Eine blinde Person mit einem Stock
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Kooperation mit Bürgern Warum wir bei MDR SACHSEN-ANHALT das Thema Barrierefreiheit in den Fokus rücken

08. Mai 2024, 14:32 Uhr

Bar-rie-re-frei-heit. Ein Wort, das so gar nicht hip klingt, eher sperrig und bei dem viele automatisch an Menschen mit Behinderungen denken. Doch Barrierefreiheit kommt allen zugute. Land- und Stadtbewohnern, Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderungen. MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV wollen mit dem Projekt "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" herausfinden, wie barrierefrei Sachsen-Anhalt ist und setzen dabei auf die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger. Eine erste Bilanz.

Das Supermarktregal – zu hoch. Die Platzangabe auf der Theaterkarte – zu klein. Das amtliche Formular – zu kompliziert. Die Durchsage am Bahnhof – zu vernuschelt. Die Busverbindung in die nächste Stadt – zu selten und unzuverlässig. Der Gehweg – zu schmal, holprig und schwach beleuchtet.

Barrieren sind vielfältig. Das ist uns schon bei der Vorbereitung des Projektes "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV sehr deutlich geworden. Auch, dass es neben Barrieren in der Umwelt noch immer Barrieren in den Köpfen gibt. 

Eine Frau nutzt mit ihrem elektrischen Rollstuhl den Behinderten-Aufzug des Rathauses in Wiesbaden. 1 min
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MDR SACHSEN-ANHALT Mi 10.04.2024 06:00Uhr 01:03 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/audio-rathaeuser-barrierefrei100.html

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2023 hat Comedian und Schauspieler Tan Caglar für unser MDR-Reiseformat #hinREISEND Ausflugsziele und Freizeitaktivitäten in Sachsen-Anhalt auf ihre Barrierefreiheit hin getestet. Bei der Vorstellung der vierteiligen Staffel in Oschersleben wünschte sich eine Besucherin, dass es solche Veranstaltungen wie diese, wo Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenkommen, häufiger gebe.

Eine andere erzählte, dass sie als Rollstuhlfahrerin bei Konzerten oft im Abseits lande und weit hinten platziert werde. In Oschersleben dagegen durfte sie mittendrin sein, das rührte sie – und das rührte uns. Von diesem Abend nahmen wir den Auftrag mit, den Fokus zu weiten, über das Reisefeld hinaus. Schließlich ist Barrierefreiheit Voraussetzung für das Recht auf Teilhabe.

Ein junger Mann im Rollstuhl 17 min
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Was ist Ziel des Projektes?

Mit dem Projekt "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" wollen wir das Thema Barrierefreiheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten, informieren und Begegnungen schaffen – und so auch mit Vorurteilen und Irrtümern aufräumen. Voraussetzung dafür: Dass wir viele Menschen erreichen. Doch wie schafft man das, wenn viele bei dem Begriff "Barrierefreiheit" einfach abschalten?

Da wir unsere journalistischen Produkte auch im Netz anbieten, wissen wir ziemlich genau, welche Keywords stark nachgefragt werden – und welche nicht. Barrierefreiheit rangiert eher unten. Wie barrierefrei ein Hotel, ein Geschäft oder Museum ist, dafür interessieren sich nur wenige, auch wenn Barrierefreiheit meist Komfort für alle bedeutet. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, Begriffe wie "Barriere", "barrierefrei" und "Barrierefreiheit" nicht in den Projekttitel aufzunehmen. Nicht, weil wir denken, dass es einen anderen (womöglich cooleren) Begriff braucht, sondern weil sich viele Menschen davon nicht angesprochen fühlen – wegen der Barriere im Kopf.

Lange haben wir auch überlegt, ob wir im Titel duzen oder siezen. Für beides gibt es gute Gründe dafür und dagegen. Leider kommt es noch viel zu oft vor, dass Menschen mit Behinderungen nicht derselbe Respekt entgegengebracht wird wie Menschen ohne Behinderungen. Das äußert sich darin, dass sie unabhängig vom Alter und Grad der Beziehung geduzt werden oder schlimmer noch, dass sie – ob aus Absicht oder Unbedarftheit – ignoriert werden und stattdessen ihre Begleitung angeschaut und angesprochen wird, wenn es doch eigentlich sie waren, die eine Frage gestellt haben.

Warum haben wir uns also trotzdem für das Du im Titel entschieden? Weil wir damit Nähe ausdrücken wollen – und Respekt. Wir wollen Barrieren einreißen, indem wir Menschen zusammenbringen. Außerdem haben wir nicht weniger als "alle" zur Zielgruppe, wie auch unser Projektlogo illustrieren soll. Was in Zeiten, in denen Zielgruppen bedingt durch Interessen und Algorithmen immer spitzer werden müssen, schon ein wenig verrückt, aber auch mutig ist. Und diesen "allen" möchten wir natürlich denselben Respekt entgegenbringen.

