Theaterkritik "Niederwald" von Wolfram Höll feiert am Schauspiel Leipzig Premiere
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18. Dezember 2023, 16:32 Uhr
"Niederwald", das neue Stück des Dramatikers Wolfram Höll, ist ein Auftragswerk des Leipziger Schauspiels. Das Stück erzählt eine Familiengeschichte, die sich zwischen ehemaliger DDR und einem Schweizer Alpendorf abspielt. Dabei werden so große Themen wie der Klimawandel, die Suche nach Wurzeln und die Unsicherheiten der Gegenwart verhandelt. Während Hölls Text bei MDR KULTUR-Kritiker Stefan Petraschewsky für viel Begeisterung sorgt, überzeugt ihn die Regiearbeit nicht.
- Das Stück "Niederwald" von Wolfram Höll wurde am Schauspiel Leipzig uraufgeführt.
- Es erzählt eine Familiengeschichte und thematisiert die großen Veränderungen und Unsicherheiten der Gegenwart.
- Die Handlung spielt im Deutschland der Nachwendezeit und in einem Alpendorf in der Schweiz.
Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, ist ein ausgezeichneter Dramatiker. Zweimal hat er mit Stücken, die am Leipziger Schauspiel uraufgeführt wurden, den Mühlheimer Theaterpreis gewonnen. Am Wochenende kam sein neues Stück zur Premiere, wieder am Leipziger Schauspielhaus. Es heißt "Niederwald", benannt nach einem Bergdorf in den Schweizer Alpen. Höll fragt darin nach unseren Wurzeln; danach, was uns prägt. Das Stück thematisiert unsere Zeit der großen Veränderungen: den Klimawandel, das Zusammenleben der Kulturen - ein Stück über das Leben in Zeiten großer Verunsicherungen.
Nachwende-Deutschland und Schweizer Alpendorf als Schauplätze
Die Geschichte spielt zum einen Teil hierzulande, in der Nachwendezeit, die geprägt ist durch die DDR-Zeit. Zum andern spielt sie in einem abgelegenen Dorf in den Alpen: in Niederwald. Den Ort gibt es tatsächlich. Im Rhonetal, südlich des Aletschgletschers. Verbunden werden die Geschichten beziehungsweise Orte durch eine geplante Heirat und ein Kind.
Das Stück beginnt am Vorabend der Hochzeit. Die Braut wird geraubt, ein altes Ritual, aber hier geht es schief. Das Auto mit der geraubten Braut fährt gegen einen Baum. Aus der geplanten Hochzeit wird unversehens eine Beerdigung. Zuvor, im letzten Moment, schnappt sich der Bräutigam und Vater das Baby, das uneheliche Kind, und fährt mit seiner Großmutter in besagtes Alpendorf, wo die Braut, Katharina, herstammt. Es ist seine Art der Trauerarbeit.
Niederwald ist ein uraltes Dorf. Es sind uralte Lebensweisen, die dort von zwei Urgroßtanten, Alice und Anna, ins Spiel kommen. Im Alpendorf ist es dann auch eine Geschichte der Annäherung. Die drei Fremden aus Deutschland werden kritisch beäugt, wie sie sich hier ansiedeln wollen. Hier im Alpendorf erfährt die Tochter auch, dass Mutter Katharina Selbstmord begangen hat. Der Vater rekapituliert ihre Worte: "Ich will das alles nicht. Kümmer du dich!" Das Ende ist dann offen. Die Tochter fährt zurück nach Deutschland, zurück in eine moderne, urbane Arbeitswelt. Der Vater bleibt zurück. Es ist nicht klar, ob er auch Selbstmord begehen wird.
Klimawandel: Schmelzender Gletscher und Baumsterben
Der Geschichte sind zwei heutige Themen eingeschrieben: Zum einen das Thema einer Welt, die sich stark verändert. Stichwort Klimawandel. Hier ist es der Aletschgletscher, der schmilzt. Angestammte Baumarten, Lärchen, kümmern vor sich hin. Neue Bäume, Eichen, breiten sich aus. Das zweite Thema ist so ein Auf und Ab der Lebensumstände, die die Menschen prägen.
Es wird über sechs Generationen erzählt. Die Familiengeschichte, die offenkundig in der Chemieregion Mitteldeutschland spielt, beginnt um 1890 herum, als die Großmutter der "Uroma", wie sie im Stück bezeichnet wird, geboren wird. Die Großmutter nimmt die damals junge Uroma, die etwa 1935 geboren sein dürfte, in die Arme, hebt sie ans Fenster, und zeigt ihr, wie Deutschland bombardiert wird. Sie sagt: "Schau hin und merk dir, was wir Deutschen gemacht haben." Die, die das gemacht haben, die Eltern-Generation zwischen der Oma und der jungen Uroma, die Generation, die in das dritte Reich hinein geboren wird - das ist hier eine Leerstelle.
