Eine Frau auf einem Sofa spricht online mit einer Ärztin.
Ärzte bieten seit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt Video-Sprechstunden an. Doch wie geht die die Digitalisierung des Gesundheitswesensweiter? Bildrechte: IMAGO / Westend61

Podcast "Digital leben" Warum Sachsen-Anhalts Gesundheitswesen digital holpert

26. März 2022, 12:08 Uhr

Elektronisches Rezept, elektronische Krankschreibung, elektronische Patientenakte – das Gesundheitswesen soll digitaler werden. Und Sachsen-Anhalts Ärzte, Krankenkassen, Apotheker und Krankenhäuser wollen auch digitaler werden. Aber derzeit scheitert es an einigen Stellen, um das Gesundheitswesen zukunftsfest zu machen.

Ein großer Mann mit Locken und Brille steht vor einer Betonwand.
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Ob Zahnpasta, Vitamine oder Säfte – per Internet lässt sich quasi alles bis an die Haustür liefern. Aber ein Mensch, der krank ist, muss sich zunächst zum Arzt und dann möglicherweise zur Apotheke schleppen. Und wenn er Arbeitnehmer ist, muss er noch zum Briefkasten, um seinem Arbeitgeber die Krankschreibung zu schicken.

"Der einzelne Mensch sollte sich auf seine Genesung besinnen und sich nicht mit irgendwelchen administrativen Prozessen beschäftigen müssen", sagt Steffi Suchant, Leiterin der Landesvertretung der Techniker Krankenkasse Sachsen-Anhalt. Gerade deshalb finde sie es sehr bedauerlich, dass der digitale Prozess der Krankschreibung jetzt so auseinander gestückelt sei.

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Der "gelbe Schein", die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wird seit Anfang des Jahres bereits elektronisch vom Arzt an die Krankenkassen übermittelt – aber an den Arbeitgeber muss der kranke Mensch das Ganze noch in Papierform schicken – das soll sich im Laufe des Jahres ändern.

"Dann können sich Kranke tatsächlich auf ihre Genesung fokussieren und nicht auf Administration", sagt Suchant im MDR SACHSEN-ANHALT Podcast "Digital leben"

Ich wünsche mir, dass es viel, viel schneller geht, weil es auch technisch geht.

Steffi Suchant, Techniker Krankenkasse Sachsen-Anhalt

Warum es nicht so schnell geht

Dr. Jörg Böhme ist Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt und Hausarzt in Stendal. Er sagt, in den vergangen zwei Jahren Pandemie das Gesundheitswesen digital zu machen – das sei zu schnell gewesen. Deswegen funktioniere es an so vielen Stellen nicht.

Ein weiterer Grund: "Wir haben im Gesundheitssystem zu viele Player. Und das macht das alles sehr kompliziert", sagt Böhme. Auch die Technik selbst sei oft ein Problem. "Es ist meist eine Verkettung von Fehlern." Vor kurzem habe er in seinem System die so genannte Komfort-Signatur installiert, um Arztbriefe elektronisch zu verschicken. "Aber nach Aktivierung dieser Komfort-Signatur gingen dann andere Funktionen nicht mehr."

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Ähnlich beim elektronischen Rezept: "Ich würde das gern einführen und habe drei Apotheken in der unmittelbaren Umgebung gefragt. Keine von denen kann das e-Rezept empfangen", sagt Böhme. Aber: Weder Ärzte noch Apotheker könnten technische Probleme allein lösen.  "Es sind teilweise Hardware-Lösungen, teilweise Softwarelösung. Das ist schon sehr komplex. Und man guckt eigentlich in eine Blackbox und ist ohne einen IT-ler völlig hilflos."

Komplizierte, fehleranfällige Technik und keine Zeit

Der Bayerische Rundfunk berichtet zum Beispiel, dass mehr als 100.000 Arztpraxen die sogenannten Konnektoren austauschen müssen. Der Grund: Die Zulassung dieser Geräte, die Praxen mit der digitalen Infrastruktur des Gesundheitswesens verbinden, läuft ab und die angekündigte Software-Lösung lässt auf sich warten. Ärzte hätten deshalb "jegliches Vertrauen" in die Digitalisierung ihrer Praxen verloren.

