Diskussionsrunde bei Fakt ist mit: Annette Rommel (von links/Kassenärztliche Vereinigung Thüringen), Gesundheitsökonom Andreas Schmid, Moderator Lars Sänger und Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke)
Was tun gegen den Ärztemangel in Thüringen? Die MDR THÜRINGEN-Diskussionsrunde bei Fakt ist! aus Erfurt mit: Annette Rommel (von links/Kassenärztliche Vereinigung Thüringen), Gesundheitsökonom Andreas Schmid, Moderator Lars Sänger und Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke). Es fehlt im Bild: Moderator Andreas Menzel Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Fakt ist! aus Erfurt Ärztemangel in Thüringen: Was schief läuft und was man dagegen tun kann

05. September 2023, 07:33 Uhr

Obwohl es so viele Ärzte wie noch nie gibt, müssen viele Thüringer Monate auf einen Termin warten - wenn sie überhaupt einen Arzt finden. Was läuft falsch, was kann getan werden? MDR-Talk Fakt! ist aus Erfurt.

Mehr als ein halbes Jahr hat es gedauert, bis Elke Schwoboda aus Erfurt zum ersten Mal in ihrem Leben einen Augenarzt gefunden hatte. Bei einigen Praxen hieß es, es würden keine Patienten mehr aufgenommen. Andere erklärten, sie solle ein halbes Jahr warten oder sich Donnerstag früh anstellen und hoffen, dass sie unter den ersten 25 ist - nur diese würden einen Termin erhalten. Der telefonische Patientenservice (Telefonnummer: 116-117) verwies praktischerweise auf das Internet - Ärzte fand sie dann nach wochenlanger Suche oft mehr als 50 Kilometer entfernt von Erfurt. Am Ende ihrer Odyssee hatte sie doch noch Glück. Sie fand einen Augenarzt in Erfurt.

Absehbarer "Praxiskollaps" und doch so viel Ärzte wie noch nie?

Doch woran liegt es, dass in Thüringen allerorten niedergelassene Ärzte gesucht werden? Und was kann dagegen getan werden? Damit beschäftigte sich die MDR-Talkrunde Fakt ist! aus Erfurt am Montagabend. Annette Rommel, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Thüringen (KVT), warnte zunächst vor einem Praxiskollaps in Thüringen, weil nicht nur zunehmend Ärzte, sondern auch medizinische Fachangestellte fehlten. Sie muss es wissen, vertritt sie als KVT-Vorsitzende die niedergelassenen Haus- und Fachärzte in Thüringen. Zudem ist die KVT verantwortlich, dass Thüringen flächendeckend mit Arztpraxen versorgt ist und die KVT verteilt nicht zuletzt auch die Vergütung, die die Krankenkassen an die Ärzte auszahlen.

Dem pessimistischen Szenario setzte Fakt ist-Moderator Andreas Menzel entgegen, dass es rund 10.000 Ärzte in Thüringen gibt. Zumindest statistisch gesehen seien das so viele wie noch nie - jeder Dritte davon als niedergelassener Haus- oder Facharzt. Bei angehenden Hausärzten zeigte sich zudem der Thüringer Chef der Techniker Krankenkassen, Guido Dressel, sogar optimistisch. Dort mache er sich keine Sorgen: "Die Erfolge sind da". Die Zahl der anerkannten Hausärzte in Thüringen hätte sich in den vergangenen Jahren verfünffacht, auf nun mehr als 50 jedes Jahr. Während es bei den Hausärzten oft noch nicht so schlimm aussieht, würden also vor allem Fachärzte in Thüringen gesucht.

Doch Andreas Schmid, Gesundheitsökonom an der Universität Bayreuth, zog der zumindest teilweise positiven Einschätzung des Krankenkassen-Chefs sozusagen ein wenig den Zahn: Aufgrund der demographischen Entwicklung könne künftig wohl nur noch jede zweite Stelle nachbesetzt werden. Dazu kommt, dass die Thüringer immer älter und kranker werden. Mit anderen Worten: Sie benötigen noch mehr Arztbehandlungen als heute schon.

