Debatte um Sozialleistungen Was das Bürgergeld für Sachsen-Anhalt bedeuten könnte
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21. November 2022, 14:18 Uhr
Das Bürgergeld sorgt auch in Sachsen-Anhalt für Diskussionen. Für viele Langzeitarbeitslose wären die Pläne ein Ansatz, ihnen ein neues Selbstwertgefühl zu geben. Sozialverbände sehen Handlungsbedarf. Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt lehnen das Bürgergeld dagegen ab.
- Die Unionsparteien und einige Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft kritisieren das Bürgergeld als eine zu üppige Sozialleistung.
- Andere, zum Beispiel die Sozialrechtlerin Anne Lenze, widersprechen und kritisieren das Menschenbild, das hinter der CDU-Kritik steht.
- Besonders bei Langzeitarbeitslosigkeit, die zwei Drittel der Arbeitslosen in Sachsen-Anhalt betrifft, haben die Methoden von Hartz IV nicht funktioniert.
Im Jahr 1883 war es der Sozialdemokrat August Bebel, der öffentlich feststellte: "Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Von der Idee des Sozialismus hat sich die SPD inzwischen verabschiedet, doch der Bibelspruch stand auch 2006 bei den Debatten über Hartz 4 Pate, denn der damalige Bundesarbeitsminister Müntefering verteidigte mit diesem Satz den Umbau des Sozialstaates.
Der SPD hat das allerdings politisch geschadet, vor allem in Ostdeutschland, wo nach dem Zusammenbruch der Industrie ein gefühlter Zusammenbruch des Sozialstaates folgte. Deutlich sichtbar wurde das in dem Aufkommen von Suppenküchen, die heute verschämt "Tafeln" heißen. Seit Jahren versucht nun die SPD, dem langen Schatten von Hartz 4 zu entkommen, die Unionsparteien haben das nun jedoch im Bundesrat gestoppt.
Soziale Hängematte?
Das Zitat über den Zusammenhang von Arbeit und Essen findet sich in der Lutherbibel unter der Überschrift: "Warnung vor dem Müßiggang" und das ist das eigentliche Thema, um das es in der Debatte um das Bürgergeld geht. Denn nicht nur die Unionsparteien, sondern auch Vertreter der Wirtschaft kritisieren die aus ihrer Sicht zu üppigen Sozialleistungen und finden damit wohl bei so manchem Steuerzahler Zustimmung.
Der Hauptgeschäftsführer der Industrie-und Handelskammer (IHK) Halle-Dessau, Prof. Dr. Thomas Brockmeier, rechnet im MDR Interview das Bürgergeld auf eine vierköpfige Familie um. Sie hätte inklusive der Zuschüsse für Miete und Energie einen Anspruch auf monatlich 2.800 bis 3.000 Euro: "Tausend Euro für die beiden Erwachsenen, circa 750 Euro für die Kinder, rund 800 für die Miete und mehrere hundert Euro für Heizung und Warmwasser. Wer diesen Betrag netto erarbeiten möchte, müsste brutto etwa viereinhalb bis 5.000 Euro verdienen, je nach Familienstand. Das sind zwischen 50.000 und 60.000 Euro im Jahr." Die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen und für sich selbst zu sorgen, würden mit den neuen Regelungen schwinden, so Brockmeier.
Rechnung unvollständig
Allerdings gibt es zwischen Arbeitslosen und Menschen mit Niedriglohn einige Unterschiede. Denn wer, trotz Arbeit, nicht sein Leben oder das der Familie bestreiten kann, der bekommt ebenfalls öffentliche Unterstützung, zum Beispiel Wohngeld, Kinderzuschläge, Unterhaltsleistungen oder Freibeträge. Solche zusätzlichen Gelder erhalten Erwerbslose nicht, so dass unterm Strich sich grundsätzlich Arbeit immer lohnen sollte, das zumindest ist das politische Ziel der Sozialgesetzgebung.
Deshalb spricht Anne Lenze, Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt, von einer Scheindebatte: "Die Regelbedarfe werden auch zukünftig trotz dieser Erhöhung von 50 Euro so derartig niedrig sein, dass Leute es sich nicht bequem machen in der sozialen Hängematte. Arbeit lohnt sich immer. Vielleicht nicht für denjenigen, der fünf Kinder hat, weil sich dann die Bedarfe summieren. Und wir wissen aus Umfragen, dass viele Eltern, um ihren Kindern ein gutes Vorbild zu sein, auf keinen Fall Leistungen beziehen wollen. Das geht von einem Menschenbild aus, das ich nicht nachvollziehen kann."
Bürgergeld auch für Reiche?
Die Hartz 4-Regelungen waren in ihrer ersten Fassung auch deshalb umstritten, weil die Unterstützung nur floss, wenn man seine Bedürftigkeit nachwies. An dieser Idee hält das Bürgergeld fest, definiert aber die Bedürftigkeit anders. Zwei Jahre lang sollen Menschen nämlich auch dann Bürgergeld beziehen können, wenn sie ein Vermögen von bis zu 60.000 Euro besitzen, unabhängig von ihrem Alter. Jedes weitere Mitglied in der Bedarfsgemeinschaft darf 30.000 Euro besitzen. Bei einer vierköpfigen Familie wären dadurch 150.000 Euro Erspartes geschützt. Im Durchschnitt hat in Sachsen-Anhalt allerdings jeder Haushalt gerade mal rund 5.400 Euro gespart, so dass die Debatte um diese Regelung im Bürgergeld besonders intensiv geführt wird – anders übrigens als beim Gaspreisdeckel. Der wird für Millionärsvillen genauso gezahlt wie für eine Plattenbauwohnung.