Böhme sagt, er will die Technik einfach benutzen: "Ich will auf einen Knopf drücken, und es muss gehen. Und wenn es klemmt, kann ich es nicht reparieren."

Ich kann in meiner Arbeitszeit das Produkt nicht noch fertig entwickeln. Das will ich nicht. Das kann ich nicht. Ich will ein Produkt haben, das funktioniert.

Dr. Jörg Böhme, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt

Denn auch für Ärzte hat der Tag nur 24 Stunden. Oft fehle die Zeit, wenn das Wartezimmer voll ist. "Es ist nicht Sinn und Zweck, dass ich vormittags zwei Stunden mit der IT telefonieren muss und die Praxistätigkeit ausfällt."

Warum Böhme eine Termin-Erinnerungsfunktion für Vorsorgeuntersuchungen nicht nutzt

Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen – daran könnte jeder Arzt seine Patienten erinnern. Technisch sei das mit den Systemen möglich, sagt Böhme.
"Aber ich habe genug zu tun, mit den Patienten, die von allein kommen. Die technischen Möglichkeiten des Recall-Systems sind da. Ich weiß, dass es in anderen Bundesländern rege genutzt wird, dort ist die ärztliche Versorgung eine andere. Für viele, die nicht regelmäßig zum Arzt gehen, wäre ein solches Recall-System vernünftig.
Das Problem ist, ich schaffe es nicht mehr, ich muss meine Arbeit bewältigen können. Das ist in vielen Branchen so. Wir könnten mehr Vorsorge machen, wenn wir mehr freie Kapazitäten dafür hätten.
Aber viele Krankheiten machen gottseidank frühzeitig auch Symptome. Darauf muss man achten: Wer Beschwerden hat, muss sich an seinen Hausarzt wenden. Es gibt nur wenige Dinge, die schleichend vor sich gehen."

Das Zeit-Problem versteht Steffi Suchant von der Techniker Krankenkasse, aber sie schränkt auch ein: "Jedes andere mittelständische Unternehmen muss sich damit auseinandersetzen. Auch eine Arztpraxis ist im Endeffekt unternehmerisch tätig."

KV-Chef Böhme schaut auf den IT-Gesundheitsmarkt: Dort würde man viel Geld verdienen können. Aber oft würde nicht das geliefert werden, was die Ärzte bräuchten, klagt Böhme. Dabei ist er ein Fan von digitalen Lösungen, die Dinge einfacher machen könnten. Aber momentan sei der Nutzen kaum zu sehen.

"Wenn ich den elektronischen Arztbrief zum Beispiel verschicke, dauert es vier Sekunden, bis er die Verbindung herstellt und das Ding raus geht." Auf Papier wäre es ein Knopfdruck und das Schreiben würde gedruckt. "Die Prozessgeschwindigkeit ist ein Problem."

Frust bei Ärzten

Viele Ärztekollegen seien deshalb frustriert, sagt Böhme. Auch weil sie sehen, wie einfach und unkompliziert sich Smartphones bedienen lassen. "Und dann sitzen sie in der Praxis und drücken auf einen Knopf und nichts passiert. Und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Diese Hilflosigkeit kommt natürlich noch dazu."

Böhme sieht noch ein weiteres Problem: den Fachkräftemangel. Sowohl im IT-Bereich als auch bei Ärzten selbst. Er wünscht sich deshalb, dass es deutschlandweit 20 Prozent mehr Medizin-Studienplätze gibt. Auch in Sachsen-Anhalt. "Wir haben zwei Hochschulen. Es wäre schön, wenn wir dort noch mehr ausbilden könnten."

Daten für Krankenhäuser

Dr. Peter Redemann ist Chef des größten kommunalen Krankenhauses in Sachsen-Anhalt, des Harzklinikums mit Standorten in Wernigerode, Blankenburg, Quedlinburg und Ballenstedt. Das Harzklinikum hat etwa 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, etwa 1.000 stationäre Betten und macht einen Jahresumsatz von etwa 150 Millionen Euro.

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Notfälle werden bereits digital angemeldet, Befunde digital übermittelt, Diagnosen digital dokumentiert und Medikamente digital bestellt – der große Überbau ist das Krankenhausinformationssystem. "Das durchdringt alle Bereiche des Hauses: Wie in der Arztpraxis lesen wir die Patientenkarte mit den Stammdaten ein", sagt Redemann. Aber er sagt auch, diese Daten allein würden nicht ausreichen. Patienten müssten in der Lage sein, auch Notfalldaten wie verschriebene Arzneimittel, Allergien oder eine bestehende Schwangerschaft auf der Karte zu speichern. "Aber wer tut das?", fragt Redemann.

