwurf durchfiel. Auch CDU und Weimarwerk stimmten dagegen - und das, obwohl sie die Parteien sind, die den parteilosen Oberbürgermeister Kleine generell unterstützen.
Abstimmung würde 150.000 Euro kosten
Dass der Radentscheid in Weimar nun vorerst gescheitert ist, stellt eine Ausnahme in Deutschland dar. 53 abgeschlossene und noch laufende Radentscheide gibt es in Deutschland. Weimar - so erklärt Laura Boeger - sei erst die zweite Stadt, in der der Stadtrat das Begehren gekippt habe.
"Wir bereiten uns auf den Entscheid vor", sagt Laura Boeger, "aber es würde wahnsinnige finanzielle und personelle Kapazitäten binden." Die Stadt Weimar bestätigte MDR THÜRINGEN, dass die Kosten für solch eine Abstimmung bei mindestens 150.000 Euro liegen dürften. Kosten, die laut Radentscheid dem Eigenanteil an der geplanten und verschobenen Fahrradstraße in der Weimarer Schubertstraße entsprechen.
Immer mehr Entscheide
Ab 2017 ist die Zahl der Radentscheide in Deutschland immer weiter gewachsen. Radentscheide sind dabei nicht die einzigen Bürgerbegehren, die sich für einen besseren Klimaschutz einsetzen. Mittlerweile sind auch Solarentscheide, Anti-Kohlekraft- und allgemein gehaltene Klimaentscheide dazugekommen.
Obwohl das Wort "Entscheid" im Namen vieler Initiativen steckt, handelt es sich streng genommen erst einmal um Bürgerbegehren. Erst wenn das Begehren - wie jetzt in Weimar - vom Stadtrat abgelehnt wird, kommt es zu einem Bürgerentscheid: Einer Abstimmung, bei der alle Bürger zu den Forderungen ja oder nein sagen können.
Zum Aufklappen: Bürger- vs. Volksbegehren im Detail
Bei Bürgerbegehren handelt es sich um Initiativen auf kommunaler Ebene: Die Initiative braucht eine bestimmte Zahl an Unterschriften (zwischen 4,5 und sieben Prozent der Einwohner in Thüringen), damit sich der Stadtrat mit den Forderungen beschäftigen muss. Stimmt er zu, fließt das Begehren in einen Beschluss. Lehnt er ab, kann es in einen Entscheid münden (siehe Weimar). Dabei müssen in Thüringen zwischen zehn und 20 Prozent der Einwohner zustimmen, damit er als erfolgreich gilt.
Dagegen können Bürger beim Volksbegehren Einfluss auf die Landespolitik nehmen. Zuletzt war beispielsweise ein AfD-Antrag auf ein Volksbegehren gegen die Impfpflicht für zulässig erklärt worden. Sofern nicht innerhalb eines Monats die Landesregierung oder ein Drittel der Landtagsabgeordneten diesbezüglich den Verfassungsgerichtshof anrufen, können laut Verfassung Unterschriften für das Begehren gesammelt werden. Damit sich der Landtag dann damit beschäftigen muss, müssen entweder zehn Prozent der Stimmberechtigten innerhalb von vier Monaten, oder acht Prozent innerhalb von zwei Monaten dem Begehren zustimmen. Lehnt der Landtag das Begehren dann ab, kommt es auch hier zum Entscheid.
Bürgerbegehren finden auf städtischer Ebene statt. Anders als bei Volksentscheiden versuchen Bürger also nicht auf den Landtag, sondern auf die Kommunalpolitik im Stadt- oder Gemeinderat direkt Einfluss zu nehmen.
Auch kleinere Gemeinden mit Klima-Begehren
Einer, der sich mit der Wirkung von Klima-Begehren auskennt, ist Henning Peters. Er arbeitet für das Umweltinstitut München, ein Verein, der das Projekt "Klimawende von unten" mitorganisiert und Klima-Begehren in Deutschland unterstützt. Peters sagt: "Durch einen drohenden Entscheid wird Druck aufgebaut. Sodass die Kommunalpolitik versucht, diese Abstimmung zu umgehen und selbst dort tätig wird, wo sie vorher nicht tätig war."
Mehr als 100 Bürgerbegehren, die in die Kategorie Klimaschutz fallen, gibt es laut Peters derzeit in Deutschland. In den vergangenen Jahren seien zudem immer mehr kleinere Entscheide auf den Plan getreten.
Diese Bürgerbegehren sind manchmal ein richtiger Rammbock für den Klimaschutz.
Henning Peters nennt die Gemeinde Lilienthal in Niedersachsen mit nicht einmal 20.000 Einwohnern als Beispiel: Jahrelang seien Forderungen aus der Zivilgesellschaft ignoriert worden, auf kommunale Dächer mehr Solaranlagen zu bauen. Erst nach der Gründung eines Solarentscheides und der damit verbundenen Pressearbeit sei es dann auf einmal ganz schnell gegangen und die Gemeinde habe angekündigt, alle Dächer von Schulen oder Verwaltungsgebäuden prüfen zu wollen. Peters sagt: "Diese Bürgerbegehren sind manchmal ein richtiger Rammbock für den Klimaschutz."
Rudolstädter Solarentscheid steht am Anfang
In Rudolstadt wartet derzeit Thüringens erster Solarentscheid auf seine Zulassung. Auch hier will die Initiative die Stadt auffordern, auf allen kommunalen Dächern Solaranlagen zu installieren und bei allen Neubauten in der Stadt eine Solarpflicht einzuführen.
