Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichten Museums Leipzig, steht im historischen Kaffeehaus „Zum Arabischen Coffe Baum“. 3 min
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Interview Anselm Hartinger: "Den gemeinorientierten Geist brauchen wir auch heute"

09. Oktober 2024, 21:09 Uhr

"Freiheit heißt auch Verantwortung", sagt Anselm Hartinger, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig. Er hat als 18-Jähriger die Friedliche Revolution vor 35 Jahren in Leipzig miterlebt, an die das Lichtfest erinnert. Wie blickt er darauf zurück und welche Bedeutung hat dieses Ereignis für die Stadt? MDR SACHSEN hat mit ihm gesprochen.

MDR: Welche Bedeutung hat der 9. Oktober Tag für Ihre Stadt?

Anselm Hartinger: Für mich als jemanden, der in Leipzig geboren und aufgewachsen ist und der die Ereignisse vom Herbst '89 live in meinem zwölften Schuljahr erlebt hat, ist das eine ganz bewegende Zeit. Und ich bin voller Respekt und Dankbarkeit für die Menschen, die damals in großer Zahl den Mut hatten, tatsächlich um den Ring zu gehen. Menschen, die an diesem 9. Oktober alles riskiert haben und die damit sozusagen den entscheidenden Schritt gegangen sind, um die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Tanzen zu bringen.

Ich bin voller Respekt und Dankbarkeit für die Menschen, die damals in großer Zahl den Mut hatten...

Anselm Hartinger

Wie haben Sie diese Zeit mit 18 Jahren erlebt?

Ich habe damals mein 12. Schuljahr gemacht und es war eine unglaublich turbulente Zeit. Und gerade am 9. Oktober gab es eine starke Mobilmachung. Da kamen die Lehrer in die Klasse und sagten: "Wer heute zur Demo geht, fliegt von der Schule. Und geschossen wird sowieso." Es gab auf der Schulwandzeitung vorgetäuschte Briefe von Werktätigen, die sagten, wir müssen diesen konterrevolutionären Spuk beenden. Auch in der Stadt hat man das gesehen: überall Einsatzkräfte in den Seitenstraßen, an den Brücken.

Zugleich hat man aber auch gemerkt, dass es eine ganz starke, produktive Verzweiflung in der Bevölkerung nach dem Motto gab: "Wir wollen nicht mehr, dass die Stadt verfällt. Wir wollen nicht, dass keinerlei freie Meinungsäußerung mehr möglich ist."

Viele wollten ausreisen. Viele wollten das Land verändern. Man merkte die Wochen vorher, dass sich so eine Entscheidungssituation anbahnt. Und gottlob ist es dann in einer friedlichen Weise ausgegangen.

Das Archivbild vom 09.10.1989 zeigt eine Gruppe von Demonstranten mit einem Transparent, auf dem "Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!" zu lesen ist, bei der Montagsdemonstration in Leipzig.
Eine Gruppe von Demonstranten am 9. Oktober 1989 in Leipzig mit einem Transparent, auf dem "Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!" zu lesen ist. (Archivbild) Bildrechte: picture-alliance / dpa

Man merkte die Wochen vorher, dass sich eine Entscheidungssituation anbahnt.

Anselm Hartinger

Wie wichtig ist für Sie die Erinnerungskultur?

Ich denke, es ist wichtig in einer Zeit, in der es viel Resignation und viel unproduktive Wut gibt, auch zu sagen: "Nein, es ist möglich, Gesellschaft friedlich zu verändern. Freiheit ist auch Verantwortung. Freiheit heißt auch, an den anderen denken".

Und so, wie ich die Wendemonate erlebt habe, war es so, dass Menschen nicht nur an ihr eigenes Anliegen, sondern an etwas Größeres dachten - und zwar, dass sie ein Land wieder auf Vordermann bringen wollten, dass sie eine Stadt wie Leipzig vor der Zerstörung, vor dem Stadtverfall, vor der Umweltzerstörung retten wollten.

Und ich glaube, diesen gemeinorientierten Geist brauchen wir, und auch den Mut, nicht nur zu schimpfen, sondern auch Verantwortung zu übernehmen.

Menschen stellen auf dem Augustusplatz Kerzen mit der Aufschrift «'89 - Lichtfest Leipzig» auf ein Podest
Das Lichtfest Leipzig erinnert seit 2009 an die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 und findet auf dem Augustusplatz bzw. auf dem Innenstadtring statt. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Guten Morgen Sachsen | 09. Oktober 2024 | 09:40 Uhr

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