Interview mit Neurowissenschaftlerin aus Magdeburg Digital gegen Alzheimer
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18. April 2021, 12:58 Uhr
In der aktuellen Podcast-Folge "digital leben" geht es darum, wie Erkenntnisse der Neurowissenschaften von Technologieunternehmen genutzt werden. Tech-Konzerne beeinfllussen damit nämlich ihre Nutzer. Das kann man verwerflich finden. Aber Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft können auch Gutes bewirken. In Magdeburg will Neuropsychologin Ornella Billette von neotiv mit digitalen Methoden Gedächtnisprobleme im Zusammenhang mit Alzheimer frühzeitig erkennen.
Telemedizin und digitale Lösungen in der Demenzforschung
Frau Billette, wie verändert digitale Technik aktuell die Demenzforschung?
Ornella Billette: Telemedizin und digitale Lösungen bieten neue Möglichkeiten in der Demenz- und der medizinischen Forschung. Die meisten Deutschen, auch in älteren Generationen, haben ein Smartphone oder Tablet mit Internetzugang. Damit kann man digitale Lösungen wie beispielsweise eine App schnell, einfach und in großem Maßstab einsetzen. Das erlaubt eine viel größere Flexibilität für die Studienteilnehmer, die bequem von Zuhause an einer Studie teilnehmen können ohne lange Wege und Terminabsprachen. So können in Studien in kürzerer Zeit mehr Menschen teilnehmen und man darf hoffen, dass sich auch die Fortschritte in der Forschung beschleunigen. Und in der aktuellen Pandemie ist es natürlich vorteilhaft, die Forschung trotz Kontaktbeschränkung mit digitalen Mitteln weiterbetreiben zu können.
Sie arbeiten für die neotiv GmbH in Magdeburg, die eine App entwickelt hat, mit der kognitive Fähigkeiten über einen langen Zeitraum getestet werden können. Was genau wollen Sie mit der App herausfinden?
Mit der App wollen wir mit Hilfe von wissenschaftlich basierten Tests die frühzeitige medizinische Einordnung und Nachverfolgung von Gedächtnisproblemen im Zusammenhang mit der Alzheimer-Erkrankung ermöglichen. Wir wollen also zwischen normalen Gedächtnisschwankungen und krankheitsbedingten Einbußen unterscheiden können.
Wir bieten die App schon Wissenschaftlern aus Deutschland und vielen anderen Ländern an, die damit die Gedächtnisleistung von Probanden in ihren Studien messen. Einige Wissenschaftler nutzen die neotiv-App, um zu untersuchen, ob zum Beispiel eine Umstellung der Ernährung einen Effekt auf die Kognition hat. Andere wollen mit der App die Entwicklung der geistigen Leistung im Alterungsprozess beschreiben. Es gibt viele Einsatzmöglichkeiten.
Ornella Billette
Ornella Billette (31) arbeitet als Senior Scientist bei der neotiv GmbH in Magdeburg. Aufgewachsen ist sie in Reims in Nordostfrankreich. In Magdeburg forscht sie als Gastwissenschaftlerin auch am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und im Institut für kognitive Neurologie und Demenzforschung (IKND) im Bereich neurogenerative Erkrankungen mit besonderem Fokus auf die Alzheimer-Erkrankung.
Was eine App schon heute leisten kann
Wer die App nutzt, hilft also der Forschung. Aber was haben die Nutzer selbst davon?
Solange man nicht selbst davon betroffen ist, kann man sich diese Frage natürlich stellen. Aber wir werden alle älter und damit steigt unser Risiko, an Demenz zu leiden. Wer der Forschung dabei hilft, neurodegenerative Erkrankungen besser zu identifizieren, zu verstehen und zu versorgen, hilft sich auch selbst. Indem nämlich Angehörige besser versorgt werden können oder indem man irgendwann vielleicht doch eine Lösung zur Heilung oder Linderung der Krankheit findet. In der Forschung ist es oft sehr wichtig, so viele Daten wie möglich zu sammeln, um mögliche Verzerrungen in den Schlussfolgerungen zu beseitigen. Je mehr Menschen mitmachen, desto besser und sicherer sind die Ergebnisse der Studien. Also mitmachen und was für sich und seine Mitmenschen machen!
In einfachen Worten erklärt, wie funktioniert die App?
Neotivs innovative Testungen erfassen die Kognition und basieren auf einfach verständlichen Prinzipien, bei denen die Nutzer sich Bilder merken. Weil diese Bilder dann in unterschiedlicher Art und Weise abgefragt werden, untersuchen wir verschiedene Komponenten des Gedächtnisses. Nutzer werden zum Beispiel gefragt, sich Objekte in einem Raum zu merken oder zu unterscheiden, ob man ein Bild schon vorhergesehen hat oder ob es sich um ein neues Bild handelt.
Die App gibt es auf Smartphone und Tablet. Nutzer werden regelmäßig per Push-Nachricht daran erinnert. Dann werden ihnen diese Gedächtnistests oder ein kurzer Fragebogen zu unterschiedlichen gesundheitlichen Themen gezeigt. In unserem aktuellen Bürgerforschungsprojekt erfassen wir zum Beispiel, welchen Einfluss eine COVID-19-Infektion und Social Distancing auf das Gedächtnis und die mentale Gesundheit haben. Das Projekt ist sogar offen für alle ab 18, die einen Beitrag für die Forschung leisten wollen.
Alzheimer und Demenz – Das ist der Unterschied
Wenn die Gedächtnisleistung eines Menschen stark nachlässt, ist schnell die Rede von Alzheimer und Demenz. Aber mit den beiden Begriffen sollte man vorsichtig sein. Warum?
