Wirtschaft Pleitewelle in Sachsen-Anhalt? Insolvenzforscher gibt Entwarnung
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01. September 2024, 16:53 Uhr
Immer mehr Unternehmen und Privatpersonen in Sachsen-Anhalt melden Insolvenz an. Wie bedrohlich ist die Situation? Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle schätzt die Entwicklung ein.
- Die Zahl der Insolvenzanträge von Unternehmen ist im ersten Halbjahr 2024 in Sachsen-Anhalt um 25 Prozent gestiegen.
- Insolvenzforscher Steffen Müller vom IWH schätzt die Situation allerdings keineswegs als bedrohlich ein – und erklärt, warum nicht.
- Vielmehr sei die Entwicklung auch Folge der Staatshilfen während der Corona-Pandemie, durch die Unternehmen vor der Pleite gerettet wurden.
Insolvenzforscher Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) glaubt, dass Sachsen-Anhalts Wirtschaft von einer großen Pleitewelle in den kommenden Monaten verschont bleiben wird. Im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT sagte der Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität des IWH: "Wir sehen bei den Frühindikatoren keine auffälligen Werte. Deswegen denke ich nicht, dass die Insolvenzen in den nächsten zwei, drei, vier Monaten durch die Decke gehen werden."
Zwar nahm die Zahl der Insolvenzanträge im ersten Halbjahr 2024 in Sachsen-Anhalt zu. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes gingen rund 25 Prozent mehr Unternehmen pleite als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Von einer "Pleitewelle" war mancherorts die Rede.
Aber: "Ich mache mir um Sachsen-Anhalt vergleichsweise wenig Sorgen", sagt Müller, denn: "Sachsen-Anhalt hat im Bundesvergleich sehr wenige Unternehmensinsolvenzen pro Einwohner. Und das gilt auch, wenn wir uns auf die etwas größeren Personen- und Kapitalgesellschaften konzentrieren."
Sachsen-Anhalt früher mit "einer der höchsten Insolvenzquoten in ganz Deutschland"
Vor allem der historische Vergleich helfe, um die aktuelle Situation einzuordnen, so der Insolvenzforscher. "In den Jahren 1999/2000 war das alles ganz anders. Da hatte Sachsen-Anhalt ein Vielfaches der Insolvenzen von heute zu beklagen und eine der höchsten Insolvenzquoten in ganz Deutschland", blickt Müller zurück.
Auch der Vergleich mit der Zeit vor der Corona-Pandemie helfe, die Lage zu bewerten. Beim Blick auf die Anzahl der Insolvenzanträge würde auffallen, dass "sie in Sachsen-Anhalt entgegen dem Bundestrend sogar gesunken sind", sagt Müller. "Die Werte lagen 2023 knapp ein Drittel unter den Werten von 2019 in Sachsen-Anhalt. Der Anstieg, den wir in den vergangenen Monaten gesehen habe, hat gerade einmal dazu geführt, dass in Sachsen-Anhalt das Niveau von 2019, 2020 erreicht worden ist."
Mehr Insolvenzen? "Rückstau" aus der Corona-Pandemie
In den Jahren vor der Corona-Pandemie sei die Anzahl der Insolvenzen deutschlandweit immer wieder gesunken, sagt Müller. Während der Pandemie habe es dann noch einmal einen starken Einbruch gegeben. "Von diesen historischen Tiefständen aus sind die Zahlen dann wieder angestiegen", sagt der Experte. Die Gründe dafür seien vielfältig.
Müller sagt: "Zum einen ist es die derzeit schwierige ökonomische Lage mit vielen Kostensteigerungen für Unternehmen – insbesondere auch Zinssteigerungen durch die Europäische Zentralbank in Folge der Inflation, die die Finanzierungskosten für hoch verschuldete Unternehmen erhöht haben. Das führt dazu, dass viele jetzt in die Insolvenz gehen müssen."
Zweiter Hauptgrund für die gestiegene Anzahl an Insolvenzen sei ein Rückstau aus der Pandemie-Zeit. "Wir haben ja viele Unternehmen mit Staatshilfen gerettet", sagt Müller. "Das waren zum Teil sehr schwache Unternehmen, die jetzt aus dem Markt ausscheiden müssen."
Über das IWH
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ist eine außeruniversitäre Einrichtung für empirische wirtschaftswissenschaftliche Forschung. Das Institut verfolgt entsprechend seiner Satzung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, insbesondere wissenschaftliche Zwecke.
Das IWH wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1992 gegründet. Als Institut der Leibniz-Gemeinschaft wird sein institutioneller Haushalt zu jeweils 50 Prozent von Bund und Ländern finanziell getragen.
Baugewerbe, Handel und Werkstätten besonders von Insolvenzen betroffen
Laut Statistischem Landesamt betrafen die Insolvenzen in diesem Jahr in Sachsen-Anhalt vor allem das Baugewerbe (31 Anträge), den Handel, Kfz-Werkstätten (21 Anträge) und das verarbeitende Gewerbe (18 Anträge). Insolvenzforscher Müller sagt mit Blick auf den bundesweiten Trend: "Im Prinzip sind alle Branchen betroffen. Vielleicht etwas stärker noch der Baubereich, der ja auch darunter leidet, dass die Kunden durch gestiegene Zinsen eben weniger Kredite aufnehmen können für den Hauskauf."
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) sowie die Handwerkskammer Magdeburg erklärten auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT, eng zusammenzuarbeiten, um betroffenen Unternehmen zu helfen. So sei kürzlich ein Netzwerk zur Unternehmenssicherung gegründet worden. Expertensprechtage und Online-Seminare zu Sanierungs- und Restrukturierungsmöglichkeiten seien verstärkt in Planung.
Ob es aufgrund gestiegener Zinsen für insolvente Unternehmen schwerer werden würde, sich zum Beispiel mithilfe von Investoren zu sanieren, sei derzeit noch nicht absehbar, so Müller. "Generell ist es so, dass nur ein kleiner Teil der insolventen Unternehmen überhaupt in die Sanierung geht", sagt der IWH-Experte. "Etwa zehn Prozent der insolventen Unternehmen gehen überhaupt in eine Sanierung. Da muss man dann schauen, wie sich das entwickelt, weil solche Sanierungen zum Teil viele Jahre dauern. Das heißt, was wir momentan beobachten, gibt noch keinen Aufschluss darüber, wie Sanierungen sich entwickeln werden."
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 01. September 2024 | 19:00 Uhr
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