Bürgergespräche Treffen mit Michael Kretschmer: Zwischen Bürgernähe und dem Zorn des Volkes
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21. Januar 2023, 05:00 Uhr
Ministerpräsident Michael Kretschmer hat das Image eines bürgernahen Politikers. Seit 2018 veranstaltet er auch regelmäßig Bürgergespräche in Sachsen, zu denen sich jeder anmelden kann. Aber was bringen diese Treffen eigentlich? MDR exactly hat die Bürgergespräche der letzten zwei Jahre ausgewertet, um die Frage zu klären: Sind sie mehr Schein als Sein?
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"Danke, dass wir hier miteinander ins Gespräch kommen", sagt der Ministerpräsident von Sachsen. Michael Kretschmer hält ein Mikrofon knapp unter seinen rotmelierten Bart und schaut in den vollbesetzten Saal des Rathauses in Zwickau. Dorthin hat er zu einem seiner Bürgergespräche geladen. Der CDU-Politiker sucht seit seinem Amtsantritt immer wieder den Dialog mit dem Volk – doch nicht alle finden dieses Angebot gut und für einige lassen auch die Ergebnisse zu wünschen übrig, wie eine Recherche von MDR exactly zeigt.
An jenem Montag im November 2022 demonstrieren nur zwei Straßen vom Rathaus entfernt die Montagsspaziergänger – wie jede Woche. Veranstalter ist ein Bündnis, das angeführt wird von einem Mitglied der "Freien Sachsen". Diese Kleinpartei wird vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft. Zur Demo hatte sie auch den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer eingeladen, wie das Bündnis auf Telegram gepostet hatte.
Auf der Demo sind die Teilnehmer gegenüber dem Bürgergespräch skeptisch eingestellt. "Die Politiker generell, die sollen sich einfach mal unters Volk mischen und nicht bloß diese inszenierten Sachen", sagt ein Mann mit schwarzer Wollmütze und ruhiger Stimme zur Reporterin Katharina Vorndran. Außerdem sei die Veranstaltung nur für geladene Gäste und mit Anmeldung.
Auftritte von Kretschmer immer häufiger von Freien Sachsen gestört
Bei Versuchen, mit Demonstranten ins Gespräch zu kommen, waren gegenüber dem Ministerpräsidenten auch schon deutlich schärfere Töne angeschlagen worden. Bei einem Besuch in Frankenberg in der Nähe von Chemnitz im Januar 2022 skandierte die Menge: "Hau ab! Hau ab!"
Bei der 800-Jahr-Feier in Cunewalde im Landkreis Bautzen im April 2022 wurde Michael Kretschmer von Corona-Leugnern abgefangen. Ein kleiner Mann rief: "Corona gibt es nicht." Als der Ministerpräsident fragte: "Was meinen Sie konkret?" antwortete ein anderer Mann: "Es gibt gar keine Pandemie." Der Politiker antwortete mit zusammengezogenen Augenbrauen: "Sie haben hier eine Trillerpfeife um und brüllen mich an. Und ich stelle Ihnen die Frage, was Sie wissen wollen. Und Sie sagen: Corona ist keine Pandemie." Klar wird auch in dieser Situation, Kretschmer weicht nicht aus. Er versucht, offensiv mit den Demonstrierenden umzugehen.
Die Auftritte von Michael Kretschmer sind zuletzt immer häufiger von den "Freien Sachsen" gestört worden. Das hat Spuren hinterlassen. MDR exactly hat erfahren, dass auch deshalb nur noch kurzfristig ausgewählte Termine des Ministerpräsidenten veröffentlicht werden.
Bürgergespräche: Zuhören, antworten und helfen?
Im Rathaus von Zwickau will Michael Kretschmer bei seinem jüngsten Bürgergespräch zwei Stunden lang zuhören und Fragen der 220 Gäste beantworten. Darunter Stadträte, Unternehmer und einfach interessierte Bürger. Einer der ersten am Mikrofon ist der parteilose Stadtrat aus Zwickau Sven Georgi. In der Region kein Unbekannter. Der Mitbegründer der "Freien Sachsen" verbüßt momentan eine Bewährungsstrafe, weil er bei einer nicht angemeldeten Demo während einer Personenkontrolle eine Polizistin geschlagen hatte.
