Spätfolgen der Pandemie Mehr Karies durch Corona: Ärzte wollen Zähneputzen in der Kita zur Pflicht machen
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30. Juli 2023, 16:51 Uhr
Die Folgen der Corona-Pandemie sind an vielen Stellen immer noch spürbar. Direkt betroffen sind jene, die unter Long Covid leiden und über zu wenig Unterstützung klagen. Aber auch anderswo scheinen die Langzeitfolgen der Pandemie erst allmählich sichtbar zu werden – etwa bei Kindern.
- Kinder mit gesunden Zähnen – Sachsen-Anhalt war in dieser Hinsicht lange auf einem guten Weg. Doch dann kam die Corona-Pandemie.
- Die Zahnärztekammer beklagt, dass in vielen Kitas auch nach Ende der Pandemie zu wenig für die Zahngesundheit getan wird.
- Auch beim Sprechen und der Motorik schneiden mehr Kinder in Sachsen-Anhalt schlechter ab als noch vor Jahren.
Wenn es um die Zahngesundheit geht, schneidet Sachsen-Anhalt eigentlich ganz gut im bundesdeutschen Vergleich ab. Das bestätigt auch Dr. Nicole Primas, im Vorstand der Zahnärztekammer zuständig für die Vorsorge: "Wir waren in den Jahren vor der Corona-Pandemie eigentlich auf einem sehr guten Weg. Wir hatten sehr, sehr viele Kinder, die kariesfrei waren bis zum sechsten oder sogar bis zum zwölften Lebensjahr."
Doch inzwischen entdecken die Zahnärzte immer mehr Karies, vor allem bei Kindern. Zwar werden die aktuellen Zahlen erst im Herbst veröffentlicht, doch die Tendenz sei deutlich, sagt Nicole Primas. Der plötzliche Anstieg, so ihre Vermutung, sei eine Langzeitfolge der Corona-Pandemie.
Corona, Karies und weniger Mühe um die Zahngesundheit
Einen direkten medizinischen Zusammenhang zwischen Corona und Karies gibt es zwar wohl nicht, denn das Virus greift keine Zähne an. Doch hat der Kampf gegen die Pandemie den Kampf um die Zahngesundheit zurücktreten lassen. Das gut abgestimmte System aus Vorsorge und Kontrolle sei durcheinander geraten, erklärt Zahnärztin Nicole Primas: "Es wurde verboten, in den Kitas die Zähne zu putzen. Wir haben dann interveniert, haben Checklisten für das ordentliche Zähneputzen auch unter Pandemie-Bedingungen erstellt. Es gab keine Reihenuntersuchungen mehr. Zudem waren die Zahnarztpraxen zu oder nur für Schmerzpatienten geöffnet."
Manche Kitas ruhen sich so ein wenig aus mit dem Hinweis auf Personalmangel. Wir kennen natürlich die Situation auch in den Kitas, aber Zähneputzen gehört nun mal zu den wichtigen Dingen.
Inzwischen ist Corona verschwunden, geblieben sind die Zahnschmerzen, denn das bewährte System habe sich noch immer nicht wieder eingespielt. Das Zähneputzen sei in vielen Kitas nicht mehr üblich, kritisiert Nicole Primas: "Manche Kitas ruhen sich so ein wenig aus mit dem Hinweis auf Personalmangel. Wir kennen natürlich auch die Situation in den Kitas, aber Zähneputzen gehört nun mal zu den wichtigen Dingen."
Zahngesundheit ist eine soziale Frage
Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Zahngesundheit und den familiären Lebensverhältnissen, ist keine neue Erkenntnis. Für manche Kinder sei die Kita der einzige Ort, um Zähne zu putzen, sagt auch Nicole Primas. Zahnärzte, die den Menschen in den Mund schauen, haben einen guten Blick auch auf die sozialen Verhältnisse im Land. Zahnärztin Primas fasst ihre Erfahrungen so zusammen: "Ich denke nicht, dass es am Geld liegt, sondern dass diese Familien einfach andere Probleme haben und die Zahngesundheit irgendwo hinten runterfällt."
Doch wenn nun auch in den Kitas die Zahngesundheit keine Rolle mehr spiele, verschärfe das die Situation. Nicole Primas spricht für die gesamte Zahnärztekammer, wenn sie fordert: "Das Zähneputzen sollte in den Kitas gesetzlich verankert werden. Ich würde mir wünschen, dass das Thema Zahngesundheit in der Erzieherausbildung eine größere Rolle spielt."
Zu wenig Bewegung und Sprachprobleme bei Kindern
Krisen können bereits bestehende Trends verstärken und das gilt bei Corona vor allem für die Digitalisierung, obwohl Deutschland ja in diesem Bereich noch immer hinterherhinkt. Doch es gibt auch Schattenseiten, die sich allerdings schon vor der Corona-Pandemie abzeichneten. Ein wichtiger Gradmesser dafür sind die Daten einer Langzeit-Studie, die die Krankenkasse Barmer seit 15 Jahren in Kindergärten erhebt.
Deren aktuelle Bilanz fällt ziemlich ernüchternd aus, denn Probleme mit der Sprache und bei der Bewegung nehmen bei Kindern in Sachsen-Anhalt deutlich zu. Im Jahr 2021 sei bei rund 16.300 Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren eine Sprachentwicklungsstörung festgestellt worden, so Axel Wiedemann, Landesgeschäftsführer der Barmer. Und auch das Purzelbaumschlagen gehört nicht mehr für viele Kinder zu den Grundfähigkeiten, denn 4.800 Kinder hätten inzwischen Probleme mit der Motorik.
Gesamte Bandbreite der Gesellschaft betroffen
Seit 15 Jahren stellt die Barmer diesen Trend fest und in diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Kinder mit Sprachproblemen verdoppelt. Bei den motorischen Defiziten zeigt sich sogar eine Vervierfachung der betroffenen Kinder. Für Axel Wiedemann ist die Ursache relativ einfach auszumachen. Da reiche der Blick auf den Alltag vieler Familien: "Wenn die Eltern schon nicht mehr miteinander kommunizieren, sondern einfach ganz verzaubert auf ihr Display schauen, dann geht das bei den Kindern sicherlich ganz schnell, dass die das in ähnlicher Art nachahmen."
Diese Weltflucht ins Digitale könne aber dramatische Folgen haben, wenn nämlich das Sprachvermögen nicht trainiert wird. "Wenn Elternteile sich nicht auf das kindliche Entwicklungsniveau einlassen, dann ist das Kind im Prinzip auf sich selbst gestellt und es bleibt bei einer stummen Interaktion mit Technik." Sprachprobleme haben Schulprobleme zur Folge, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, was wiederum Folgen für den Bildungsweg hat.
Rückkehr zur "Normalität" nicht immer geglückt
Schon im März dieses Jahres verwies die hallesche Psychotherapeutin Inés Brock-Harder, Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, auf die besonderen Probleme für Kinder und Jugendliche. "Für viele Kinder und Jugendliche gibt es ein Problem mit der sogenannten Rückanbindung. Sie finden nicht zurück in ihre Freizeitaktivitäten oder Freundeskreise."
Im Video vom März 2023 können Sie sehen, welche Spätfolgen die Corona-Pandemie nach Einschätzung von Inés Brock-Harder für Kinder hat.
Long Covid ist bis jetzt vor allem als eine komplizierte medizinische Diagnose bekannt, aber auch im Sozialbereich hat die Pandemie für dauerhafte Probleme gesorgt, die bislang wohl zu wenig Beachtung finden.
MDR (Uli Wittstock)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. Juli 2023 | 09:00 Uhr
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