Gabi Edler hilft seit über 30 Jahren Obdachlosen und bedürftigen Menschen
Gabi Edler hilft seit über 30 Jahren Obdachlosen und bedürftigen Menschen. Bildrechte: MDR / Thomas Kasper

Obdachlose Tante E. – ein Leben für die Straßenkinder

15. März 2023, 05:00 Uhr

Es gibt kaum einen obdachlosen Menschen in Leipzig, der sie nicht kennt: Gabi Edler besser bekannt als "Tante E". Seit über 30 Jahren kümmert sie sich um Straßenkinder und gestrauchelte Jugendliche – mit warmen Mahlzeiten, Kleidung und noch viel mehr Unterstützung. Jetzt wird sie 80 Jahre alt. Doch aufhören will sie nicht, denn sie glaubt, dann könnte ihr Lebenswerk bröckeln.

Armut zu bekämpfen, das ist möglich. Davon ist Gabi Edler überzeugt – mit mehr Gemeinsinn und weniger Egoismus. "Wenn jeder nur ein kleines Bisschen machen würde, würde es keine Armut geben", sagte die Frau einmal, die weit über Leipzig hinaus als Tante E. bekannt ist. Alle könnten von ihr nicht gerettet werden, den Zahn habe sie sich ziehen lassen. "Aber nur ein paar!" Sie kämpft für jeden Einzelnen – seit Jahrzehnten.

Bis heute betreibt Gabi Edler in der Nähe der Eisenbahnstraße in Leipzig ein "Straßenkinder"-Café. Der Name ist inzwischen etwas irreführend, denn die Gäste sind älter geworden. Eigentlich war der Laden für Kinder ab 14 und jungen Erwachsene bis 27 Jahre gedacht.

"Ich komme schon bestimmt seit zehn Jahren her", sagt der 35-jährige Steve und lächelt. Für den Obdachlosen ist das Café mit den türkisen Wänden eine der wenigen Konstanten in einem brüchigen Leben. Vor ihm steht ein Teller Linsen, daneben ein Kaffee. Das Essen und auch Kleidung gibt es hier kostenlos. Das ist einzigartig in Leipzig und auch über die Messestadt hinaus eine Seltenheit.

"Früher hatte ich auch viele Kleine gehabt, am Anfang. Darf ich nicht mehr", erklärt Tante E. mit rauer Stimme, zuckt mit den Schultern und senkt den Blick. Früher hatte Gabi Edler noch weitaus mehr mit Straßenkindern gearbeitet. Vor 20 Jahren gründete sie in Grünau einen Verein und eröffnete in der Plattenbau-Siedlung ihr erstes Straßenkinder-Café – eine Anlaufstelle für Kinder ohne zu Hause. "Und in dieser Szene braucht man sehr, sehr lange, dass die Kinder auch Vertrauen finden", erklärte sie damals. "Denn sie sind ja sehr scheu. Sie haben ja schlimme Erfahrungen gemacht, gerade mit Erwachsenen."

Am Anfang hat sie viele Kinder in ihrer Wohnung aufgenommen

Das hat Gabi Edler bereits unmittelbar nach der Wende sehen müssen. Direkt vor dem Fenster des Wohnzimmers ihrer Wohnung in Grünau stand ein Abrisshaus. "Da waren Kinder drinnen. Ich dachte immer, die spielen dort nur am Tage. Aber abends saßen die immer noch da", erzählt sie heute und schaut wieder aus dem Fenster. Die Zehn- und Elfjährigen hätten dann zu ihr gesagt: "Wir können nicht nach Hause. Wir dürfen nicht. Also die tollsten Sachen."

Gabi Edler wollte helfen. Sie besorgte Matratzen, so viele wie möglich. Diese legte sie überall in ihrer kleinen Wohnung hin. "Und da haben die dann überall geschlafen", sagt Tante E.. Ihre Augen wandern über den kompletten Fußboden. "Das waren 20 Kinder." Es ist der Anfang ihrer Hilfe für Menschen und Kinder in schwierigen Situationen. 