Da sich nun aber im Vermittlungsausschuss die Sozialpolitiker von Regierungsparteien und Union einigen müssen, wird das Schonvermögen sicherlich debattiert werden. Thomas Brockmeier, der Hauptgeschäftsführer IHK Halle-Dessau, hat dazu einen eigenen Vorschlag: "Wer 25 oder 30 Jahre gearbeitet hat, da habe ich überhaupt kein Problem mit einem Schonvermögen von 60.000 Euro. Das wären ja dann nur 2.000 oder 3.000 Euro pro Arbeitsjahr. Aber wie sieht denn die Anreizwirkung aus, wenn man das undifferenziert sofort bekommt. Das halte ich dann für wirklich nicht zielführend."
Arbeitslosigkeit ist nicht gleich Arbeitslosigkeit
Als Hartz 4 eingeführt wurde, war in Sachsen-Anhalt offiziell noch jeder vierte Erwerbsfähige ohne Job. Das hat sich inzwischen deutlich geändert, aktuell liegt die Arbeitslosenquote bei rund 7 Prozent.
Etwa zwei Drittel der Erwerbslosen, rund 55.000, sind allerdings derzeit langzeitarbeitslos. Und um die wieder in "Lohn und Brot" zu bekommen, auch hier der Zusammenhang von Arbeit und Essen, sollte Hartz 4 eben nicht nur fördern, sondern auch fordern. Wer sich nach Ansicht der Jobcenter unwillig zeigt, der muss mit Sanktionen rechnen. Der Erfolg darf allerdings bezweifelt werden. Zwar sank auch in Sachsen-Anhalt die Zahl der Langzeitarbeitslosen, vor allem jedoch, weil viele von ihnen nunmehr als Rentner Geld vom Amt bekommen. Sie sind also aus der Statistik gefallen.
Wie viele der Betroffenen tatsächlich Müßiggänger sind, ist eine Debatte, die gerne geführt wird, aber wenig zielführend ist. Denn der erhöhte Druck, schon beim Versäumen eines Termins droht ja eine zehnprozentige Kürzung der Bezüge, hat kaum zu neuen Beschäftigungen geführt. Es mag Menschen geben, die sich im System eingerichtet hätten, so Sozialrechtlerin Anne Lenze, aber das sei kein Grund, die Sanktionen aufrecht zu erhalten: "Wenn man genauer hinschaut, dann sind das Menschen, die sich in der Regel komplett aufgegeben haben, weil sie wahrscheinlich auch überhaupt keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Selbstwertgefühl im Keller, keine Qualifizierung, so dass sie irgendwie einen einigermaßen bezahlten Job bekommen könnten. Also dass die sich dann in Anführungszeichen einrichten in der Situation mit Hartz IV, das scheint es schon zu geben. Aber ich glaube, dass die auch nicht in dieses System reingehören. Die müssten eigentlich in die Sozialhilfe, weil sie auch wirklich nicht vermittlungsfähig sind."
Zeitenwende auch im Sozialen?
Mit Blick auf den aktuellen Personalmangel in viele Firmen Sachsen-Anhalts zeigt sich auch IHK-Hauptgeschäftsführer Brockmeier skeptisch, ob die bisherigen Wege, Langzeitarbeitslose wieder in einen Job zu bringen, erfolgreich waren. Das Fördern und Fordern habe in diesem Bereich eher kontraproduktiv gewirkt. "Für Menschen, die jetzt langzeitarbeitslos sind, funktionieren diese Druckmodelle nicht. Da muss man andere Wege finden. Aber auch hier gilt, je attraktiver der Verbleib in in der Arbeitslosigkeit ist, um so unattraktiver wird es, sich eine Arbeit zu suchen."
Hartz 4 hatte unter anderem auch einen massiven Anstieg des Niedriglohnbereichs zur Folge. In Sachsen-Anhalt trifft das immerhin jeden vierten Arbeitnehmer. Die Inflation, vor allem der Anstieg der Energiepreise, ist vor allem für Menschen mit geringem Einkommen eine Herausforderung. Dass der von rechten Gruppierungen ersehnte "Heiße Herbst" bislang ausgeblieben ist, hat wohl auch damit etwas zu tun, dass, trotz aller Kritik, eine Mehrheit im Land das gesellschaftliche Zusammenleben nicht bedroht sieht. Doch wie schnell Stimmungslagen sich ändern können, zeigte ja die Corona-Debatte. Die Parteien wären also gut beraten, sich möglichst rasch zu einigen.
Bürgergeld im Bundesrat
Das von der Bundesregierung geplante Bürgergeld scheitert bislang am Widerstand der Union. Am Mittwoch, 23. November 2022, kommt deshalb der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat zusammen. Am Freitag, 25. November 2022, will der Bundesrat in seiner vorletzten Sitzung des Jahres das Bürgergeld möglicherweise endgültig verabschieden.
Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat am vergangenen Freitag über in seiner Plenarsitzung über das Bürgergeld debattiert. Die unterschiedlichen Positionen der im Landtag vertreten Parteien kamen dabei zur Anhörung.
MDR (Uli Witstock, Alisa Sonntag)
Dieses Thema im Programm: FAKT IST! | 21. November 2022 | 22:15 Uhr
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