Weltkrebstag Diagnose Hirntumor: Wie Jule aus Zwickau sich ins Leben zurückkämpft
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04. Februar 2024, 07:00 Uhr
Rund eine halbe Million Menschen erkranken pro Jahr in Deutschland neu an Krebs. Das bedeutet 500.000 Mal Schock nach der Diagnose, Ängste, viele Fragen. Das erlebte auch Jule Pacholke aus Zwickau. Bei ihr wurde ein seltener Hirntumor entdeckt. Nach der Diagnose ging es ihr dramatisch schlechter. Eine Operation rettete ihr Leben. Das sieht seit einem Jahr ganz anders aus, als es sich die junge Frau nach der Schule vorgestellt hatte.
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- Für eine junge Frau wird nach einer Untersuchung die schlimmste Befürchtung wahr: die Diagnose Hirntumor.
- Bitte keine Floskeln: Psychologin nennt die No-Gos im Umgang mit Krebspatienten.
- Die Krebsdiagnose und -behandlung können auch positive Kräfte wecken.
Der Sommer 2022 ist für Jule Pacholke der Sommer ihres Leben: frisch verliebt, das Abitur geschafft, fürs Wunschstudienfach Grundschullehramt bekommt sie einen Platz in Leipzig. Endlich beginnt ihr eigenes Leben. Kurz darauf kriegt die junge Frau aus Zwickau Kopfschmerzen, Migräneanfälle. Sie stolpert und sieht manchmal alles doppelt. Nach sechs Wochen dann die Diagnose: ein Medulloblastom am Kleinhirn, ein hochgradig bösartiger Tumor. Diese Art entdecken Ärzte in Deutschland pro Jahr bei rund 60 Kindern und Jugendlichen.
"Als die Oberärztin nach dem MRT meinte, da wächst etwas, habe ich geheult und zu meiner Mutti gesagt: Das war mir klar, weil ich solche Kopfschmerzen hatte. Ich war aber auch erleichtert, zu wissen, was los war." Am 20. Dezember soll Jule operiert werden. An dem Tag drückt der 3,5 Zentimeter große Tumor so aufs Gewebe, dass das Nervenwasser nicht abfließt. Der Hirndruck steigt bedrohlich. Jule kommt in die Notaufnahme der Uniklinik Leipzig. "Ich war baff, dass sich der Tumor so akut bemerkbar machte. So dolle Schmerzen. Gruselig."
Gleich nach der Diagnose habe ich gedacht, es ist vielleicht Karma? Aber das ist sinnlos. Es ändert die Situation ja nicht.
Alles wird unwichtig: Nur das Überleben zählt
Nach der OP kommt Jule schnell zu sich und erinnert sich an jazzige Weihnachtsmusik, die in der Intensivstation erklang, weil Weihnachten bevorstand. "Vom Bett aus sah ich auf dem Flur ein Weihnachtsbäumchen. Das war süß. Dass sich die Schwestern so viel Mühe gaben, es war ja noch Corona-Alarm. Es war aber auch deprimierend."
Jules Mutter Simone weicht sechs Wochen lang nicht von der Seite ihrer Tochter. "Ich dachte immer nur an meine Jule. Ihr Leben und ihre Gesundheit haben für mich Priorität." Die 46 Jahre alte Angestellte ist froh, dass auch der Arbeitgeber in Zwickau Verständnis für ihre Lage hat.
So viel Glück haben nicht alle Krebskranken und Angehörigen in Sachsen, weiß die Psychologin für die Sächsische Krebsgesellschaft e.V., Simone Groß-Manes. "Viele Patienten fühlen sich gedrängt, weil die Chefs Druck machen." Betroffene trauten sich dann nicht, lange krank zu Hause zu bleiben. "Das verzögert jedoch die Heilung." Die Psychologin und Expertin für Psychoonkologie rät Patienten, sich von derartigem Druck freizumachen.
No-Gos im Umgang: Schweigen und Floskeln
Jeder Krebsbetroffene müsse seinen Weg im Umgang mit der Krankheit finden. Manche zögen sich zurück und verstummen, andere lassen ihr ganzes Sein vom Krebs beherrschen. "Wichtig ist, dass man mit der Familie über sein Befinden redet. Floskeln sind das Letzte. Ein No-Go ist es zu sagen: 'Das wird schon.' Oder: 'Du musst positiv denken'", nennt Simone Groß-Manes typische Reaktionen auf Krebsdiagnosen.
