Eine Frau und weitere Mitarbeiter der Autowerkstatt lächeln in die Kamera.
Alles ist möglich, wenn alle wollen: Kristin hört schwer und kann nur spärlich sprechen - das ist kein Grund für nichts. Im Team von Gustavs Autohof ist sie trotzdem voll integriert. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Tag der Vielfalt Sie hört Autos nur, wenn sie laut sind

28. Mai 2024, 10:00 Uhr

Kristin Neubert ist schwer hörgeschädigt und kann deswegen nur abgehackt und mit Mühe sprechen. Das ist ihrem Chef Martin Tömel, Inhaber von Gustavs Autohofs in einem kleinen Dorf bei Freital, jedoch völlig egal. Vor vier Jahren engagierte er die dreifache Mutter für das Büro seiner Kfz-Werkstatt und hat noch keinen einzigen Tag bereut.

Dass es zwischen Martin Tömel und Kristin Neubert gefunkt hat, wird nach wenigen Minuten im Pausenraum des ehemaligen Bauerngehöfts in Wittgensdorf klar. Er kann ihr quasi jeden Satz von den Lippen ablesen, weiß genau, was sie sagen möchte und ist imstande, alle Fragen so zu vereinfachen, dass Kristin sie sofort versteht und antworten kann. Sie erstrahlt bei jedem Kommunikationsfaden, der sich entspinnt und einen Volltreffer landet. Es ist ihr anzusehen, wie gut es sich anfühlt, verstanden zu werden. Was für die Mehrheit der Menschen als Normalität gilt, ist für Kristin ein großes Glück. Die dreifache Mutter ist seit ihrer Geburt schwer hörgeschädigt.

Eine Frau steht in einer Autowerkstatt und lächelt in die Kamera.
Glücklich in der Kfz-Werkstatt: Kristin Neubert arbeitet trotz ihrer schweren Hörschäden bei Gustavs Autohof. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Menschsein ist mehr als pure Leistung

Bei Hörgeschädigten geht es um mehr, als Geräusche weniger laut zu hören. Weil gesprochene und geschriebene Sprache vom Hörvermögen abhängt, kann Kristin nur abgehackt und mit wenigen Lauten sprechen und grammatikalisch nicht richtig schreiben. Nach marktwirtschaftlichen Kriterien wäre sie keine Leistungsträgerin. Das war Martin Tömel, dem Inhaber von Gustavs Autohof, jedoch von Anfang an egal. Vor vier Jahren entschied er sich, die Freitalerin einzustellen. "Ein Glücksfall", erklärt er.

Eine Frau und zwei Männer schauen in die Kamera und lächeln, im Hintergrund steht ein Pkw.
Inmitten der Familie: Gustavs Autohof ist ein Familienbetrieb. Martin Tömel hat die Werkstatt von seinem Vater Bernard Pochert (re.) übernommen. Kristin ist mittendrin statt nur dabei. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Die Oma hat angerufen

Doch wie kam es dazu? Wieso setzt Gustavs Autohof auf Inklusion? "Das ist gar nicht so kompliziert", erzählt Martin Tömel und lacht. "Meine Oma hat angerufen und erzählt, dass Kristin Arbeit sucht."  Man habe sich getroffen und schnell sei klar gewesen, dass sie super in das Büro der Kfz-Werkstatt passe. Dort wickelt Kristin heute Ersatzteilbesorgungen und Abrechnungen ab, kümmert sich um Bestellungen und Aufträge. Oft bringt sie Kunden von A nach B. "Ja, ich habe einen Führerschein. Autofahren, natürlich. Das ist überhaupt kein Problem", sagt Kristin. "Eigentlich geht alles, außer telefonieren", erklärt Martin. "Ja, telefonieren ist schwierig", wiederholt Kristin, formiert ihre Hand zum Telefon und muss lachen.

Meine Oma hat angerufen und erzählt, dass Kristin Arbeit sucht.