Wer bezahlt das alles? Der Streitpunkt Ärztebudget

Wie das in der Praxis aussieht, berichtete die Schmöllner Hautärztin Ulrike Durrant-Finn: Zu den weniger werdenden Facharztpraxen, die keinen Nachfolger finden, kommen die zunehmend älter werdenden Patienten. Diese oft alleinstehenden Menschen würden nicht nur häufiger krank, sondern nutzten die Praxis für einen Schwatz und vielleicht nicht nur für einen dringenden Arztbesuch. Und schließlich spiele das Gesundheitsbewusstsein der Patienten eine Rolle: Menschen müssten mehr selbst Verantwortung übernehmen und nicht wegen "eines Hustens" gleich vorbeikommen, sagte Ulrike Durrant-Finn.

Gar neue Patienten aufzunehmen, sei dazu ganz schwer. Grund sei das starre und begrenzte Budget, mit dem die Ärzte jedes Quartal für ihre Behandlungen bezahlt werden. Wenn dieses überschritten ist, bekommen sie oft keine Vergütung, wenn sie trotzdem weiter behandeln. Die einzig mögliche Lösung für die Ärztin aus Schmölln: Ein Ende der Budgetierung. Diese System gebe es seit Jahrzehnten und stamme noch aus einer Zeit, in der es zu viele Ärzte gab.

Wie die Ärzte künftig bezahlt werden sollen, war einer der Diskussionspunkte an diesem Abend. So widersprach Gesundheitsökonom Schmid, dass die Budgetlimits für Ärzte aufgehoben werden müssten. "Die Alternative der Entbudgetierung wird nicht funktionieren", steht für den Professor an der Universität Bayreuth fest. Er verwies darauf, dass dann am Ende die Krankenkassenbeiträge der Versicherten steigen - also die meisten Bürger mehr Geld bezahlen müssten. Denn die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen verwenden das so eingenommene Geld, um damit auch Ärzten die Behandlungen zu bezahlen. Ohne Budget befürchtet er ausufernde Kosten.

Das sah Ärztevertreterin Rommel nicht so. Eine Explosion der Leistungen und Kosten würde von der Politik verhindert werden, ist sich die im Kreis Gotha praktizierende Hausärztin sicher. Sie sprach sich daher auch für ein Ende des Budgetlimits aus. Thüringer Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) sprach sich zumindest für eine Reform des Ärzte-Budgets aus. Viele angehende Ärzte würden sich auch wegen der Budgetierung nicht für eine Selbstständigkeit entscheiden, sei ihre Erfahrung.

Einen Ansatz, das als zu starr kritisierte Budget für Ärzte zu überwinden, hatte es bereits in der Corona-Pandemie gegeben: Mit der "Neupatientenregelung" wurden damals Ärzte bezahlt, wenn sie neue Patienten behandeln. Doch diese Regelung beendete die Bundesregierung im Januar 2023. Werner, die dies ausdrücklich bedauerte, sagte, dass von der "Neupatientenregelung " Thüringen bundesweit mit am meisten profitiert habe.

Der Idee, dass weniger Ärzte auch weniger Geld kosten, widersprach dabei TK-Chef Dressel: "Wir sparen überhaupt nichts, wenn weniger Ärzte praktizieren." Denn der Kuchen bleibe gleich groß, würde nur auf weniger Ärzte verteilt.

Wenn Ärzte nicht dort sind, wo sie am meisten gebraucht werden

Was immer noch fehle, ist für Gesundheitsexperten Andreas Schmid eine echte regionale Übersicht, wo welche Ärzte wirklich gebraucht werden: "Es gibt keine richtige Messgröße für die richtige Zahl der Ärzte pro Region". Zwar verteilt die KVT die Praxisstellen anhand von Schlüsseln für eine regionale Verteilung. Doch es existiere keine Planung, bei der ersichtlich wird, wie sich die Bevölkerungsstruktur und die Art der ärztlichen Behandlung in Thüringen entwickelt, pflichtete ihm Krankenkassen-Chef Dressel bei: "Da haben wir in der Tat noch weiße Flecken". Und genau das würde besonders vor der anstehenden Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) benötigt.

KVT-Chefin Rommel erklärte dies praktisch bei den so oft fehlenden Augenärzten. Auf dem Gebiet der Augenheilkunde habe es große medizinische Fortschritte gegeben. So kann eine Makula-Degeneration, die oft ab den 50-er Jahren die Sehkraft stark verringern kann, inzwischen operiert werden. Doch genau das führt zu Problemen bei der Ärzteversorgung: Während in einer Region zu viele Augenärzte operieren und zu wenig konservativ, also ohne zu operieren, behandeln, sei es in einer anderen Region genau umgekehrt. Doch insgesamt gebe es trotzdem gar keinen Mangel an Augenärzten.