Da waren Kinder drinnen. Ich dachte immer, die spielen dort nur am Tage. Aber abends saßen die immer noch da.

Gabi Edler über ein Abrisshaus

Die Kinder lebten dann zeitweise bei ihr: "Die sind nicht mehr rüber. Denen ging es gut", sagt Tante E. und lächelt. Sie haben bei ihr gegessen und sich auch ordentlich gewaschen. So vergingen ein paar Monate, bis das Jugendamt diese Praxis dann verboten habe, erzählt sie uns. Gabi Edler gründete dann später zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Straßenkinder-Verein. Sie kündigte ihren Job als Straßenbahnfahrerin bei den Leipziger Verkehrsbetrieben und steckte das gesamte Geld, das sie als Abfindung bekam, in den Aufbau ihres Vereins.

Sich um Menschen kümmern mit vielen Problemen

Es ist bis heute viel Arbeit: Spenden, Kleidung und Essen organisieren. Sich um die Menschen kümmern, die ganz unterschiedliche Probleme haben: Alkohol- und Drogenabhängigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, Depressionen, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit oder emotionale Vernachlässigung durch die Eltern.

Hinzu kamen auch Rückschläge – für den Verein und persönliche für Gabi Edler.  Doch Tante E. hat sich nie unterkriegen lassen – auch nicht 2005, als ihr Straßenkinder-Café in Grünau einem Brandanschlag zum Opfer gefallen ist. Sie stand inmitten der schwarz-verrußten Räume. Der Gestank des Feuers hängt noch in den geschmolzenen Resten des Cafés. Sie sagte: "Nur rangeschafft und gebettelt und gemacht, dass das klappt." Behördengänge, Genehmigungen, Möbel. "Und dann ist in ein paar Stunden alles kaputt." Doch es geht weiter. Nur wenige Monate später eröffnete Tante E. mit ihrem Verein ein neues Straßenkinder-Café – am aktuellen Standort in der Rosa-Luxemburg-Straße.

Ein Schützling: Mit 18 Jahren auf der Straße gelandet

Einer, um den sich Tante E. bis heute kümmert, ist Jan. Als MDR Investigativ ihn 2017 das erste Mal traf, war er gerade 18 geworden – und lebte in einem Obdachlosenheim. Sein Auftreten und seine Art wirkten kindlich. Er war noch ein Junge und musste mit fünf alten, meist alkoholisierten Männern in einem Raum übernachten. Jan ging regelmäßig ins Straßenkinder-Café, um etwas zu essen. Tante E. war seine Rettung.

Als Jan mit 18 auf der Straße landete, war Tante E. seine Rettung.
Als Jan mit 18 auf der Straße landete, war Tante E. seine Rettung. Bildrechte: MDR/ Thomas Kasper

"Auf die Tante E. bin ich halt gekommen, durch die Bundespolizei, weil ich halt Hilfe brauchte, weil ich halt Hunger hatte", berichtete der junge Mann. Jan wuchs in Kinder- und Jugend-WGs auf. Versuchte mehrfach sich etwas anzutun. Als er erwachsen wurde, stieg das Jugendamt aus seiner Betreuung aus, auch weil der Umgang mit Jan schwierig und sehr konfliktbeladen war. Tante E. füllte diese Lücke. Nur kurze Zeit nach dem ersten Bericht von MDR Investigativ über Jan, hat der junge Mann eine eigene Wohnung gefunden. Er versucht weiterhin, im Leben Fuß zu fassen.

Auf die Tante E. bin ich halt gekommen, durch die Bundespolizei, weil ich halt Hilfe brauchte, weil ich halt Hunger hatte.