Was haben die Menschen von dem Projekt?

Alle können mitmachen und Barrieren in ihrer Stadt, ihrem Wohnviertel, ihrer Straße melden. Dafür bieten wir online eine Karte an, in der Hindernisse direkt verortet werden können. Teilnehmende können Fotos von der zu steilen Rampe vorm Geschäft oder dem defekten Aufzug in der Stadtbibliothek hochladen, das Problem näher umschreiben und Lösungsvorschläge machen. Community-Journalismus par excellence.

Vor Veröffentlichung prüfen wir die Meldungen, um Nonsens-Einträge auszuschließen. Zur Verifizierung greifen wir u.a. auf Google Street View zurück. Transparenz ist uns wichtig, deshalb kann jeder die Meldungen sehen und sich inspirieren lassen. Vielleicht fällt dem einen oder anderen beim Scannen der Einträge noch eine weitere Barriere ein. Wir ermuntern ausdrücklich auch die, deren Vertrauen in Medien verloren gegangen ist, zur Teilnahme. Hier wird nichts "vertuscht", jede und jeder hat die Chance, sich mitzuteilen.

Wir Journalistinnen und Journalisten selbst können keine Fahrstühle reparieren, aber wir können mit einer umfangreichen Berichterstattung auf Barrieren aufmerksam machen und weiter recherchieren.

Ricarda Wenge MDR-Redakteurin

Wir werten die Einträge aus, schauen, welche Geschichten sich dahinter verbergen. Welches Problem tritt gehäuft auf? Welche Meldung eröffnet einen ganz neuen interessanten Aspekt, der bislang nirgends auftauchte? Wir Journalistinnen und Journalisten selbst können keine Fahrstühle reparieren, aber wir können mit einer umfangreichen Berichterstattung (TV, Radio, Online, Social Media) auf Barrieren aufmerksam machen und weiter recherchieren. Wo mangelt es an Unterstützung durch die Kommunen? Wo wird womöglich Geld verschwendet, weil eine Maßnahme zur Barrierefreiheit nicht so greift wie erhofft?

Über Barrierefreiheit hat jetzt auch die Runde bei FAKT IST! aus Magdeburg diskutiert. Hier können Sie die Sendung in voller Länge sehen.

Aber wir wollen nicht nur "meckern". Wir wollen auch die Lösungsvorschläge der Menschen diskutieren und Positivbeispiele vorstellen, also Städte und Einrichtungen präsentieren, die Barrieren erfolgreich abgebaut haben. Wie haben sie das gemacht? Was kann man von ihnen lernen? Lässt sich das Beispiel auf Ort XY übertragen?

Macht unsere Online-Karte der Wheelmap Konkurrenz? 

Nein. Wir schätzen die Wheelmap, ein Projekt des Vereins Sozialhelden, sehr. Sie ist die Karte für rollstuhlgerechte Orte, verfügbar in über 30 Sprachen, weltweit angelegt

Mit unserem Projekt sprechen wir nicht nur Personen mit Mobilitätseinschränkungen an, deshalb treten auch andere Barrieren zutage. Um zu prüfen, ob wir schon die erreichen, die wir erreichen wollen oder ob wir noch gezielter auf eine Gruppe zugehen müssen, erlauben wir uns online die Frage, ob z.B. eine Seh-, Geh- und/oder Hörbehinderung vorliegt, ob die Person mit kleinen Kindern unterwegs ist etc. Die Angaben sind freiwillig. 

Die Online-Umfrage bieten wir dank der Unterstützung unserer Kolleginnen und Kollegen der MDR-Barrierefreiheit auch in Leichter Sprache an. Im Vorfeld haben wir Umfrage und Karte von verschiedenen Vereinen, Verbänden und Privatpersonen testen lassen, um beides so barrierefrei wie (technisch) möglich zu gestalten. Für dieses Feedback sind wir sehr dankbar, denn infolgedessen haben wir mehrmals nachgebessert, u.a. Farbkontraste gestärkt und mehr Orientierungspunkte in die Karte aufgenommen. Nach wie vor nehmen wir gern weiter Hinweise entgegen und prüfen, was umsetzbar ist. Hundertprozentige Barrierefreiheit werden wir leider nicht erreichen. Wer mit Karte und Umfrage nicht zurechtkommt, kann außerdem den MDR SACHSEN-ANHALT-Hörerservice kontaktieren und mit Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen alles am Telefon ausfüllen. 

Was hat es mit den Mobilen Lokalredaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde auf sich?

