Innenausschuss-Sitzung beantragt Leipzig nach "Tag X": Zehn Männer in U-Haft und Kritik am Polizeieinsatz

05. Juni 2023, 17:48 Uhr

Seit Freitagabend haben Demonstrationsverbote, Krawalle und Streits um Versammlungsfreiheit Leipzig in Atem gehalten. Nun liegt die Einsatzbilanz der Polizei vor. Auch die Zahl Verhafteter und Verletzter. Die Linke verlangt politische Aufklärung zum Polizeieinsatz und zur Einkesselung am Sonnabend. Das Vorgehen der Polizei kritisieren auch Landtagsabgeordnete von SPD und Grünen.

Nach den Krawallen am Großeinsatz-Wochenende zum "Tag X" in Leipzig sind zehn Männer in Untersuchungshaft genommen worden. Ihnen werfen die Ermittler schweren Landfriedensbruch, tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und versuchte gefährliche Körperverletzung vor, sagte der Sprecher der Leipziger Staatsanwaltschaft, Ricardo Schulz.

Bilanz des Großeinsatz-Wochenendes - Am Sonnabend kesselten Einsatzkräfte nach einer genehmigten Demonstration mehr als 1.000 Menschen rund elf Stunden lang ein und nahmen die Personalien auf. Die letzte Identität sei am Sonntag kurz nach fünf Uhr morgens festgestellt worden.
- Die Polizei meldete rund 50 verletzte Beamte.
- Bei den Versammlungsteilnehmern habe es ein unbekannte Anzahl Verletzter gegeben.
- Bis zu 50 Menschen seien in Gewahrsam genommen worden. Nach der Prüfung von 30 Haftanträgen, sitzen nunmehr zehn Männer in U-Haft.
- Fünf Männer im Alter von 20 bis 32 Jahren sollen sich bei Ausschreitungen am Freitagabend beteiligt haben.
- Die anderen fünf sollen sich an Krawallen am Sonnabend beteiligt haben: Zwei 36 und 33 Jahre alten Männern werden ein Stein- und ein Flaschenwurf auf Beamte zur Last gelegt. Bei den drei anderen Verdächtigen im Alter von 24, 25 und 34 Jahren lautet der Tatvorwurf schwerer Landfriedensbruch.
- Gegen zwei weitere Verdächtige wurden Haftbefehle erlassen, jedoch gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt.
- Mindestens ein Medienvertreter wurde angegriffen. Es soll sich um einen freien Fotografen handeln.

Quellen: Polizei und Staatsanwaltschaft Leipzig

Linke beantragt Sondersitzung im Landtag

Unterdessen hat die Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag eine Sondersitzung des Innenausschusses zum Polizeieinsatz am linksautonomen "Tag X" in Leipzig beantragt. Der Ausschuss werde dazu wahrscheinlich am kommenden Montag zusammenkommen, sagte Fraktionssprecher Kevin Reißig. Die Linke stellt vor allem die stundenlange Einkesselung von rund 1.000 Demonstrantinnen und Demonstranten infrage.

Linke: Vorgehen "unverhältnismäßig und "eines Rechtsstaates unwürdig"

Die Innenpolitikerin Kerstin Köditz kritisierte, dass die "Herstellung menschenunwürdiger Bedingungen" weder verhältnismäßig noch ein Beitrag zur Deeskalation sei. Ihr Parteikollege, der Fraktionsvize Marco Böhme, hatte das Vorgehen der Polizei "eines Rechtsstaates unwürdig" bezeichnet und eine kritische Auswertung in einer Sondersitzung verlangt.

Der Polizeikessel war am Sonnabend entstanden, nachdem eine Kundgebung gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit aufgelöst worden war. Die Polizei hatte zuvor mehrfach schwarzvermummte Teilnehmerinnen und Teilnehmer innerhalb der Demo aufgefordert, ihre Vermummungen abzulegen. Dann kündigte sie per Lautsprecherdurchsage polizeiliche Maßnahmen für alle an, die sich nicht entfernten. Es flogen Steine und ein Brandsatz. Die Lage eskalierte.

SPD-Politiker kritisiert Polizei als Teil der Eskalationsspirale

Auch der Innenpolitiker der SPD Sachsen, Albrecht Pallas, kritisierte die Polizeiführung. Pallas, von Beruf Kriminalbeamter, war als parlamentarischer Beobachter im Leipziger Süden dabei. Er sagte MDR AKTUELL, die Polizei sei selbst Teil einer Eskalationsspirale gewesen. Durch Stärke-Zeigen deeskalierend zu wirken, habe noch nie funktioniert. 1.000 Personen elf Stunden einzukesseln, sei von vornherein nicht besonders verhältnismäßig gewesen. Die Polizei habe selbst von 500 gewaltbereiten Personen gesprochen. Man hätte also davon ausgehen müssen, dass eine Menge unbeteiligter, friedlicher Menschen mit im Kessel gewesen seien.