"Ich soll Ihnen, Herr Kretschmer, viele liebe Grüße ausrichten von den Montagsspaziergängern, die Sie eingeladen haben, dort Rede und Antwort zu stehen. Da gibt es genug Leute, die da Fragen an Sie gehabt hätten", sagt Sven Georgi und hebt seine Augen vom Handy in Richtung Bühne. Der Ministerpräsident antwortet, dass er dies mitbekommen habe: "Aber wissen Sie, wenn man ganz bewusst rechtsextreme Tendenzen hat, wenn man andere niedermacht, da ist kein Gespräch möglich." Zudem sei er sogar mit dem Tode bedroht worden. "Ich hoffe nur, dass Sie nicht auch zu dieser Truppe gehören, sonst sollten Sie sich das genau überlegen."
Neben Sven Georgi sind auch Stadträte der AfD anwesend. Jeder, der eine Frage stellen will, kann sich melden und bekommt dann vom Ministerpräsidenten auch eine Antwort. Die Themen reichen von individuellen Armutsproblemen, über fehlende Bahnanbindungen oder Sporthallen bis zum Ukraine-Krieg.
Nur in Brandenburg, Sachsen und Thüringen
Solche offenen Fragerunden veranstalten aktuell nur zwei weitere Ministerpräsidenten in Deutschland: Dietmar Woidke (SPD) in Brandenburg und in Thüringen Bodo Ramelow (Die Linke), der seine Bürgerdialoge unmittelbar nach Michael Kretschmer begann. Der gebürtige Görlitzer Kretschmer hat 2018 damit angefangen. Dabei machte der Ministerpräsident vor allem im ländlichen Raum Halt, da dieser ihm zufolge in der öffentlichen Debatte unterrepräsentiert sei. Während er im ersten Jahr acht Orte besuchte, waren es nach Angaben der Staatskanzlei in den vergangenen beiden Jahren aufgrund der Pandemie nur noch drei pro Jahr.
Doch was haben diese Gespräche den Bürgern und Kommunen eigentlich gebracht? MDR exactly hat alle sieben Bürgergespräche der Jahre 2020 und 2021 – die im Internet durch die Staatskanzlei gestreamt wurden – systematisch ausgewertet. Demnach ergriffen insgesamt 82 Personen das Wort. 18 Personen stellte der Ministerpräsident eine Rückmeldung oder Hilfe in Aussicht.
Wo es für die Feuerwehr keine Hilfe gab
Doch was ist aus den Angeboten und Zusagen von Michael Kretschmer geworden? Von den 18 Personen hat MDR exactly bis auf eine alle erreicht und nachgefragt. Zwei von ihnen wohnen in Pockau-Lengefeld. Die kleine Stadt liegt südöstlich von Chemnitz im Erzgebirge. Der Stadtrat Gunter Schröter (Freie Wähler) hat den Ministerpräsidenten vor über einem Jahr beim Bürgergespräch um zusätzliche Fördermittel für den Bau eines neuen Gerätehauses für die Feuerwehr gebeten. Die Antwort damals: "Das gucke ich mir an. Einverstanden?"
Doch bislang hat es laut dem Stadtrat noch keine Antwort aus Dresden gegeben. Dabei sei der Neubau dringend notwendig. Das alte Gerätehaus aus DDR-Zeiten stand schon zweimal während der Flut unter Wasser, ein Fahrzeug passt nur geradeso rein und es fehlt etwa eine Umkleide für die Kameraden.
Zeitgemäß ist es nicht mehr. Deshalb hatte sich Stadtwehrleiter Gerd Uhlmann Hilfe von Michael Kretschmer erhofft: "Das ist halt ein bisschen schade, dass die Politik das alles relativ schnell vergisst. Es ist ein sympathischer Mensch aus meiner Sicht. Aber wir hätten uns doch was Anderes gewünscht."