Einen solchen Notfalldatensatz können laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung Ärzte anlegen. Dafür muss der Patient einwilligen, der Arzt die Daten heraussuchen, sie elektronisch signieren und auf der Karte speichern.

Aber Redemann ist auch selbstkritisch: Digital ginge noch mehr, sagt er. Denn noch immer gäbe es auch in seinem Krankenhaus viele Zettel, die ausgefüllt würden. Darauf weist auch TK-Landeschefin Steffi Suchant hin und mahnt: "Wenn ich im Krankenhaus das dritte Mal meine Daten in ein Papierformular fülle, habe ich irgendwann kein Verständnis mehr dafür. Vor allem birgt das ja das Risiko von Übertragungsfehlern." Sind Daten aber einmal eingelesen, gebe es keine Medienbrüche und es könnten weniger Fehler passieren.

Fehlendes Prozessdenken in Krankenhäusern

Redemann will, dass bei digitalen Technologien die richtigen Prioritäten gesetzt werden: "Das Digitale soll ja nicht dazu dienen, noch mehr Daten zu erfassen, die am Ende vielleicht niemand braucht oder um damit irgendwelche Dinge abzurechnen. Der Patient steht im Mittelpunkt." Und digitale Technologien sollen die Arbeit im Krankenhaus erleichtern. Dass es daran oft scheitere, liege auch daran, dass Krankenhäuser mit bestimmten Themen überfordert seien, meint Redemann:

Die Industrie geht zum Beispiel ganz anders mit ihren Prozessen um. Es gibt in Krankenhäusern keine Kultur dafür, Prozesse wirklich so zu analysieren, dass sie in einer Software abgebildet werden können.

Dr. Peter Redemann, Chef des Harzklinikums

Software müsse für jedes Krankenhaus angepasst werden, dafür müsse man seine Prozesse kennen. "Das ist eine ganz wichtige Aufgabe: Krankenhäuser fit zu machen, damit sie ihre Prozesse so beschreiben, dass wir das beim Kauf von Soft- und Hardware umsetzen können."

Aber auch wenn das gelöst sei, bestehe die Gefahr, "dass hier ein ganzer Zoo von Programmen installiert wird." Redemann rechnet damit, dass es eine deutlich höhere Komplexität in Krankenhäusern geben wird, weil sehr viel verschiedene Softwareprodukte einsetzt werden. Ihm fehlen deshalb vor allem Schnittstellen und Standards in der Kommunikation im Gesundheitswesen. "Wir haben es über viele Jahre nicht geschafft, solche Strukturen aufzubauen." Sie aufzubauen sei eine nationale Aufgabe.

"Dabei haben wir es in Deutschland wegen der Sektorentrennung weit schwieriger als andere Länder", sagt Redemann und meint damit, dass es in Deutschland die ambulante Versorgung der Ärzte, die Krankenhäuser und die ambulanten und stationären Reha-Einrichtungen gibt. "Man kann nicht über Nacht abkürzen und die Entwicklung nachholen, die über 20 Jahre nicht gut gelaufen ist." Die Entwicklung von IT-Systemen finde nicht in den Krankenhäusern statt sondern bei Dienstleistern.

Was Peter Redemann zur IT-Sicherheit im Krankenhaus sagt

Krankenhäusern sind offene Häuser. Dort sind viele Angriffsmöglichkeiten auf die digitale Infrastruktur denkbar:

  • ein Blick in den Computer, wenn die Pflegekraft gerade auf der Station unterwegs ist,
  • jemand, der seinen Rechner im Patientenzimmer mit einer der Dosen verbindet,
  • jemand, der über ein Medizingerät mit alter Zulassung und alter Software zugreifen will,
  • der ansteckende Abfall aus dem OP, der nicht abgeholt werden kann,
  • das Labor, das nicht mehr arbeiten kann, während die Ärzte bei einer Operation auf ein schnelles Ergebnis warten oder
  • Software zum Beispiel mit einem Open Source Gerüst wie "log4j", bei dem Lücken entdeckt wurden, aber niemand genau weiß, in welcher Software es vorkommt.