Jan wurde mit 18 obdachlos

Straßenkinder-Verein finanziert sich ohne Fördermittel

Neben Essen und Kleidung wird im Straßenkinder-Café auch Hilfe bei Behördengängen, bei der Suche nach Wohnraum und nach Ausbildungsplätzen angeboten – fast 100 Kinder hat Tante E. bereits in eine Lehre bringen können, sagt sie. Der Laden ist zudem jeden Tag geöffnet, auch am Wochenende oder an Feiertagen. Auch das ist eine Seltenheit. Aber Not gibt es nicht nur Montags bis Freitags . Im Verein arbeiten zwei Sozialarbeiterinnen, zwei Sozialarbeiter und eine Sozialpädagogin.

In Leipzig arbeiten 82 Träger der Freien Kinder- und Jugendhilfe, also Vereine und kirchliche Einrichtungen, die für ihre Tätigkeit Geld von der Stadt Leipzig bekommen. Insgesamt sind im Budget der Stadt immerhin knapp 17 Million Euro jährlich dafür eingestellt. Der Straßenkinder-Verein von Tante E. wird nicht bezuschusst. Der Verein hatte vor Jahren beschlossen, keine Fördermittel mehr zu beantragen, sondern sich vollständig durch Spenden zu finanzieren. Dadurch hielte sich der bürokratische Aufwand in Grenzen und man könne sich besser auf die eigentliche, soziale Hilfe konzentrieren.

Tante E.: Helfer-Syndrom von der Mutter geerbt?

Gabi Edler fokussiert sich auf "ihre Kids" – und das den ganzen Tag. Schichtarbeit und das frühe Aufstehen ist sie auch von ihrer Arbeit als Straßenbahnfahrerin gewohnt. Das hat sich bis heute nicht geändert: "Ich stehe meistens so um Fünfe, halb Sechs auf, mache alles bei mir fertig und dann fahren wir jeden Dienstag, Donnerstag, Sonnabend Essen holen." Da sei sie lange unterwegs. "Und heute muss ich um Drei noch einmal zu West Inn, Essen holen, weil die immer was übrig haben", erklärt sie.

Dieses Helfer-Syndrom stecke bei ihr schon immer drin: "Mich hatten sie ja drei Jahre eingesperrt. Weil ich alles mitgemacht habe", vertraut Gabi Edler dem MDR-Reporter Thomas Kasper an. Sie habe allen geholfen, die weg wollten aus der DDR. Dafür wurde sie in Berlin ins Gefängnis gesteckt. Dennoch: Auch später, auf ihrer Arbeit, sei es dabei geblieben.

Offenbar haben die nun 80-Jährige die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen geprägt. Gabi Edler mag das gar nicht so analysieren: "Weiß ich nicht", sagt sie dazu. Tante E. wisse nur noch, dass ihre Mutter damals auch Kinder versorgt habe, weil viele ihre Eltern verloren hatten. "Und das hängt bestimmt an mir, denke ich mal."

Kampf mit Krankheiten – aber sie macht weiter

Doch inzwischen hat auch Gabi Edler mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen – hat eine Krebserkrankung überstanden und Herzinfarkte erlitten. Ihr Mann hilft bei der täglichen Spritze wegen Diabetes. 60 Jahre Arbeit fordern ihren Tribut. Doch ans Aufhören denkt sie deshalb noch lange nicht. Das liegt auch daran, dass viele Spenden für den Verein eng mit ihrem Bekanntheitsgrad zusammenhängen.

Bei den erwachsenen "Straßenkindern", Obdachlosen und anderen Hilfsbedürftigen genießt Tante E. inzwischen so etwas wie Kult-Status. Erst vor Kurzem hat sie ein Künstlerkollektiv aus Spanien mit einem Graffiti verewigt: Auf einem überlebensgroßen Portrait strahlt sie - an einer Hauswand in der Leipziger Innenstadt. "Sind die denn verrückt?", sagt Tante E. dazu erstaunt. Das Graffiti soll eine inoffizielle Ehrung für eine Frau sein, die heute von manch einem "Mutter Theresa von Leipzig" genannt wird. Am Mittwoch wird sie 80 Jahre alt.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | exakt - die Story | 15. März 2023 | 20:15 Uhr

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