Zwar wird gerade ein neues Gerätehaus für die Ortsfeuerwehr gebaut, doch 1,4 Millionen Euro – mehr als die Hälfte der Kosten – muss die kleine Stadt selbst stemmen. Es ist eine Pflichtaufgabe für die Kommune. Deshalb ist Stadtrat Gunter Schröter auch enttäuscht, dass es vom Ministerpräsidenten keine weitere Hilfe gab. Es sei ja nett, wenn sich Michael Kretschmer bei den Gesprächen so bürgernah gäbe. "Das ist ja auch kein Fehler, wenn man sowas macht. Wenn aber zu solchen Veranstaltungen nichts rauskommt, braucht man das eigentlich gar nicht machen. Die Leute kommen sich dann verarscht vor."
Auch viele andere Personen, mit denen MDR exactly spricht und denen Michael Kretschmer eine Zusage gemacht hatte, sind im Nachhinein enttäuscht. Nur zwei hätten überhaupt noch einmal vom Ministerpräsidenten oder seinen Mitarbeitern gehört.
Wenn aber zu solchen Veranstaltungen nichts rauskommt, braucht man das eigentlich gar nicht machen. Die Leute kommen sich dann verarscht vor.
Viele Teilnehmende in Zwickau ziehen positive Bilanz
Die Bilanz ist also dürftig. Was ist dann von solchen Bürgergesprächen zu halten? Oft werde der Politik vorgeworfen, dass zu wenig kommuniziert werde und die Distanz zu groß sei, erklärt Rafael Bauschke, der an der Hochschule Ludwigsburg zu politischen Kommunikationsstrategien und Kampagnen forscht. Deshalb sei das Bürgergespräch ein sehr vernünftiges Format. "Und wie das in Sachsen gemacht wird, ist das schon sehr professionell." Bei den meisten Menschen würde dadurch unter dem Strich positive Emotionen hängen bleiben.
So scheint es auch bei vielen Teilnehmenden nach der Veranstaltung im Rathaus von Zwickau zu sein. "Ich habe den Herr Kretschmer zum ersten Mal live erlebt", berichtet etwa Jiri Grundmann, der als einer von 15 Leuten auch eine Frage stellen konnte. Thema: Bildung und Lehrermangel. Sein Fazit: "Er ist auch nicht ausgewichen, hat die Fragen beantwortet. War ein bisschen zurückhaltend, denke ich. Aber ansonsten ganz ok."
Kretschmer: "Das kann man besser machen"
Doch was sagt der Ministerpräsident selbst zur Kritik etwa aus Pockau-Lengenfeld, dass sich niemand wegen des Gerätehauses für die Feuerwehr gemeldet hat? Michael Kretschmer kann sich daran erinnern und sagt, wenn das dort Priorität hat, "dann muss der Bürgermeister mit dem Gemeinderat kommen, dass wir uns zusammensetzen. Es geht immer etwas. Es gibt immer eine Lösung, vielleicht nicht von heute auf morgen und vielleicht auch nicht vollumfänglich. Aber es geht immer, wenn man will."
Was aber die Bürger, Stadträte und auch Bürgermeister stört, ist, dass im Nachgang nichts passiert. "Es wird systematisch mitgeschrieben: Was sind die Themen? Und dann wird mit dem Bürgermeister, mit dem Landrat oder mit denjenigen, die vor Ort verantwortlich sind, gesprochen", erklärt Michael Kretschmer. Doch in einem Punkt passt es nicht ganz. Manchmal fehlt es an Rückkopplung. "Das kann man besser machen", gibt er zu. "Stimmt." Nach dem Interview mit dem exactly-Reporter Oliver Matthes hat sich der Ministerpräsident noch einmal bei Gunter Schröter gemeldet, um an diesem Freitag mit ihm über eine mögliche Zusatzförderung zu sprechen.
Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 16. Januar 2023 | 05:00 Uhr