Zusätzlich zum Online-Angebot sind wir während des Projektes in insgesamt drei Städten in Sachsen-Anhalt mit einer sogenannten Mobilen Lokalredaktion präsent – für mehrere Tage. Dort wollen wir uns direkt mit den Menschen über Barrieren im Alltag austauschen. Parallel dazu bieten wir eine Reihe unterschiedlicher Aktionen an – von einer Graffiti-Aktion für Jugendliche über einen inklusiven Sportnachmittag bis hin zum Picknick für Familien.

Wenn wir könnten, würden wir gerne in jeder Stadt in Sachsen-Anhalt eine Mobile Lokalredaktion eröffnen, doch wir mussten uns beschränken und haben uns für Dessau, Halberstadt und Tangermünde entschieden – aus unterschiedlichen Gründen. Das Offensichtliche: Wir wollten uns geografisch nicht nur auf eine Region konzentrieren – und wir wollten eine inhaltliche Vielfalt. In Dessau als drittgrößter Stadt in Sachsen-Anhalt tauchen andere Barrieren auf als in einer Kleinstadt wie Tangermünde. Dessau steht mit dem Bauhaus Museum für Design und Architektur (Stichwort: Wie sieht es mit barrierefreiem Wohnen aus?). In Tangermünde mit seiner gut erhaltenen Altstadt stellt sich die Frage, wie sich Denkmalschutz und Barrierefreiheit vereinen lassen. Das war uns bereits auf der eingangs erwähnten Filmvorstellung in Oschersleben 2023 zugetragen worden, verbunden mit einer Einladung, vorbeizukommen. Dieser sind wir nun gefolgt. In Halberstadt gibt es sehr engagierte Menschen, die durch ihren Einsatz bereits einige Barrieren erfolgreich abbauen und ihre Stadt so lebenswerter für alle gestalten konnten, das hat uns neugierig gemacht.  

Was haben wir gelernt?

Wir haben in den vergangenen Monaten viel gelernt – und wir lernen täglich dazu. Das inklusive Magazin andererseits hat uns in vielen Dingen beraten: Wie können wir die Mobilen Lokalredaktionen und die Aktionen möglichst barrierefrei gestalten, wie spreche ich über Behinderung? Handicap, Einschränkung, Beeinträchtigung, Menschen mit besonderen Bedürfnissen: Welche Begriffe, Formulierungen sind okay, welche sollte man vermeiden? Wie begrüße ich eine Rollstuhlfahrerin: Beuge ich mich herunter oder nicht?

Viele aus dem Projektteam sind sich durch die Beschäftigung mit dem Thema Barrierefreiheit erst einmal ihrer eigenen Hemmungen bewusst geworden. Was dagegen hilft: Kontakt. Mit unserem Projekt wollen wir die Begegnung fördern, das Kennenlernen untereinander. Denn genauso wenig, wie es "die" Medien gibt, genauso wenig bilden Menschen mit Behinderungen eine einheitliche Gruppe. Der eine mag seine Behinderung als "Handicap" bezeichnen, für die andere ist das ein absolutes No-Go. Genauso ist Rollstuhl nicht gleich Rollstuhl. Wer mit einem Aktivrollstuhl unterwegs ist, kommt vielleicht durch schmalere Türen hindurch als jemand mit Elektrorollstuhl, dafür aber ist vielleicht das Kopfsteinpflaster noch herausfordernder als ohnehin schon.

Was hilft: Kommunikation. Nachfragen. Zuhören. Sich trauen. Und dabei nicht vergessen, dass Behinderungen nie den ganzen Menschen ausmachen. Wie identitätsstiftend eine Behinderung ist, entscheidet jeder für sich selbst. Was uns aber alle eint: Wir sind Menschen – und das ist es, was zählt. Dort, wo Barrierefreiheit nicht gegeben ist und somit das Recht auf Teilhabe untersagt wird, bleiben unter Umständen Begegnungen mit wundervollen Menschen aus. Deshalb sollte Barrierefreiheit auch kein Nischenthema sein, sondern sich wie selbstverständlich in der Berichterstattung aller Ressorts – von Kultur bis Sport – wiederfinden. Nicht nur am 3. Dezember zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen, sondern ständig und überall. Wir bleiben dran. 

Über die Autorin Ricarda Wenge ist als Redakteurin Teil des Teams von MDR SACHSEN-ANHALT und leitet das crossmediale Projekt "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" Sie liebt investigative Recherche, verpackt in lange Formate, genauso wie bewegte Bilder und Bilder, die bewegen. Barrieren, so ihre Erfahrung, lassen sich am besten durch offene Kommunikation, ehrliches Interesse und gegenseitiges Kennenlernen abbauen – über kulturelle Grenzen hinweg. Sie selbst spricht mehrere Sprachen, hat Journalistik an der Universität Leipzig studiert und beim MDR volontiert.

MDR (Ricarda Wenge, Sebastian Gall)

Dieses Thema im Programm: FAKT IST! aus Magdeburg | 29. April 2024 | 22:10 Uhr

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