Pipeline- und Straßenblockaden Was hinter den Klimaprotesten der "Letzten Generation" steckt

25. Juli 2022, 09:55 Uhr

Die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" sind seit Monaten in den Schlagzeilen: Mal kleben sie sich in Großstädten auf die Straße, um den Verkehr zu stören, mal blockieren sie Pipelines, so wie Anfang Mai an verschiedenen Orten in Sachsen-Anhalt. Doch wer steckt hinter der Bewegung – und wie zielführend ist diese Form des Protestes?

Lars Werner sieht etwas müde aus. Es ist noch keine 24 Stunden her, dass er aus dem Gewahrsam der Berliner Polizei entlassen wurde, als MDR SACHSEN-ANHALT ihn in der Bundeshauptstadt trifft. Anderthalb Tage verbrachte Werner in einer kargen Zelle, kaum breit genug, um darin die Arme auszustrecken, und ausgestattet mit wenig mehr als einer dünnen Matratze. Nebenan in den Nachbarzellen saßen Werners Mitstreiterinnen und Mitstreiter der "Letzten Generation". Zuvor hatten sie sich in Berlin auf die Straße geklebt, um den Verkehr zu blockieren – so, wie sie es seit Monaten immer wieder tun.

Mit umstrittenen Aktionen wie diesen wollen die Aktivistinnen und Aktivisten für Klimaschutz kämpfen. Sie fordern von der Bundesregierung die Abkehr vom Nordseeöl und Maßnahmen, um den Ölverbrauch massiv zu senken, etwa kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Gewaltfreier ziviler Ungehorsam ist ihre Strategie, um Verkehr und Alltag zu stören und dadurch größtmögliche Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Auch in Sachsen-Anhalt war die Gruppe bereits aktiv.

Pipeline-Blockade in Sachsen-Anhalt

Rückblick: Es ist der 5. Mai, als Lars Werner, der eigentlich in Göttingen lebt, und ein Mitstreiter bei Schnarsleben im Landkreis Börde ein Loch in den Zaun an der dort verlaufenden Pipeline schneiden, die eine Raffinerie in Leuna mit Öl versorgt. Sie betreten das Gelände, betätigen ein eigentlich für Notfälle gedachtes Absperrsystem und unterbrechen so den Ölfluss der Pipeline. Per Livestream wird alles im Internet übertragen.

Zu sehen ist auf den Bildern auch, wie Werner die Betreibergesellschaft der Pipeline anruft, um sie über die Aktion zu informieren. "Wir haben den Klimanotfall und müssen aus dem fossilen Wahnsinn aussteigen", sagt er am Telefon. Zeitgleich blockieren Aktivisten der "Letzten Generation" die Pipeline an zwei weiteren Stellen. So gelingt es der Gruppe nach eigenen Angaben, die Ölversorgung der Raffinerie für mehr als sechs Stunden zu stören, bevor sie von der Polizei abgeführt wird. Bereits zwei Tage zuvor hatte die "Letzte Generation" eine Pipeline in der Nähe von Wolmirstedt blockiert.

Total Raffinierie in Leuna
Die Total-Raffinerie in Leuna wird über die Pipeline mit Öl versorgt, die die Aktivisten der "Letzten Generation" im Mai stundenlang blockiert haben. Bildrechte: IMAGO / Andreas Vitting

Die betroffene Raffinerie äußert sich auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT nur schriftlich. "Die Blockade hatte keine Auswirkungen auf die Produktion der TotalEnergies Raffinerie Leuna", schreibt eine Pressesprecherin. "Da die Aktivisten unerlaubt fremdes Firmengelände betreten und beschädigt haben, wurde die Polizei verständigt." Gemeinsam mit dem Pipeline-Betreiber habe man zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen veranlasst. Konkreter wird die Sprecherin nicht.

"Es kann nicht mehr so weitergehen"

"Ich habe gemerkt, dass Widerstand, der ignoriert werden kann, auch ignoriert wird. Dann geht immer alles so weiter. Es kann jetzt aber nicht mehr so weitergehen. Wir müssen Formen finden, an denen man nicht mehr vorbeikommt. Da sind Blockaden von Öl-Pipelines oder Autobahnen das mildeste mir zur Verfügung stehende Mittel", sagt Werner. Nach seinen Angaben gehören der "Letzten Generation" in Deutschland rund 250 Menschen an, quer durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten.

Seit rund einem Jahr ist die Gruppe in Deutschland aktiv. Im Sommer 2021 erlangte sie mit Hungerstreiks im Berliner Regierungsviertel bundesweite Bekanntheit. Viele der Aktivistinnen und Aktivisten waren aber schon zuvor in der Klimabewegung engagiert, auch Lars Werner. Der 30-Jährige war bei Extinction Rebellion aktiv, bevor er zur "Letzten Generation" kam.

"Diese Bewegung will politische Entscheidungsprozesse beeinflussen, und dafür braucht sie öffentliche Aufmerksamkeit", sagt Protestforscher Michael Neuber vom Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. "Die öffentliche Aufmerksamkeit wiederum kreiert eine öffentliche Debatte um das Thema", so Neuber. Das könne im aus Sicht der Bewegung besten Fall dazu führen, dass die Regierung Entscheidungen im Sinne der Demonstrierenden treffe.