Peter Redemann: "Das ist tatsächlich erst einmal erschreckend. Aber die Kolleginnen und Kollegen im Haus beschäftigen sich jeden Tag damit. Für die ist das Alltag Andererseits haben wir für Krankenhäuser auch eine Katastrophenplanung, eine Brandschutzplanung oder den sogenannten Massenanfall von Verletzten. IT-Vorfälle sind genauso ein Thema. Aber natürlich: Wir müssen für Sicherheitsmechanismen sorgen. Wir hatten bisher keinen IT-Angriff. Aber es ist wie bei Hase und Igel: Wer hat die Nase vorn? Wir bemühen uns und investieren auch sehr viel. Die Kollegen sind sehr fit. Die Bedrohung ist permanent. Und mir ist es unverständlich, warum wir es zum Beispiel nicht schaffen, ein abgeschottetes Netz für Gesundheitsdienstleister zu bauen? Eine eigene Infrastruktur für solche Einrichtungen, über die sie kommunizieren können? Das ist denkbar und technisch kein Aufwand. Aber heute kommunizieren die Einrichtungen über das Internet, mit allen Dingen, die da passieren können."

Desinteresse bei Patienten

Komplexe Technik, fehlendes Prozess- und Technologie-Verständnis, zu wenig Zeit – Es gibt viele Gründe dafür, dass das Gesundheitswesen nur schleppend digitaler und moderner wird. Einer davon sind auch die Menschen selbst.

Steffi Suchant, Leiterin der Geschäftsstelle der Techniker Krankenkasse in Sachsen-Anhalt, sagt: "Wir haben elf Millionen Versicherte. 250.000 Versicherte, die unsere unserer elektronische Patientenakte auf ihrem Smartphone nutzen." Daran sehe man, wie weit am Anfang Deutschland noch stehe. Das gilt auch, wenn Suchant oder auch KV-Chef Böhme weiterhin darauf hinweisen müssen, dass alle digitalen Möglichkeiten nichts nutzen, wenn es vor allem in ländlichen Regionen nicht ausreichend schnelle Internetanschlüsse gibt.

Ein Facharzt zeigt auf ein E-Rezept in einer elektronischen Patientenakte.
Es sieht einfach aus: Ein Arzt, der auf eine elektronische Patientenakte mit einem E-Rezept zeigt. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Kalaene

Suchant sagt, ihre Krankenkasse arbeite zum Beispiel mit der Kasseler Stottertherapie zusammen. Dabei würden sich Therapeut und Patient auch per Videocall treffen. "Wenn dabei das Bild dreimal einfriert, dann steigt die Frustration bei Patienten und beim Therapeuten. Damit machen wir eine ganze Menge Akzeptanz für solchen neuen Methoden kaputt", sagt Suchant.

Suchant fehlt außerdem ein ganzheitlicher und strukturierter Ansatz in der Landespolitik. Physiotherapeuten und Ergotherapeuten zum Beispiel seien in digitalen Dingen auf sich allein gestellt. "Da könnte das Land technisch und finanziell unterstützen", meint Suchant. Sie sagt außerdem: "Was ich hier extrem vermisse, ist endlich eine verbindliche Digitalstrategie für das Gesundheitswesen."

Fehlende Strategie der Politik

Es gebe ganz, ganz viele Akteure, die miteinander sprechen müssten – nicht nur im Gesundheitswesen selbst, sondern auch in den Landesministerien: "Das Gesundheitsministerium natürlich, aber auch das Wissenschaftsministerium, weil die Hochschulen dort angesiedelt sind, das Innenministerium, wo der Rettungsdienst angesiedelt ist, und das Digitalministerium, das Infrastruktur und Breitbandausbau verantwortet."

Suchant bemängelt, dass es keine Plattform für den Austausch gäbe. "Es gibt verschiedene Gesprächsrunden, die tolle Projekte bekannt machen. Aber eine Austauschplattform ist daraus nicht entstanden." Dabei hätte Sachsen-Anhalt riesige Chancen. "Wir könnten als Land einen Laborcharakter haben, denn wir haben nun mal eine überalterte Gesellschaft bei uns."

MDR (Marcel Roth)

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