Frank Bock, Grünen-Politiker im Kreistag, hat den Entscheid mitgegründet. Er sagt: "Wenn in einer Kommune direkt Energie produziert wird, dann hat das einen wichtigen Beitrag für die Klimagerechtigkeit." Bisher hätte die Stadtverwaltung jedoch nicht signalisiert, viel von den Forderungen zu halten.
Solarentscheid ringt um Zulassung
Bisher hat die Stadt den Antrag des Solarentscheids nicht zugelassen: Ein erster Entwurf wurde zurückgewiesen, weil die Fragestellung zu unkonkret gewesen sei. Auf MDR THÜRINGEN-Nachfrage blieb Rudolstadts Bürgermeister Jörg Reichl vage, was er inhaltlich von den Forderungen des Entscheids halte. Die Stadt wolle bei der Energiewende auch auf Solarenergie setzen, sagte er: "Wir als Stadt sind offen, diesen Weg in Zusammenarbeit mit dem Stadtrat für die Stadt Rudolstadt zu gehen." Konkreter wurde er nicht.
Derzeit überarbeiten die Ehrenamtlichen des Solarentscheids den Antrag, um dann im kommenden Frühjahr tatsächlich in Rudolstadt Unterschriften sammeln zu können.
Strahlwirkung nach Saalfeld
Relativ unverhofft hat der Solarentscheid aber bereits Auswirkungen auf das benachbarte Saalfeld gehabt: So hätten, erklärt Frank Bock, die Forderungen des Entscheids ihren Weg in den dortigen Stadtrat gefunden: Im Oktober wurde dort daraufhin ein abgeschwächter, aber immer noch ähnlicher Beschluss zu Solaranlagen auf kommunalen Dächern gefasst.
"Klimaentscheide" in Jena und Erfurt
Es geht jedoch auch allgemeiner: Mit Jena und Erfurt haben bereits zwei Thüringer Städte ein Begehren auf den Weg gebracht, das in beiden Fällen einfach nur "Klimaentscheid" heißt. Anders als in Weimar und Rudolstadt stellen sie keine detaillierten Forderungen auf, zum Beispiel wie viel Strom durch Solarenergie gewonnen werden soll.
Um die Klimaneutralität bis 2035 in Erfurt zu erreichen, fordern wir einen Klimaaktionsplan.
Sie haben schlicht ein einziges Ziel: Die Stadt soll bis 2035 klimaneutral werden, also sämtliche CO2-Emissionen auf ein Netto-Null bringen und damit auch alle verbleibenden Emissionen ausgleichen. "Um diesen Weg zu gehen, fordern wir einen Klimaaktionsplan", erklärt Nadine Baumann aus Erfurt. "Das heißt, in verschiedenen Handlungsbereichen der Stadt sollen Maßnahmen erarbeitet werden - zum Beispiel im Bereich der Energieerzeugung aber auch im öffentlichen Nahverkehr oder die Infrastruktur betreffend."
Stadt Jena könnte nur 40 Prozent der notwendigen Emissionen sparen
Damit folgt Erfurt dem Jenaer Modell: Dort wurde erst im September ein Klimaaktionsplan (KAP) vorgestellt, den der dortige Entscheid gefordert hatte und der von einem externen Büro entwickelt wurde. Die Idee dahinter: Die Vorschläge sollen von der Stadtpolitik unter Beteiligung interessierter Bürger in konkrete Maßnahmen gemünzt werden.
Zwar freut sich die Initiative über den KAP: "Statt einzelner Maßnahmen steht nun ein Paris-konformes Ziel als Stadtratsbeschluss - und ein klarer Klima-Fahrplan wartet auf Umsetzung", heißt es gegenüber MDR THÜRINGEN.
Dennoch bezweifeln die Entscheidler, dass die entwickelten Vorschläge des Planungsbüros für das Neutralitätsziel 2035 wirklich ausreichen. Die Stadt könne eh nur 40 Prozent der nötigen Treibhausgas-Einsparungen leisten, habe das Büro erklärt, alles andere müsse auf Landes- oder Bundesebene möglich gemacht werden. Oder durch Kompensationen ausgeglichen werden.
Keine Verbindlichkeit - aber Druck aufbauen
Unterm Strich bleibt: Die Klima-Begehren können die Kommunalpolitik nicht wirklich zu konkreten Schritten verpflichten. Zumal auch erfolgreiche Begehren noch nicht bedeuten, dass eine bestimme Länge an Radwegen gebaut oder die geforderte Menge Solarstrom tatsächlich produziert werden kann - wenn das Geld im Haushalt dafür nach Ansicht der Stadträte nicht da ist. Auch in Jena wird sich erst zeigen, wie wirksam der Einsatz des Klimaentscheids ist, wenn die tatsächliche Umsetzung zur Abstimmung im Stadtrat ansteht.
Die Klima-Begehren können Stadträte und Bürgermeister aber anschieben, mit gesammelten Unterschriften unter Druck setzen und einen Diskussionsrahmen schaffen, in dem Klimaschutz Priorität hat.
Die Stadt Erfurt hat auf Anfrage derweil erklärt, in den nächsten Monaten verschiedene Konzepte übereinanderzulegen, "um die Zielsetzungen des Klimaschutzes klarer zu gestalten". Neben einer Überarbeitung des alten Klimaschutzkonzeptes sollen dabei auch die Forderungen des Klimaentscheids mitbedacht werden. Für die Aktivistinnen und Aktivisten vielleicht ein erster, kleiner Erfolg.
MDR (dst)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 18. November 2022 | 12:00 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/8c3e9108-5e9f-4b99-a8ec-fb960b78d980 was not found on this server.