Wenig Verständnis in der Bevölkerung

Werner und seine Mitstreitenden stoßen mit der Art und Weise ihres Protestes allerdings auf wenig Verständnis in der Bevölkerung. In Berlin berichten Medien über wütende Autofahrer, die versuchen, die Aktivisten eigenhändig von der Straße zu ziehen. Und auch bei einer Umfrage von MDR SACHSEN-ANHALT auf dem Marktplatz in Halle äußern sich viele Menschen kritisch gegenüber der "Letzten Generation."

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Di 19.07.2022 14:40Uhr 01:37 min

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Ein älterer Mann sagt etwa, Aktivisten wie Werner wüssten nicht, welche Auswirkungen ihr Handeln hätte und wie viele Arbeitsplätze zum Beispiel an einer funktionierenden Öl-Pipeline hingen. "Aber", fügt er hinzu: "Es ist schon gut, dass sie auf das Thema aufmerksam machen". Eine Frau sagt, man könne nicht alles mit Hauruck ändern: "Im Gegenteil, wir leben in einer schlimmen Zeit, in der wir nicht wissen, ob wir noch genug Gas kriegen. Da kann man doch so einen Quatsch jetzt nicht machen. Die Idee ist sicher nicht schlecht, aber die Ausführung ist ganz doof."

Selbst Mitglieder der "Fridays for Future"-Bewegung, die ebenfalls für mehr Klimaschutz kämpft, nennen den Ansatz der "Letzten Generation" in einem internen Papier "erpresserisch."

Ziviler Ungehorsam als legitime Protestform?

Lars Werner sieht das naturgemäß anders. "Ich kann verstehen, wenn Menschen erstmal nicht gut finden, was wir machen, weil es ja auch störend ist. Aber es findet aus einer Haltung heraus statt, die für alle Menschen ist, selbst für die, die uns nicht gut finden. Ich mache das auch für diese Menschen, weil ich davon überzeugt bin, dass wir etwas verändern müssen in dieser Gesellschaft", sagt der Aktivist, dessen Sätze stets so geschliffen klingen, als hätte er sie schon sehr oft gesagt.

Grundsätzlich sei ziviler Ungehorsam in einer Demokratie eine durchaus legitime Protestform, sagt Michael Neuber von der TU Berlin. Entscheidend sei, dass die Demonstrierenden friedlich handeln, sich zu erkennen geben und die Verletzung von Gesetzen einem sogenannten "Moral high ground", also einem moralisch höher geordneten Ziel, diene.

"Das ist jetzt so ein bisschen die Debatte. Manche Stimmen sagen, dass dieser 'Moral high ground' bei Gruppen wie der 'Letzten Generation' nicht gegeben ist. Das hieße im Umkehrschluss, dass die Klimakrise nicht so dringend ist. Doch aus Sicht der Wissenschaft passiert ja tatsächlich zu wenig, um die Klimakrise aufzuhalten. Da muss man sich fragen, was vor diesem Hintergrund als Protestform legitim ist", sagt Neuber.

Aus Sicht der Klimawissenschaft ist der "Moral high ground" jedenfalls gegeben. Und da die Klimakrise ein Thema sei, das die Gesellschaft noch lange bewegen werde, würden Aktivisten wie die der "Letzten Generation" wohl langfristig aktiv bleiben und sich immer neue Protestformen suchen, prognostiziert der Forscher.

Strafrechtliche Konsequenzen drohen

"Wollen wir überleben oder nicht? Wir müssen diese Frage in der Gesellschaft diskutieren, über die Medien, über die Gerichte. Dafür sind diese Aktionen absolut notwendig, davon bin ich überzeugt und dementsprechend bereue ich es auch nicht, dass ich das gemacht habe", sagt Umweltaktivist Lars Werner mit Blick auf die Pipeline-Blockade bei Schnarsleben.

Welche rechtlichen Konsequenzen ihm in diesem Fall drohen, ist noch offen. Vorgeworfen werden Werner Landfriedensbruch und Störung öffentlicher Betriebe, beides Straftaten, die mit Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet werden können. "Ich bin bereit, alle Konsequenzen zu tragen und zur Not ins Gefängnis zu gehen", sagt der Aktivist.

In einem anderen Fall läuft derzeit ein Verfahren gegen ihn, bei dem bis zu 90.000 Euro Schadensersatzforderungen drohen. Werner will sich davon nicht abschrecken lassen, im Gegenteil: Gerade erst hat er seinen Job als Psychologe gekündigt, um mehr Zeit für den Klimaprotest zu haben. "Das war ein großer Schritt, da ich meinen Beruf sehr gerne mache", sagt Werner. "Aber es fühlt sich richtig an, dass ich jetzt alle Energie in diese Sache stecken kann."

Dass die Nacht in der Berliner Gefangenensammelstelle wohl nicht seine letzte hinter Schloss und Riegel war – darauf hat sich Lars Werner mental bereits eingestellt.

Über den Autor Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.

Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. Juli 2022 | 19:00 Uhr

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