NSU-Aufarbeitung 1.900 Seiten über das Versagen

21. August 2014, 22:30 Uhr

Seit 2011 das NSU-Trio aufflog, läuft die Aufarbeitung, wie die Gruppe jahrelang von den Sicherheitsbehörden unentdeckt morden konnte. Der Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss geht mit den Sicherheitsbehörden hart ins Gericht. Das Gremium meint, bei der Suche nach dem Terror-Trio seien derart viele falsche Entscheidungen gefällt worden, dass der "Verdacht gezielter Sabotage" naheliege.

Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss hat den Sicherheitsbehörden bei der Verfolgung des NSU-Trios "Versagen auf ganzer Linie" bescheinigt. Das geht aus dem Abschlussbericht vor, den der Ausschuss am Donnerstag nach zweieinhalb Jahren Aufarbeitung vorlegte. Ausschussvorsitzende Dorothea Marx sagte bei der Präsentation, die Fehlleistungen von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz hätten ein "erschreckendes Ausmaß" angenommen. Es sei damit "nicht mehr vertretbar", lediglich von "unglücklichen Umständen oder Pannen" zu sprechen, so die SPD-Politikerin in Erfurt. Bei der Suche nach dem Terror-Trio seien derart viele falsche Entscheidungen gefällt worden, dass der "Verdacht gezielter Sabotage" naheliege, hieß es. Konkret heißt das, dass Behörden Informationen zurückhielten, um ihre Quellen, wie umstrittene V-Männer zu schützen.

Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu. Die Geschichte der von 1998 bis 2003 von allen daran Beteiligten betriebenen bzw. nicht betriebenen Fahndung ist im Zusammenhang betrachtet ein einziges Desaster.

Aus dem Bericht des Thüringer Untersuchungsausschusses "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln

Bericht spricht von "schwerer Schuld"

Mehr noch: Das Gremium geht davon aus, dass die NSU-Mordserie verhindert hätte werden können. Im Bericht steht: Hätten die Ermittler bereits nach dem Sprengstofffund von 1998 in Jena richtig gehandelt, wäre der weitere Verlauf mit hoher Wahrscheinlichkeit anders gewesen. Das sei "eine schwere Schuld, die auf Thüringen lastet". Eine Meinung, die der Thüringer Innenminister Jörg Geibert teilt. Die Ermittlungen zu den drei mutmaßlichen Neonazi-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe seien "ein beispielloser Fall von Behördenversagen in Bund und Ländern" gewesen, sagte der CDU-Politiker am Donnerstag.

Landtag bittet um Verzeihung

Landtagspräsidentin Birgit Diezel nahm den Bericht zum Anlass, um sich im Namen des Thüringer Landtags bei den Opfern der NSU-Terrorzelle zu entschuldigen. Wörtlich sagte sie: "Wir bitten Sie für die Verdächtigungen und für die lange Zeit fehlende Empathie um Verzeihung." Der Bericht soll am Freitag im Thüringer Landtag in einer Sondersitzung diskutiert werden. 

"Ich kann mich nicht erinnern"

Der Abschlussbericht beleuchtet auf knapp 1.900 Seiten die Arbeit der Thüringer Sicherheitsbehörden. In 68 Sitzungen wurden über 11.600 Akten ausgewertet, sowie 123 Zeugen und Sachverständige zum Teil mehrfach gehört. Die am häufigsten ausgesprochene Feststellung von Befragten sei der Satz "Ich kann mich nicht erinnern," gewesen, sagte FDP-Obmann Heinz Untermann bei der Vorstellung des Berichtes.

Als gravierende Fehler bei der Fahndung werden neben dem Jenaer Sprengstofffund ferner auch das Verschwinden einer erst 2011 wieder aufgetauchten Namensliste mit Kontakten in die rechte Szene genannt und das Nichtbeachten zahlreicher Hinweise. Der Bericht beschäftigte sich auch mit dem gesellschaftlichen Klima, in dem sich das spätere mutmaßliche Terror-Trio in den 1990er-Jahren radikalisierte.

Das Fiasko im Fall des NSU geht weniger auf Organisationsmängel, sondern wesentlich darauf zurück, dass die nicht erst mit dem Sprengstofffund zutage getretene wachsende Gewaltbereitschaft der militanten rechten Szene massiv unterschätzt und sowohl politisch als auch gesellschaftlich nicht die erforderliche Priorität einnahm.

Aus dem Bericht des Thüringer Untersuchungsausschusses "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln

Jahrelang blieb der NSU unentdeckt

Bei einer Razzia des Landeskriminalamtes Ende Januar 1998 war in Jena eine Bombenwerkstatt des NSU-Trio in einer Garage aufgeflogen. Keiner der drei Neonazis konnte aber gestellt werden. Der Ablauf der Razzia war einhellig als schlecht koordiniert kritisiert worden. Unter anderem mussten die Ermittler an der Garage erst auf die Feuerwehr warten, um ein dort nicht vermutetes Vorhängeschloss öffnen zu lassen, was etwa Uwe Böhnhardt einen Vorsprung vor den Fahndern verschaffte. Seine Wohnung war ebenfalls durchsucht worden. Das Trio tauchte danach in Sachsen unter, erst 2011 flog es nach einem Banküberfall im thüringischen Eisenach auf. Dort erschossen sich Böhnhardt und Mundlos. Zschäpe steht derzeit in München vor Gericht. Dem NSU-Trio werden zehn Morde, eine Reihe von Banküberfällen und zwei Nagelbomben-Anschläge zur Last gelegt.

Vier Untersuchungsausschüsse wurden eingesetzt, um sich mit den Vorgängen um die rechte Terrorzelle und der Mordserie zu befassen, für die sie verantwortlich gemacht wird. Dem Thüringer Untersuchungsausschuss gehörten drei CDU-Abgeordnete, je zwei Mitglieder von SPD- und Linksfraktion sowie je ein Vertreter von FDP und Grünen an.

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