Warum in Deutschland so oft der Arzt besucht wird

Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht jeder Deutsche im Jahr durchschnittlich fast zehn Mal zum Arzt. In anderen Industrieländern sind es dagegen im Schnitt weniger als sieben Besuche im Jahr. Was ist der Grund für den erheblichen Unterschied?

Der Erfurter Hausarzt und Kardiologe, Christoph Rödiger, berichtet: In Deutschland gebe es mehr Prophylaxe-Programme, um später höhere Kosten zu vermeiden. Dazu komme ein höheres Gesundheitsbewusstein der Menschen durch die Corona-Pandemie.

Doch TK-Chef Dressel verwies vielleicht auf das entscheidende Problem, warum sich Menschen in anderen europäischen Ländern weniger häufig einen Arzt aufsuchen. Der Unterschied sei, dass woanders statt des Arztes oft medizinische Fachangestellte entsprechende Leistungen übernehmen. Doch das würde aktuell zu wenig vergütet, verwies Rödiger. Er könne seine Mitarbeiter gar nicht dafür bezahlen, dass sie wie annodazumal "Schwester Agnes" über die Dörfer fahren, um den Blutdruck zu messen oder Wunden zu versorgen. Und so suchten Patienten in Deutschland sofort einen Arzt auf. Dieser Analyse stimmte Gesundheitsministerin Werner zu. Doch Lösung konnte sie keine anbieten und nur vertrösten: Es sei noch ein langer Weg bis zu "Schwester Agnes".

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Ein weiteres Problem, warum wenig junge Ärzte sich selbstständig machen, sprach Hautärztin Durrant-Finn an: "Ich bin ja nur Ärztin", erklärte sie. Weder habe sie eine wirtschaftliche noch eine Finanzausbildung. Und genau da "hängt noch ein Schwanz von Arbeit dran": Überbordende Bürokratie oder oft nicht ausgereifte Digitalisierung bei E-Briefen, E-Akte, E-Rezepten.... Bei Ärzten kommt immer nur an: "Wir müssen, wir müssen, wir müssen", klagte sie. Die Ostthüringerin fühlt sich von Verwaltung und Politik bei vielen Dingen allein gelassen.

Gesundheitsexperte Schmid unterstützte diese Kritik: Zwar könne ein Arzt immer noch gut verdienen. Aber eine Praxis zu führen, sei inzwischen hochkomplex. Ein junger Arzt möchte aber oft nicht noch Abrechnungs- und IT-Experte sein.

Was Land und Ärzteschaft gegen den Ärztemangel in Thüringen unternehmen

Um dem Mangel zumindest in Teilen zu begegnen, nannten die Gäste im Laufe des Abends mehrere Ansätze. Thüringens Gesundheitsministerin Werner verwies darauf, dass neue oder übernommene Arztpraxen in unterversorgten Regionen gefördert werden. Laut der Ministerin wurden in den vergangenen Jahren 79 Praxen in Thüringen unterstützt. Doch dies reiche keinesfalls aus, um eine Praxis vollständig zu sanieren und die nötige PC-Ausstattung zu kaufen, wie der Erfurter Arzt Christoph Rödiger auf Nachfrage bestätigte.

KVT-Chefin Rommel verwies zudem auf die Stiftungs-Praxis, mit der neue Ärzte für ihre Praxen bei Ausstattung, Personalsuche oder Verwaltungsprozessen unterstützt werden. Außerdem würden angehende Ärzte mit einer "Niederlassungs-Fahrschule" oder in Team-Praxen darauf vorbereitet, eine eigene Praxis zu übernehmen. "Das läuft sehr gut", erklärte Rommel.