Martin Tömel Inhaber Gustavs Autohof

Gustavs Autohof in Wittgensdorf
Idyllisch in Wittgensdorf liegt die Werkstatt: "Wir haben kein Fachkräfteproblem, eher ein Platzproblem", erklärt Tömel. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Vertauschte Rollen beim Einarbeiten

Weil Martin Tömel Profi ist, hat er auch die Zusammenarbeit mit seiner hörgeschädigten Mitarbeiterin auf professionelle Füße gestellt. "Gleich zu Beginn gaben zwei Kollegen vom Kommunalverband Sachsen bei uns in der Werkstatt ein Seminar", erinnert sich Martin Tömel. Dabei habe es auch ein Rollenspiel in Gebärdensprache gegeben. "Plötzlich war Kristin diejenige, die alles und wir diejenigen, die nichts verstanden haben."

Das Leben spielt in vielen Welten und jede hat ihre Berechtigung. Normalität ist konstruiert und immer abhängig von der Perspektive. Sichtbares kann täuschen, Unsichtbares überraschen. Martin Tömels Interesse scheint ehrlich und nicht "nur" einer Quote, einer Inklusions-Hülle zu folgen. Fast bewundernd ruft er spontan in den Raum: "Kristin fährt mit ihren drei Kindern allein an die Ostsee. Da war mir klar: Wenn sie das schafft, kann sie auch locker bei uns im Büro arbeiten."

Zwei Mädchen und ein Junge

Die schwarzhaarige Freitalerin strahlt plötzlich noch mehr als vorher. "Ja, drei Kinder, sie sind 16, 14 und acht Jahre alt, zwei Mädchen und ein Junge", erzählt sie. Sie würden ihre einfache Version der Sprache verstehen. Mit ihren Kindern könne sie ganz locker plaudern. "Ja, und meine Kinder können auch richtig sprechen. Sie haben es einfach gelernt." Ein bisschen wie ein Wunder, jedes Wort unterlegt Kristin mit Gesten, zusammen - und mit der Übersetzung von Werkstattinhaber Martin Tömel - ergibt alles einen Sinn.

Zettel, Handy, ChatGPT

"Wenn es wirklich einmal nicht reicht, schreiben wir Zettel, nutzen das Handy oder auch ChatGPT. - Apropos ChatGPT, das wollte ich Dir ja herunterladen", erklärt Tömel. Künstliche Intelligenz könne für Menschen wie Kristin total hilfreich sein. Erst kürzlich habe sie dazu ein Seminar von der Handwerkskammer besucht. So könne sie die KI noch besser für ihr Privat- und Berufsleben nutzen.

Eine Frau lächelt in die Kamera.
Immer mit einem Lachen dabei: Kristin fühlt sich in der Werkstatt aufgenommen. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Trubel im Pausenraum

Gustavs Autohaus zählt 20 Mitarbeiter. Wie klappt die Kommunikation mit dem Team? Kristin lässt übersetzen: Zu zweit kann sie die Dinge gut verstehen, doch im Pausenraum ist das Stimmengewirr zu komplex. Dann wird es ihr manchmal zu viel. "Wenn es stresst, drehe ich einfach meine Hörgeräte herunter", erzählt sie lachend und muss dafür fast auf den Tisch klopfen. "Sie ist immer so gut drauf, immer ein Lachen, ein Sonnenkind", freut sich Martin Tömel. Er bereut nichts.

Wenn es stresst, drehe ich einfach meine Hörgeräte herunter.

Kristin Neubert Schwer hörgeschädigte Mutter aus Freital

Warum das alles?

Ist es in Zeiten von Fachkräftemangel nicht zu viel Aufwand, sich auch noch um Inklusion zu kümmern? Tömel zuckt mit den Schultern. Fast wirkt es, als verstehe er die Frage nicht. "Ich weiß es nicht, vielleicht liegt es am christlichen Glauben und an meiner Familie. Ich kenne es nicht anders, haben haben uns immer alle geholfen." Martin Tömel bleibt nicht an der Oberfläche kleben, er sieht dahinter, blickt weiter. Warm und aufrichtig. Vielleicht kann man es auch einfach Liebe zu den Menschen nennen. Kristin jedenfalls hört die Autos nur, wenn sie laut sind. Und das finden alle richtig gut.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 28. Mai 2024 | 20:00 Uhr

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