Podcast "digital leben" Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit

18. April 2021, 12:58 Uhr

Fernsehen, Radio, Zeitung, Bücher, Soziale Medien, Internetseiten, Apps, Spiele – der Kampf um unsere Aufmerksamkeit wird an vielen Fronten geführt. Mitunter mit unfairen Mitteln. Das Ziel: digitale Angebot so zu gestalten, dass wir möglichst viel Zeit damit verbringen. Dazu beschäftigen Tech-Konzerne und App-Firmen Neurowissenschaftler. Sie wissen genau, wie unser Gehirn funktioniert. Zwei Magdeburger Neurowissenschaftler sind zu Gast im MDR SACHSEN-ANHALT Podcast "digital leben".

Ein großer Mann mit Locken und Brille steht vor einer Betonwand.
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Digital leben

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Es ist eine der eindrücklichsten Szenen im Film "The Social Dilemma" – Chamath Palihapitiya und Sean Parker, zwei ehemalige ranghohe Facebook-Manager sagen dort zwei Sätze:

  • "Wir wollen psychologisch herausfinden, wie wir dich so schnell wie möglich manipulieren können und dir einen Dopamin-Schub zurückgeben." (Palihapitiya)
  • "Das ist genau die Art von Dingen, auf die ein Hacker wie ich kommen würde, um eine Schwachstelle in der menschlichen Psychologie auszunutzen und die Schöpfer, ich, Mark und all diese Leute, haben das bewusst verstanden und wir haben es trotzdem gemacht." (Parker)

Können Facebook und Co. also unsere Gehirne hacken? Weil sie Experten beschäftigen, die wissen, worauf unser Gehirn am besten reagiert? Weil sie die Erkenntnisse aus neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung nutzen? Und weil sie selbst Versuche unter ihren Nutzern starten, in denen sie vergleichen können, wie Nutzer auf unterschiedliche Angebote reagieren?

Genau das sind die Vorwürfe, mit denen Facebook und Co. seit Jahren konfrontiert werden. Und sie sind nicht von der Hand zu weisen. Das sagt auch Dr. Christian Merkel vom Leibniz Institut für Neurobiologie (LIN) in Magdeburg. Weil Nutzer den Firmen erlaubten, ihre Daten zu analysieren, können Neurowissenschaftler zum Beispiel die Spielzeit analysieren, sagt Merkel. "Sie können dann gucken, welche Parameter des Spiels müssen verändert werden, damit möglichst viel der reellen Zeit in Spielzeit übergeht." Das würde mit Belohnungen und Bestrafungen gemacht: Wer spielt, erhalte zum Beispiel virtuelle Münzen oder Herzchen. "Wenn ich nicht spiele, werde ich aktiv dafür bestraft und mir werden Punkte abgezogen. In diesen Apps wird bewusst eine extreme Abhängigkeit geschaffen."

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Neurowissenschaftler aus Magdeburg

Als Neurowissenschaftler macht Merkel Grundlagenforschung. Dazu nutzt er am LIN alle Methoden, um quasi live in das Gehirn seiner Probanden zu schauen: Ein MRT-Scan oder ein EEG, eine Haube mit Elektroden, zeigen ihm, welche Regionen im Gehirn gerade aktiv sind. Das sei eine indirekte Messung, sagt Merkel: "Das sind statistische Vergleiche zwischen einem Gehirn unter bestimmten Normalbedingungen und einem, das im Experiment ist. Diesen statistischen Unterschied zum Beispiel in einer bestimmten Sauerstoffkonzentration guckt man sich an."

Knallharte Grundlagenforschung nennt Merkel das. Konkrete Anwendungen sind dabei oft nicht abzusehen und würden oft erst Jahrzehnte später kommen. Aber der Neurowissenschaftler sagt, Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft helfen zum Beispiel Sportlern, ihre Leistung zu verbessern oder könnten helfen, mit Koma-Patienten zu kommunizieren.

