Tag-X
Am "Tag X" am 3. Juni 2023 wurden 1.300 Menschen durch die Polizei in Leipzig gekesselt. Die Daten der Gekesselten wurden gespeichert. Das soll nun überprüft werden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Investigativ-Recherchen "Tag X": Verfassungsschutz speichert Personendaten aller Eingekesselten

29. September 2024, 16:00 Uhr

Der 3. Juni 2023 ist als "Tag X" in die Geschichte eingegangen. Damals wollten in Leipzig Hunderte gegen die Verurteilung der Linksextremistin Lina E. demonstrieren. Das wurde jedoch untersagt, ebenso eine Ersatzveranstaltung. Es kam zu Gewaltausschreitungen, am Ende wurden mehr als 1.000 Menschen von der Polizei über Stunden eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt. Die gespeicherten Personendaten sollen jetzt auf Rechtmäßigkeit überprüft werden.


Juni 2023: Mehrere tausend Menschen versammeln sich in der Leipziger Südvorstadt, um gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden gegen Lina E. und drei Männer wegen Bildung und Unterstützung einer linksextremen kriminellen Vereinigung zu demonstrieren. Darunter sind auch linksextreme und linksradikale Gruppen. Eine zuvor angemeldete Demonstration auf dem Alexis-Schumann-Platz wird von der Stadt Leipzig als Ersatzveranstaltung eines befürchteten "Tag X" untersagt.

Am Rande dieser untersagten Demonstration kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Autonome greifen die Polizei an. Diese kesselt im Gegenzug ab dem frühen Abend mehr als 1.300 Menschen jeglicher Couleur ein, um deren Personalien aufzunehmen und sie erkennungsdienstlich zu behandeln. Darunter Anwohner, Schaulustige, Jugendliche und Kinder. Es dauert bis in die frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages, bis die letzten Personen die Maßnahme verlassen haben. 

Menschen stehen eng beiander an einem Platz. Ringsherum sind Polizisten, Polizeiautos und Rettungswagen zu sehen.
Am 3. Juni 2023 - dem sogenannten Tag X - wurden in Leipzig mehr als 1.300 Menschen von der Polizei eingekesselt. Bildrechte: Konstantin Henss

Verfassungsschutz ordnet alle Eingekesselten als Linksextreme ein

Nun ist klar: Das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) stuft alle Menschen, die am 3. Juni in der "Umschließung" (Behördenbezeichnung der Maßnahme) gelandet waren und ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Sachsen haben als "linksextrem" ein. In einer Antwort des LfV an das Rechercheportal "FragDenStaat", die der MDR einsehen konnte, heißt es dazu: "Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen hat zum Stichtag 20. September 2024 insgesamt 589 Personen mit einer personenbezogenen Eintragung im NADIS vermerkt."

Was ist NADIS? NADIS steht für "Nachrichtendienstliches Informationssystem" und ist ein Datenverbund des Bundesamtes und der Landesbehörden für Verfassungsschutz. Die Hinweisdatei dient zur Identifizierung einer Person, Organisation oder eines Sachverhaltes und dem Auffinden von Aktenfundstellen. Eine Speicherung im NADIS darf nur aufgrund der in den Verfassungsschutzgesetzen definierten gesetzlichen Regelungen erfolgen. Quelle: Sächsisches Landesamt für Verfassungsschutz

Zwei Gründe für die Speicherung

Das LfV nennt in seiner Antwort an "FragDenStaat" zwei maßgebliche Gründe für das Vorgehen. Zum einen hätten die betroffenen Personen durch ihre Anwesenheit in der Menschenmenge, die später umschlossen wurde, die autonome Szene unterstützt.

Das LfV wertet dieses Verhalten als aktive sowie ziel- und zweckgerichtete Unterstützung der autonomen Szene.

Landesamt für Verfassungsschutz

Dazu heißt es in der Antwort des LfV: "Sie [die Personen, deren Daten von der Polizei aufgenommen wurden – Anm. d. Red.] haben sich trotz der mehrfachen polizeilichen Aufforderungen nicht von der Menschenmenge entfernt, aus der schwere Gewalttaten begangen worden sind. Wer Teil einer Menschenmenge bleibt, aus der Gewalttaten begangen werden, leistet der Begehung der Gewalttaten Vorschub. […] Die Menschenmenge bietet das Publikum, welches die Gewalttäter oft suchen. Wer sich also bei Gewalttaten, die aus einer Menschenmenge heraus von Mitgliedern der autonomen Szene begangen werden, nicht sofort und nachhaltig von der Menge oder den Gewalttätern distanziert, unterstützt damit die linksextremistische Gewalt der autonomen Szene." Zusammengefasst heißt es: "Das LfV wertet dieses Verhalten als aktive sowie ziel- und zweckgerichtete Unterstützung der autonomen Szene."

Für die Speicherung der Daten sei ebenfalls relevant, dass die Staatsanwaltschaft Leipzig gegen die Betroffenen im Zusammenhang mit dem Einsatz Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes des besonders schweren Landfriedensbruches eingeleitet habe. "Die Tatsache, dass und wegen welchen Vorwurfes gegen die Betroffenen ermittelt wird, ist von der Staatsanwaltschaft an das LfV weitergeleitet worden", heißt es in der Antwort des LfV an "FragDenStaat" weiter.

Klage gegen das Landesamt für Verfassungsschutz

Dass das LfV überhaupt öffentlich erklärt, wie viele Personen es nach dem "Tag X"-Geschehen im NADIS gespeichert hat, hängt mit einer Klage des Portals "FragDenStaat" zusammen. Dieses hatte das LfV im April 2024 auf Beantwortung offener Fragen verklagt, nachdem sich die Behörde zunächst geweigert hatte, zu erklären, wie viele Personendaten gespeichert wurden. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen gab "FragDenStaat" nun recht.

Der verantwortliche Investigativ-Journalist Aiko Kempen erklärt dem MDR, dass es gut sei, dass das Oberverwaltungsgericht "dem Verfassungsschutz und seiner Geheimniskrämerei klare Grenzen aufgezeigt" und ihn an die Bedeutung der Pressefreiheit erinnert habe. "An die Grundrechte muss sich auch der Geheimdienst halten", ergänzt er.

Prüfung angekündigt

Unterdessen hat Juliane Hundert, die Datenschutzbeauftragte des Freistaats Sachsen, eine Überprüfung der gespeicherten Datensätze angekündigt.

Wir werden (...) nachfragen, auf welcher Rechtsgrundlage (...) die Datenverarbeitungen vorgenommen wurden.

Juliane Hundert Sachsens Datenschutzbeauftragte

Dem MDR teilt sie mit, dass das "eine sehr hohe Zahl an Übermittlungen" sei. "Wir werden uns an die Staatsanwaltschaft/Polizei und das LfV Sachsen wenden und nachfragen, auf welcher Rechtsgrundlage und welche Tatsachen gestützt die Datenverarbeitungen (Übermittlung, Speicherung) vorgenommen und welche Kriterien für die Prüfung der Erforderlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit herangezogen wurden."

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