Schließlich soll neben einem Ärzte-Scout, der bereits an der Uni Jena für ambulante Medizin wirbt, ein geplantes "Hausärztesicherstellungsgesetz" mehr Thüringer Medizinstudierenden davon abhalten, den Freistaat nach dem Studium zu verlassen. Nicht mehr nur die Abiturnote, also der Numerus Clausus, soll entscheidend sein, ein Medizinstudium an der Uni Jena aufnehmen zu können. Ein Kriterium soll künftig auch soziales Engagement sein, aber vor allem auch die Verpflichtung, nach dem Studium zehn Jahre in Thüringen zu praktizieren. Doch das Gesetz, das es in Sachsen schon gibt, soll erst Ende nächsten Jahres in die Praxis umgesetzt werden. Und die Opposition, auf deren Stimmen die rot-rot-grüne Landesregierung bei der Verabschiedung im Landtag angewiesen ist, hat schon Kritik angemeldet.

Aus dem Medizin-Studium in Jena berichtete die Ostthüringer Studentin Lena-Sophie Lehmann zwar, dass an der Uni Jena relativ früh auch auf eine Perspektive als niedergelassener Arzt eingegangen wird. Doch orientierten sich die meisten Studierenden weiter auf eine spätere Tätigkeit in einer Klinik - allein schon, weil das Studium fast nur an der Uni-Klinik stattfindet, ergänzte Medizin-Studentin Lea Thiede, die von der Ostsee an die Saale zum Studieren zog.

Es wird kein kollabierendes Gesundheitssystem geben.

Gesundheitsökonom Andreas Schmid

Allen Widrigkeiten und Problemen quasi zum Trotz: Gesundheitsökonom Schmid blieb am Abend optimistisch: Es werde zwar nicht die Einzelmaßnahme geben, die den Fachärztemangel in Thüringen löst, sondern es müsse ein Bündel an Maßnahmen geben. Doch grundsätzlich sei das Gesundheitssystem in Deutschland gut: "Es wird kein kollabierendes Gesundheitssystem geben." Nur manchmal müsse der Druck einfach erst groß genug werden, damit sich die Berufspolitik sich bewegt - und nicht jedes Mal von Neuem nur von Wahlperiode zu Wahlperiode denkt, wie Ärztevertreterin Rommel kritisierte. Und auch jeder Einzelne kann zur Lösung beitragen. Der Appell von Schmid: "Wir brauchen mehr Selbstverantwortung für unsere Gesundheit." Und weil übertreiben oft auch anschaulich macht: Nicht jeder mit einem Schnupfen müsse gleich in eine Notaufnahme.

Das sagen unsere User:

Es gab reichlich eigene Erfahrungen (Hobby-Viruloge007: "wegen fehlendem Budget behandle ich sie nicht; man soll nicht anrufen, sondern 50 km fahren, da man per Telefon keine Chance hat"; Bria21: "zahnärztlicher Bereitschaftsdienst in 40km Entfernung"; Doreen Nestler: "kein freier Rhematologe in 100km Umkreis) - und Meinungen dazu: Eddi58 kritisierte die Kassenärztliche Vereinigung: "Diese ist offensichtlich nicht bereit und/oder in der Lage die Versorgung sicher zu stellen!", wobei aus seiner Sicht das Hauptproblem die Verteidigung der Trennlinie zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sei. Die Politik könne nur appellieren. "Noch ist der Leidensdruck nicht groß genug für grundlegende Änderungen." Wagner vermutete Ärtzereserven beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen: "Jeder zweite von dort aufs Land - dann ist ein Teil der Miete schon drinnen." Für AlexLeipzig würde der Hausarzt-Beruf attraktiver, "wenn man von den Fallpauschalen abkommt und die erbrachte Leistung vergütet." Aus seiner Sicht sollten mehr bisher nur fachärztliche Leistungen auch von Hausärzten abgerechnet werden dürfen. Denkschnecke wandte dazu ein, dass nach den Erfahrungen aus der Zeit vor Einführung der Fallpauschalen dann "viel zu viele Behandlungen verschrieben und abgerechnet wurden und die Kosten des Gesundheitssystems außer Kontrolle gerieten." Auch Altmeister 50 setzte beim Finanziellen an: "Warum nimmt man sich nicht Elemente und Anreizsysteme der privaten Krankenversicherung zum Vorbild?" und meint damit, dass bei einem jährlichen Eigentanteil von bis zu 1.000 Euro der Beitrag niedriger ausfalle. 123alledabei forderte mehr Eigenverantwortung: "Es muss prinzipiell umgedacht werden, dass nicht wegen jedem kleinen Wehwehchen zum Arzt gerannt wird."

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MDR (rom)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | FAKT IST! aus Erfurt | 04. September 2023 | 22:10 Uhr

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