Und Merkels eigene Erkenntnisse rücken das Bild zurecht, das wir von Computerspielen haben. "In komplexen 3D-Spielen sieht man tatsächlich, dass dort viele kognitive Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit oder Multitasking trainiert werden. Sehr viel mehr, als man gedacht hat." Die Erkenntnisse könne man teilweise auch für Diagnosen oder Rehabilitation verwenden, auch Fluglotsen und Piloten könnten so trainieren. "Solche Spiele sind hilfreicher als irgendwelche Daddel-Apps. Das ist relativ überraschend."

Digital gegen Alzheimer und Demenz

Neuropsychologin Dr. Ornella Billette nutzt die Grundlagenforschung der Neurowissenschaft für eine konkrete Anwendung im Alltag. Billette ist bei der Magdeburger Firma Neotiv Senior Scientist. Neotiv entwickelt eine Software, mit der sich das Gedächtnis testen lässt. Dazu gib es eine App, die jeder Zuhause ausprobieren kann. Später kann das Ärzten bei der Diagnose helfen. Neotiv bietet seine Software auch Forschern als Dienstleistung an. So wird derzeit erforscht, ob die Corona-Pandemie unsere Gedächtnisleistungen beeinträchtigt.

Billette verspricht aber nicht, Alzheimer zu heilen. "Vor 20 Jahren konnte man Alzheimer nicht heilen. Und heute oder morgen auch nicht. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht weiter sind." Die Krankheit ließe sich zum Beispiel verlangsamen. Und deshalb sieht Billette auch, dass das Wissen der Neurowissenschaftler sehr wohl unser Leben verbessern kann. Neotiv will seine Gedächtnistest demnächst als App auf Rezept anbieten. "Das ist eine Sache, die darauf abzielt, Verbesserungen zu bringen und das Leben besser zu machen", sagt Billette.

Dauerfeuer auf unsere Hirne

Aber wie mit jeder Erkenntnis und jedem Werkzeug: Es lässt sich zum Guten und zum Schlechten einsetzen. Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer schauen alle elf Minuten aufs Handy. Dadurch wird das Hormon Dopamin ausgeschüttet, das unser Belohnungssystem im Gehirn anspricht, uns – plump gesagt – glücklich machen. Wenn dann noch digitale Belohnungen in Form von Herzchen, Daumen oder Sternchen dazu kommen, freut das unser Hirn noch mehr. Selbst die Erwartung einer Belohnung schüttet Dopamin aus.

Und am erfolgreichsten sind Belohnungen, wenn sie unberechenbar sind. Ein Spiel immer nur zu gewinnen, ist langweilig. Werden virtuelle Punkte aber einmal großzügig und ein anderes Mal knauserig ausgeschüttet, sind wir happy. Das zu beeinflussen, geht mit den Spieleautomaten in unseren Hosentaschen ganz einfach.

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Wir sprechen, wir texten, wir spielen, wir schauen, wir informieren uns und geben unsere Meinung wieder. Wir greifen mehrmals täglich gedankenlos zum Smartphone. Es ist wie ein Reflex - und überfordert auch viele.

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Dass unsere Gehirne so ticken, sei eigentlich clever und liegt an unserer Vergangenheit, sagt Christian Merkel vom LIN. "Wir nennen das Novelty. Das bedeutet, unser Gehirn beachtet Reize ganz besonders, die unerwartet auftreten, aber belohnt werden." So konnten hungernde Steinzeit-Menschen schon aus dem Augenwinkel zum Beispiel einen Beerenstrauch erkennen. "Wenn sie das verpassen würden, könnte es fatal ausgehen. Diese Gehirnfunktion ist also recht nützlich."

Und das Konzerne das Wissen über das Belohnungssystem unseres Gehirns nutzen, sei nicht allein deren Schuld, meint Merkel. "Der Nutzer hat einen großen Anteil daran. Es gibt auch andere Möglichkeiten, ich könnte für eine App für ein Programm bezahlen und das offline benutzen."

Machen Internetangebote süchtig?