DDR- und Nazi-Zeit als Leerstellen
Nach dem Krieg macht die Uroma Karriere, wird Kulturleiterin in einem VEB. Und interessanterweise spielen dann die Kinder der Uroma, die in der DDR aufwachsen, die um 1950 herum geboren sind, auch keine Rolle. Die zweite Leerstelle. Warum diese beiden Leerstellen? Ausgerechnet dort, wo zwei Generationen intensiv das Dritte Reich und die DDR erlebt haben?
Offenkundig kommen hier Aufstieg und Fall einer Gesellschaftsordnung, kommen Ideologien ins Spiel. Die Uroma, die als Kind den Krieg erlebt hat, identifiziert sich mit der DDR und baut einen sozialistischen Staat mit auf: eine Erfolgsgeschichte.
Der Vater hingegen, der in die Nachwendezeit hineinwächst, seine Braut Katharina, die sich "nicht kümmern" will und Selbstmord begeht – das ist eine Generation, der eine Idee fehlt, die nicht mehr weiß, was sie auf dieser Welt soll, die auf der Suche nach ihren Wurzeln scheitert. Erst eine neue Generation, die Tochter, schafft vielleicht einen neuen Aufbruch. Hölls Stück variiert die These, dass das Sein das Bewußtsein bestimmt.
Kostüme passend zum Charakter
Die Uroma wird übrigens von einem Mann gespielt. Der obendrein aussieht wie 40 Jahre alt. Thomas Braungardt spielt die Uroma mit geradem Rücken, aufrecht, mit sehr viel Haltung. Er, beziehungsweise sie trägt vom Blazer über den Rock bis zu den Stiefeln Kleidung mit Blumenmuster, wie wir es von Dekokissen auf dem Sofa kennen. Der Vater, Markus Lerch: Loden-Mantel und Trachten-Schuhe. Aber auch eine kurze Hose. Er ist einer, der nicht wirklich erwachsen geworden ist und sich in eine neue, schweizer Heimat hüllen will. Es sind Kostüme, die viel über den jeweiligen Charakter aussagen.
Die Besetzung ist gut ausgesucht. Besonders gut hat mir Anne Cathrin Buhtz gefallen, eine der Urgroßtanten, weil sie am besten dieses Textkunstwerk zu sprechen weiß. Höll schreibt nämlich in einer anderen Struktur, in Spalten und nicht wie üblich in Zeilen. Das hat den Vorteil, dass die einzelnen Figuren, deren Stimmen, viel stärker ineinandergreifen können. Das ist fast schon Musik. Bei Höll ist vieles Klang, Wortspiel, Lautmalerei. Auch hier. Buhtz hat viel Farbe in der Stimme, auch Rhythmus und Dynamik – eine Höllstimme möchte man sagen.
Kritik an Inszenierung von Regisseurin Elsa-Sophie Jach
Das Bühnenbild ist wie eine Zwiebel. Die Figuren arbeiten sich durch die vielen Häute in die Mitte. Die Zwiebelhäute sind hier Vorhänge, auf die tatsächlich ein Alpenpanorama aufgemalt ist. Im Inneren der Zwiebel schwebt eine Kugelleuchte wie ein Mond, wie ein Planet. Tatsächlich ist das Universum als letztendliche Heimat auch Thema. Auf den Bergen, dem Himmel so nah, ein Blick hinauf: Wo kommen wir her? Das Bühnenbild ist für den Text angemessen und funktioniert gut. Beides, Bühnenbild und Kostüme, sind von Aleksandra Pavlović.
Unangemessen ist die Regie von Elsa-Sophie Jach. Sie versucht in jedem Moment, etwas anderes zu inszenieren, als das, was im Text thematisiert ist. Warum macht sie das? Fehlt ihr das Vertrauen in den Text? Das wäre hier Hybris. Will sie eine "Regiekunst" gegen den Text behaupten? Tut das not? Wäre das nicht eher ein Beweis dafür, dass der Regisseurin Souveränität fehlt?!
Durch die Regie kommen die Fragen nach Sein und Bewusstsein nicht zum Tragen. Die VEB-Hauptsache wird zur Anekdote und der Lächerlichkeit preisgegeben. Jachs Regie wirkte verkrampft und bemüht. Die Totalverweigerung gegenüber einem Uraufführungstext ist eine Regie-Marotte und der Wermutstropfen an diesem Abend.
Angaben zum Stück (zum Aufklappen):
Niederwald (UA)
von Wolfram Höll, Auftragswerk des Schauspiel Leipzig
Regie: Elsa-Sophie Jach
Bühne & Kostüme: Aleksandra Pavlović
Musik: Max Kühn
Dramaturgie: Georg Mellert
Besetzung: Teresa Schergaut, Isabel Tetzner, Markus Lerch, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz und Paulina Bittner
Uraufführung am 16. Dezember 2023, Diskothek
Weitere Termine:
20. Dezember 2023, 20 Uhr
26. Dezember 2023, 20 Uhr
21. Januar 2024, 20 Uhr
30. Januar 2024, 20 Uhr
Redaktionelle Bearbeitung: lig
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. Dezember 2023 | 08:40 Uhr