Elf Stunden zu brauchen, um die Freiheitsentziehung auch von Minderjährigen zu beenden, ist viel zu lang.

Albrecht Pallas innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag

Auch beim Abdrängen Umstehender sei die Polizei mit unnötiger Härte vorgegangen. "Es gipfelte im Abriegeln des gesamten Stadtteils Connewitz nach zwei Barrikadenbränden", sagte Pallas. "Die Massivität der Polizeipräsenz oder dadurch bedingte massive polizeiliche Reaktion auf Kleinigkeiten hatten eine eskalierende Wirkung, was überwiegend Unbeteiligte traf." Der Grünen-Abgeordnete Valentin Lippmann sah das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Leipzig als "faktisch entkernt".

Innenminister verteidigen Vorgehen der Einsatzkräfte

Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) hat den Polizeieinsatz verteidigt. Die Polizei habe Tatbeobachter gehabt, die lange vor der Versammlung "extrem Bedrohliches festgestellt hätten: Vermummung, schwarze Blocks, Bewaffnung, Steine, Pyrotechnik", sagte der Politiker MDR SACHSEN. "Mit einem Aufzug von 1.500 Menschen, die so gewaltsam sich vorbereitet haben, wäre es nicht möglich gewesen zu laufen. Dann hätten Sie in Leipzig eine Scherben-Demo habt." Wenn Gewalttaten so deutlich angekündigt würden, müsse das am Ende so "bereinigt" werden.

Die sinnlose Gewalt von linksextremistischen Chaoten und Randalierern ist durch nichts zu rechtfertigen.

Nancy Faser (SPD) Bundesinnenministerin

Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) verteidigte ebenfalls den Einsatz der sächsischen Polizei, Beamten aus zwölf weiteren Bundesländern und der Bundespolizei. Sie sagte: Wer Steine, Flaschen und Brandsätze auf Polizisten werfe, müsse dafür konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Den verletzten Beamten wünschte sie "von Herzen, dass sie schnell wieder gesund werden". Sie dankte allen Einsatzkräften, auch den Rettungsdiensten "für den schwierigen und gefährlichen Einsatz".

Auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) verurteilte die Gewalt und sprach von "fürchterlichen Vorkommnissen". Zugleich bedauerte er, dass es wiederholt zu Ausschreitungen und Gewalt gekommen war.

Polizeigewerkschaft sieht politisches Nachspiel gelassen

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, hat die Kritik am Vorgehen der Einsatzkräfte in Leipzig zurückgewiesen. Man könne als Polizist in solchen Situationen nicht nur spazierend durch die Gegend gehen. Ein robustes Vorgehen sei notwendig, sagte der GdP-Chef dem Radiosender SWR Aktuell. Dass die Linke im Sächsischen Landtag eine Sondersitzung des Innenausschusses einberufen will, sieht Koelpke gelassen. Er forderte eine Debatte über Angriffe auf Einsatzkräfte.

Wer sich in eine gewalttätige Lage begibt, Steine und Brandsätze auf Polizisten wirft, darf sich nachher nicht beschweren, wenn er eine Identitätsfeststellung über sich ergehen lassen muss oder als Straftäter festgenommen wird.

Jochen Kopelke Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP)

Hintergrund zum Demotag "TagX"

  • Bei der Stadt Leipzig waren für den Sonnabend mehrere Demonstrationen angemeldet worden, von denen vor 16 Uhr auch einige friedlich stattfanden, zum Beispiel eine Fahrrad-Demo des Bündnisses "Fridays for Future".
  • Die später aus dem Ruder gelaufene Versammlung in der Leipziger Südvorstadt gehörte auch zu den zugelassenen Veranstaltungen. Der Verein "Say it out loud" hatte sie angemeldet unter dem Motto: "Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig".
  • Eine spezielle Solidaritätsdemo für die Linksextremistin Lina E. sollte ursprünglich um 17 Uhr beginnen. Doch die hatte die Ordnungsbehörde der Stadt zuvor verboten mit der Begründung, dass ein unfriedlicher Verlauf zu befürchten sei. Das Verbot wurde Ende voriger Woche auch von mehreren Gerichten bestätigt. Ein Eilantrag mit Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war nicht angenommen worden. Trotz des Demo-Verbots hatte es bereits Freitag Zusammenstöße und Krawalle in Leipzig gegeben.

MDR (kk, MINA)/dpa/epd

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 13. Juni 2023 | 19:00 Uhr

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