Heimatgeschichte Kirchturmuhr in Görlitz geht konsequent sieben Minuten vor - doch warum?

13. August 2023, 15:09 Uhr

Nicht alle Uhren in Görlitz zeigen genau auf die Minute an, was die Stunde geschlagen hat. Der Stundenschlag vom Mönch ertönt immer sieben Minuten früher. Doch warum? Die Kirchturmuhr geht angeblich seit Jahrhunderten falsch. Dahinter soll sich der Sage nach ein blutiges Geheimnis um eine verräterische Rotte verbergen. MDR SACHSEN-Reporter Uwe Walter stattete dem Ratsarchiv einen Besuch ab, um das Geheimnis zu lüften.

Es ist kurz vor Mitternacht an einem Tag im Jahr 1527 in Görlitz: Eine verschworene Gesellschaft hat sich in einem Tuchmacherhaus zur Beratung zusammengefunden. Die Verschwörer wollen gegen den Rat der Stadt aufbegehren, wollen mehr Rechte für die Handwerker. Aufmerksam lauschen die Aufrührer, denn sie wollen nicht der Stadtwache in die Fänge laufen.

Da erklingt die Glocke vom Kirchturm der Dreifaltigkeit, auch Mönch genannt. Zeit zu verschwinden! Die Verschwörer schlüpfen durch eine kleine Pforte auf eine benachbarte Gasse. Doch die Stadtwache hat ihre Runde noch nicht beendet und entdeckt die Aufrührer. Blutig verlieren die Verschwörer ihre Köpfe durch das Richtschwert.

Der verräterischen Rotte Tür

Doch was war passiert? Die Uhr am Kirchturm ging falsch. Der Stundenschlag kam sieben Minuten zu früh. Die siegreichen Ratsherren beschlossen, Nachahmer der Verschwörer abzuschrecken und "ewig" an deren Verbrechen zu erinnern: "Fortan müsse die Uhr auf sieben Minuten vorgehen." Die Gasse hieß jetzt Verrätergasse und die kleine Pforte wurde zur Mahnung mit einem Sandstein gekennzeichnet: "Der verräterischen Rotte Tür."

Zwischen Legende und Wirklichkeit

So wird die Geschichte als Görlitzer Sage erzählt und wie fast alle Sagen enthält auch diese Geschichte einen wahren Kern, der im Görlitzer Ratsarchiv nachzulesen ist.

Das Ratsarchiv Görlitz: Das Ratsarchiv Görlitz gehört zu den bedeutendsten und ältesten Archiven in Sachsen. Es entstand im späten 14. Jahrhundert. Es bietet Einblickte vom Spätmittelalter bis heute anhand von mehr als 1.200 Meter lfd. Akten, Büchern, handgeschriebenen Urkunden, Bauplänen, Zeichnungen und mehr als 4.000 Karten sowie unzähligen Fotos. Görlitzer Ratsarchiv

Im Görlitzer Ratsarchiv greift Siegfried Hoche in ein vollgepacktes Bücherregal. Der Ratsarchivar zieht einen dicken Wälzer heraus und blättert in einer 500 Jahre alten Chronik bis zum Jahr 1527. Damals hat der Schreiber der Görlitzer Ratsherren die Geschichte des gescheiterten Aufstands der Tuchmacher aufgezeichnet.

Der geplante Aufstand war ein ganz wichtiges Ereignis aus der Stadtgeschichte, wo es um die politische Mitbestimmung, der Tuchmacher im Rat, um das Braurecht und dergleichen ging. Und das Geschehen war in der Tat auch schon damals sehr spektakulär. Widerstand gegen die Obrigkeit.

Siegfried Hoche Stadtarchivar

Der Rädelsführer des Aufstandes war laut Stadtchronik Peter Liebich. Der Tuchmacher hatte ein Haus an der Langenstraße und aus seinem Hinterhof führte eine kleine Pforte auf die benachbarte Gasse. Über diese kleine Pforte kamen und verließen die beteiligten Handwerker ihren Treffpunkt bei Peter Liebich.

Bislang stimmt die Sage mit der Realität überein, doch in Wirklichkeit scheint die Geschichte um den geplanten Aufstand der Tuchmacher etwas anders verlaufen zu sein, wenn man den Eintragungen von Johannes Hass glauben darf.

Es ging um mehr Mitbestimmung im Rathaus

Die Handwerker hatten das Diktat und die Herrschaft der Ratsherren satt. "Die Macht der Ratsherren im Handel damals, ist heute vergleichbar mit dem Monopol russischen Oligarchen", erklärt der Ratsarchivar. Deshalb trafen sich die Mitglieder der Handwerksinnungen zu Beratungen, aber nicht in der Nacht, sondern am Vormittag.

Und nicht etwa ein falscher Stundenschlag am 19. September 1527 sorgte dafür, dass das Treffen aufflog, sondern ein Verräter in den eigenen Reihen. Ein Schneidermeister informierte den Görlitzer Rat und daraufhin wurde Peter Liebich verhaftet. Unter der Folter gestanden Liebich und seine verräterische Rotte laut Stadtschreiber Johannes Hass ihre zahlreichen Verbrechen gegen die Obrigkeit.

Die Beteiligten an dem Aufstand wurden vor dem Rathaus mit dem Schwert gerichtet. Ihre blutigen Köpfe rollten auf dem Untermarkt über das Görlitzer Pflaster.
Anschließend haben die Ratsherren ihre Macht in der Stadt weiter ausgebaut, indem sie die Satzungen der Handwerkerinnungen zu ihren Gunsten veränderte. Dabei verloren auch einige Tuchmacher das Signum auf ihren Produkten. Nur mit diesem - von der Innung genehmigten - Zeichen durften sie ihre Waren in Görlitz feil bieten.

Der Stundenschlag ist eine Legende

Den schlanken Kirchturm an der Dreifaltigkeit bezeichnen die Görlitzer seit Jahrhunderten als Mönch. Vielleicht, weil die Kirche samt Glockenturm einst zum Kloster eines Bettelmönchsordens gehörte. Dieses wurde im frühen 18. Jahrhundert abgerissen.
Eine Uhr gab es jedenfalls vor 500 Jahren auf dem Mönch noch nicht. Nur das Rathaus besaß damals das Privileg und den Luxus eines mechanischen Uhrwerks mit Ziffernblatt. Ansonsten gab es Sonnenuhren wie an der Peterskirche oder an der einstigen Ratsapotheke, dem heutigen Ratskaffee.

Der Mönch erhielt wahrscheinlich erst im späten 18. Jahrhundert seine erste Turmuhr. Wer also die Idee hatte, den Stundenschlag sieben Minuten früher ertönen zu lassen, ist deshalb unklar. Auch das Motiv dafür.
Die Sagen von der "Verräterischen Rotte" oder dem "Mönch und der Verrätergasse" wurde das erste Mal aufgeschrieben von einem Görlitzer Pfarrer.

"Der sehr bedeutsame Theologe Kohlhaupts war im neunzehnten Jahrhundert durch die Gebrüder Grimm angeregt worden, Märchen aber vor allen auch Geschichten aus der Heimat zu sammeln", erzählt Ratsarchivar Siegfried Hoche. "Und so habe die Sage mit dem verfrühten Stundenschlag bis heute überlebt."

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MDR (uwa)

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