Das ist extrem wichtig. Die Alzheimer-Krankheit ist kein Synonym für Demenz, sondern die häufigste Ursache einer Demenz. In Deutschland gibt es etwa 1,6 Millionen Demenzfälle und bei etwa zwei Dritteln davon ist eine Alzheimer-Erkrankung der Grund. Das beschreibt auch das Statistische Bundesamt so. Diese Zahlen werden sich in der Zukunft voraussichtlich noch vervielfachen. Aber auch andere Krankheiten können ein demenzielles Syndrom verursachen, beispielsweise die Lewy-Körperchen oder die Huntington-Krankheit. Und die Alzheimer-Krankheit kann nicht nur eine Demenz vom Alzheimer-Typ verursachen, sondern auch anderen Demenz-Formen. Anders gesagt: Demenz ist nicht gleich Alzheimer-Krankheit und Alzheimer-Krankheit ist nicht zwingend gleich Demenz vom Alzheimer-Typ.
Was beeinträchtigt die Demenz vom Alzheimer-Typ in erster Linie?
In erster Linie wird das Gedächtnis beeinträchtigt, genauer gesagt das episodische Gedächtnis. Es ist der Teil des Gedächtnisses, der uns erlaubt, uns an selbsterlebte Ereignisse zu erinnern; den letzten Urlaub an der Ostsee zum Beispiel. Sehr früh wird auch die zeitliche Orientierung und auch die Orientierung in neuen und im weiteren Krankheitsverlauf auch in bekannten Umgebungen erschwert.
Und was wird bei der progressiven Aphasie, ebenfalls eine Demenz-Form, beeinträchtigt?
Die primär progressive Aphasie kann auch aber nicht nur von einer Alzheimer-Krankheit verursacht werden. Dabei wird in erster Linie nicht das episodische Gedächtnis, sondern verschiedene Komponente der Sprache beeinträchtigt, zum Beispiel das Verständnis, die Grammatik oder die Aussprache.
Wie können digitale Technologien helfen, die unterschiedlichen Demenz-Formen besser zu unterscheiden?
Digitale medizinische Lösungen stecken noch in den Kinderschuhen, aber die Entwicklung ist rasch und es wird mehr Möglichkeiten geben. Bei neotiv setzen wir uns für die Früherkennung der Gedächtnis-Einbußen ein, die mit der Alzheimer-Krankheit verbunden sind, und grenzen sie von gesunder Alterung des Gehirns ab. Digitale Lösungen können helfen, diese Einbußen möglichst frühzeitig zu erkennen. Will man aber andere Krankheitsbilder unterscheiden, zum Beispiel Demenz und Depression, braucht man andere technische Lösungen. Wenn man zum Beispiel mit einer App eine primär progressive Aphasie diagnostizieren will, sollte die Sprache auch Teil der Untersuchung sein.
Die App könnte also auch Ärzten helfen, frühzeitig die richtige Diagnose zu stellen?
Neue digitale Lösungen wie die neotiv-App können helfen, Patienten mit Beschwerden über einen längeren Zeitraum zu untersuchen, um Leistungsschwankungen besser einordnen zu können. Besser als bei einer einmaligen Untersuchung in der Sprechstunde beim Arzt. Schwankungen der geistigen Fähigkeiten können vielen verschiedenen Ursachen haben: vorübergehender Stress oder Müdigkeit oder erste Anzeichen eines neurodegenerativen Prozesses des Gehirns.
Eine solche Diagnose zu stellen, wird oft erschwert, weil es lange Wartezeiten bei FachärztInnen und spezialisierte Psychologen gibt. Überfüllte Praxen, lange Wartezeiten oder invasive diagnostische Untersuchungen bei uneindeutigen Fällen – all dies könnte durch den Einsatz einer App vermieden oder verbessert werden. Außerdem hat die Pandemie das Bedürfnis für innovative, flexible und kontaktarme Lösungen in der medizinischen Welt verstärkt. Digitale Gesundheitsanwendungen und Telemedizin können auch in medizinisch unterversorgten Regionen eingesetzt werden, Diagnosen dort unterstützen oder Engpässen entgegenwirken.
Was glauben Sie, wo steht Ihr Forschungsbereich in zehn Jahren?
Das ist eine schwierige Frage. Zehn Jahre sind in einem Leben viel, aber in der Forschung eher wenig Zeit. Ich könnte natürlich sagen, dass ich hoffe, dass wir in zehn Jahren Alzheimer heilen oder das Fortschreiten verlangsamen können. Aber ich möchte pragmatischer bleiben und hoffe, dass die Früherkennung der Alzheimer-Demenz in zehn Jahren in der praktischen klinischen Realität angekommen ist. Das Ziel der Alzheimer-Forschung ist letztendlich, die Lebensqualität der Betroffenen und deren Angehörigen zu verbessern. Wenn wir es schon schaffen, Patienten früher zu identifizieren, können sie schneller Maßnahmen ergreifen, um sich auf die Zukunft vorzubereiten und den damit verbundenen Stress zu reduzieren.
Am Anfang ist die Orientierung in neuen Umgebungen nur schwierig. Später im Krankheitsverlauf ist die Orientierung sogar in bekannten Umgebungen problematisch.
Über den Autor
Stephan Schulz, geboren 1972, wuchs in Burg bei Magdeburg auf. Er studierte Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaften und stellte fest, dass das Hörsaalwissen nicht weit führt, weil sich die Politik so selten an die Wissenschaft hält.
Deswegen schreibt und spricht er so gern darüber.
Stephan Schulz ist seit 2001 festangestellter Redakteur bei MDR SACHSEN-ANHALT - Das Radio wie wir. Außerdem ist er einer der beiden Gastgeber des MDR SACHSEN-ANHALT-Podcasts "Digital leben".
MDR/ Marcel Roth
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 15. April 2021 | 11:40 Uhr