Dr. Christian Merkel, Neurowissenschaftler Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg: "Wir haben zum Beispiel mal eine Gruppe von Rauchern untersucht. Sie sollten auf bestimmte visuelle Reize reagieren. Streut man in diese visuellen Reize zum Beispiel Bilder von einer Schachtel Zigaretten oder einem Feuerzeug ein, lenkt das die Leute total ab. Ihre Aufmerksamkeit wird von der eigentlichen, relevanten Aufgabe weggeleitet. In den Gehirnscan sieht man bei diesen Ablenkungen ein anderes Muster. Und wenn man das jetzt mit sozialen Medien testet und den Probanden das Logo von Twitter oder Facebook zeigt, dann hat das den gleichen Effekt, jedenfalls bei Menschen, die sehr viel Social Media nutzen. Auf neuronalem Level sieht der Suchteffekt also bei Rauchern genauso aus wie bei Internet-Süchtigen oder beim Zwang, mal wieder seinen Social Media Status zu checken."

Macht, Wissen und Verhalten

Nur: Facebook und Co. gibt es gar nicht in einer Bezahlversion, die verspricht, die Daten nicht auszuwerten oder uns zu beeinflussen. Vielmehr wird hier ein Ungleichgewicht – ein unterschiedliches Machtverhältnis – deutlich: Konzerne wissen mehr über uns als wir über sie, ihre Funktionsweise und Absichten.

Ornella Billette sagt deshalb: Wissen bei den Nutzern ist wichtig. "Die Konzerne wissen, wie wir ticken und können uns manipulieren. Aber es gilt auch für die Nutzer: Wissen ist Macht." Je mehr Nutzer darüber wüssten, desto besser könnten sie ihr Verhalten steuern. Billette sieht aber ein Problem: "Der Zugang zu Wissen ist nicht unbedingt fair und für jeder gleich." Sprachniveau, Zugang zu Informationsquellen, kognitive Fähigkeiten und das Alter spielten eine Rolle. "Für Kinder und Teeanger ist das unfair. Aber auch hier ist die Lösung: Das Wissen darüber zu verbreiten und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken." Wer besser versteht, wie er manipuliert wird, könne darauf reagieren.

Mehr Daten, mehr Wissen

Große US-Konzerne häufen allerdings auch Wissen an: Sie können jederzeit auf Unmengen an Daten zugreifen. Sie können manche Dinge nur bestimmten Teilen ihrer Nutzer anzeigen und sehen, wie sich das auf ihr Klickverhalten und die Verweildauer auswirkt. Live-Experimente, von denen die Nutzer nichts mitbekommen. Anders als in Merkels Labor.

Dort hat der Neurowissenschaftler oft nur ein paar Dutzend Probanden, die natürlich wissen, dass sie Teil eines Experimentes sind. Und: Sie müssen Datenschutzbestimmungen unterschreiben, die am Computer mit einem Haken erledigt sind. US-Konzerne als Forschungseinrichtungen: "Da hat man keine Chance, irgendwie zu konkurrieren", sagt Christian Merkel.

Ein großer Mann mit Locken und Brille steht vor einer Betonwand.
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Über den Autor Marcel Roth arbeitet seit 2008 als Redakteur und Reporter bei MDR SACHSEN-ANHALT. Nach seinem Abitur hat der gebürtige Magdeburger Zivildienst im Behindertenwohnheim gemacht, in Bochum studiert, in England unterrichtet und in München die Deutsche Journalistenschule absolviert. Anschließend arbeitete er für den Westdeutschen Rundfunk in Köln. Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er über Sprachassistenten und Virtual Reality, über Künstliche Intelligenz, Breitbandausbau, Fake News und IT-Angriffe. Außerdem ist er Gastgeber des MDR SACHSEN-ANHALT-Podcasts "Digital leben".

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Digitales menschliches Gehirn mit Schaltplan und Laptop auf einem Tisch. 3D-Illustration.
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MDR/ Marcel Roth, Oliver Leiste

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 15. April 2021 | 11:40 Uhr

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