Floskeln sind das Letzte. Ein No-Go ist es zu sagen: 'Das wird schon' oder: 'Du musst jetzt positiv denken'.
Die Psychologin rät Angehörigen, nachzufragen, was der oder die Erkrankte braucht, erwartet und ob er oder sie reden möchte. "Patienten wollen ja nicht dauernd über ihr Leid reden. Sie wollen lachen, über ihr soziales Umfeld und Alltagsdinge sprechen. Es darf nicht immer nur um die Angst gehen."
Aber auch Patienten brauchten Mut, ihrem Umfeld zu sagen, was sie wollten. Psychologin Groß-Manes weiß aus den rund 3.000 Beratungskontakten ihres Vereins pro Jahr, dass das Sprechen über Gefühle vielen Familien und älteren Menschen schwer fällt. "Erkrankte Kinder haben es dann besonders schwer, wenn Eltern nur übers Handeln Fürsorge zeigen können."
Nach dem Aufbruch ins Leben: der Rückzug
Auch Jule zieht sich nach der Hirn-OP und Bestrahlung zurück. Sie muss ihr Studium abbrechen, nach Zwickau zurückziehen und sich von ihrer Mutter helfen lassen. "Das war ein großes Problem. Einerseits bin ich meiner Mutti sehr, sehr dankbar für alles. Andererseits will ich ja unabhängig sein und mir nicht bei allem helfen lassen. Es gab schon auch Streit. Da half nur reden, was man sich wünscht", erzählt die 19-Jährige über das zurückliegende Jahr.
Weil viele bei den Worten Tumor und Krebs schlimme Bilder Kopf hätten, nennen Mutter und Tochter den wegoperierten Tumor "Hermi". "Das klingt nicht so feindlich wie Krebs", finden sie.
Wir nennen den Tumor Hermi. Das klingt nicht so feindlich wie Krebs mit all den Stereotypen, die man gleich im Kopf hat.
Ihre einst hüftlangen braunen Haare sind schon etwas gewachsen, die Bewegungen klappen immer besser. Die junge Frau fühlt sich "zu 65 Prozent wieder so" wie früher. "Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Es gibt Tage, an denen bin ich frustriert, weil Dinge, die schnell gehen sollen, nicht klappen. Naja, es bringt nichts, wenn ich bockig oder sauer auf mich werde." Mit diesen Dingen meint sie Sachen wie Treppen steigen, schreiben, malen, tanzen oder Tee eingießen, ohne zu verschütten, weil die jungen Hände zittern.
Positive Seite von "Hermi"
Die Chemotherapie in Leipzig und die Bestrahlung in Dresden sind seit Ende Januar vorüber, Ergo- und Physiotherpiestunden bestimmen jetzt Jule Pacholkes Alltag, dazu gesunde Ernährung und Mikronährstoffe für das geschwächte Immunsystem. "Es gab keinen Tag, an dem Jule nicht gelächelt hat. Ich ziehe so den Hut vor ihr", sagt Mutter Simone. Wenn sie der Ausnahmesitution seit Weihnachten 2022 irgendetwas abgewinnen müsste, dann: "Es hat uns alle mehr zusammengeschweißt." Jule lächelt: "Eigentlich hat 'Hermi' die Familie zusammengebracht."
Blick nach vorn und Neustart
Nach der Rückkehr nach Zwickau hat sie Kontakte zu Schulfreunden wieder aufgenommen. Die Sommerliebe von 2022 ist zur Stütze für ihr Leben geworden. "Mein Freund behandelt mich nicht wie eine Patientin. Seine Hand ist immer da für mich." Auch ihren Vater, mit dem sie länger wenig Kontakt hatte, trifft sie nun jede Woche zum Spaziergang.
"Und ehrlich gesagt ist Grundschullehramt doch nicht das Richtige für mich." Jule will ab Herbst Gebärdensprachdolmetschen an der Westsächsischen Hochschule in ihrer Heimatstadt studieren. "Das fördert auch meine Feinmotorik und würde mich glücklich machen." Und was ist mit "Hermi"? "Bisher ist alles gut verlaufen. Er wird nicht wiederkommen", sagt Jule Pacholke mit fester Stimme.
Wir haben immer nach vorn geblickt und sind optimistisch.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 02. Februar 2024 | 19:00 Uhr
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