Jahresrückblick Ostdeutsche 2019: Glücklich aber unversöhnt

22. Dezember 2019, 05:00 Uhr

Knapp neun Millionen Ostdeutsche haben bei den Landtagswahlen 2019 gewählt. Dabei wurde deutlich, wie polarisiert die politische Stimmung ist. Dem Gefühl, abgehängt zu sein, stehen Wohlstand und Zufriedenheit gegenüber.

Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen hat 2019 ihre Stimme abgegeben: In Thüringen, Sachsen und Brandenburg mit ihren zusammen knapp neun Millionen Einwohnern wurden neue Landtage gewählt. Seither wurde um Mehrheiten gerungen und analysiert. Denn in Wahljahren geht es ja nicht nur mathematisch nüchtern um Parlamentssitze oder Zweitstimmenanteile – es wird auch hineingehört ins Land. Wäre es ein Patient, müsste man sagen: Das Jahr war ein langer Krankenhausaufenthalt.

Die Ärzte, das sind in diesem Fall die Meinungsforscher und Demoskopen, die Talkshow-Protagonisten und Leitartikelschreiber. Warum wählt der Osten, wie er wählt, war die brennende Frage der dauerhaften Anamnese. Und die gestellten Diagnosen sind so vielfarbig wie die Wahlergebnisse selbst. Wahlstatistiken, Meinungsumfragen und Studien, die zum Teil nichts Geringeres wollen, als das Glück im Land zu messen, geben ein irritierendes Bündel gesellschaftlicher Zustandsbeschreibungen ab, das mehr Fragen aufwirft als es beantwortet.

AfD bei gut einem Viertel

Die harten Fakten: Die AfD – ihr Abschneiden ist das, was die Mehrheit der Politik-Analysten im Wahljahr am meisten umgetrieben hat – kam bei allen drei Wahlen auf stabile Stimmenanteile weit jenseits der 20-Prozent-Marke: in Thüringen auf 23,4 Prozent, in Brandenburg auf 23,5 und in Sachsen sogar auf 27,5 Prozent.

Laut Nachwahlumfragen von Infratest Dimap war in allen drei Ländern das Thema Zuwanderung der Hauptgrund für AfD-Wähler, ihr Kreuz bei der Partei zu machen. Jeweils mindestens 30 Prozent der AfD-Wähler in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gaben an, die Partei deswegen gewählt zu haben. Stellt man dem die Zahlen der gestellten Asylanträge in den drei Ländern gegenüber (laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurden in den ersten zehn Monaten 2019 in den drei Ländern zusammen 10.000 Erstanträge auf Asyl gestellt, muss man sagen: Hier ist die Angst vor Zuwanderung größer als die Zuwanderung selbst.

Soziale Themen nicht ausschlaggebend

In Thüringen auf Platz zwei der Hauptgründe für die Wahl der AfD, in Brandenburg immerhin auf Platz drei: Löhne und Rente. Das verwundert insofern, als dass die AfD noch nicht einmal ein Rentenkonzept hat. Ein Parteitag, auf dem die beiden diametral unterschiedlichen Ansätze für eine Rentenpolitik in der Partei behandelt und der Streit um die rentenpolitische Ausrichtung beigelegt werden soll, wurde ins Jahr 2020 verschoben.

Und in Sachen Löhne? Der Mindestlohn ist als arbeitspolitisches Instrument in der AfD nicht herausragend gut gelitten. Ein Teil der Partei will ihn abschaffen, ein anderer nicht anheben. Dem MDR-Magazin "exakt" sagte der Thüringer Co-Parteichef Möller, der Mindestlohn sei "eine Art Fetisch für manche Leute".

"Manche Leute", das sind in diesem Zusammenhang wohl Linke, SPD und Grüne. Alle drei Parteien fordern, dass der Mindestlohn angehoben wird. Und im Fall von SPD und Linke sind Soziale Sicherheit, Arbeit sowie Rente und Löhne auch drei der Hauptgründe, warum sie von den Menschen gewählt wurden. Beide Parteien haben bei den Wahlen aber Stimmen eingebüßt, außer die Linke in Thüringen, dort konnte die Partei 2,8 Prozentpunkte zulegen, wohl als "Ramelow"-Prozente. Rechnet man diesen Zugewinn dem Kandidaten-Bonus zu, steht unterm Strich, dass die Parteien, die sich für eine Anhebung des Mindestlohns stark machen oder wie die SPD eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung durchboxen wollen, dafür an der Wahlurne nicht belohnt werden. Ganz im Gegenteil.

Abgehängt: "Ossis" Bürger zweiter Klasse?

Heißt im Umkehrschluss: Es geht denen, die gewählt haben, offenbar ganz gut. Und gewählt wird aus Gefühl? Dazu eine zentrale Erkenntnis aus Nachwahlbefragungen: 59 Prozent der Brandenburger und 66 Prozent der Sachsen stimmten der Aussage "Ostdeutsche sind Bürger zweiter Klasse" zu, in beiden Ländern finden das übrigens jeweils fast 80 Prozent der AfD-Wähler.

Für Thüringen wurde das am Wahlabend nicht erhoben. Macht aber nichts, denn die Universität Jena hat für ihren Thüringen-Monitor danach gefragt. Jeder Zweite im Land fühlt sich demnach durch Westdeutsche als Mensch zweiter Klasse eingeschätzt. Infratest Dimap hat die Frage Anfang November auch noch einmal erneuert – anlässlich des Mauerfall-Jubiläums für den ganzen Osten: 42 Prozent stimmten zu.

Sind Ostdeutsche Bürger zweiter Klasse? Bisher ist kaum ausdiskutiert worden, was die Wahlergebnisse mit dieser Frage eigentlich zu tun haben. Die Meinungsforscher haben sie aber eifrig aufgeworfen. Und die Befragten haben zugestimmt.

Es geht uns gut!

Die Umfragen des Jahres haben auch einmal mehr den Nachweis geführt, dass es den Ostdeutschen gut geht. 82 Prozent von ihnen bewerten ihre wirtschaftliche Lage als gut, und in Thüringen haben 34 Prozent der Menschen angegeben, die Lebensumstände hätten sich in ihrer Gegend in den vergangenen Jahren verbessert.

Und laut Glücksatlas sind die Menschen in Ostdeutschland so glücklich wie nie zuvor. Am glücklichsten sind im Osten die Thüringer, sie erreichen auf der "Glücksskala" der von der Deutschen Post in Auftrag gegebenen Untersuchung einen Indexwert von 7,09. Bei der Untersuchung werden die Menschen aufgefordert, ihre Lebenszufriedenheit auf einer Skala von null bis zehn zu bewerten. Das Mittel ergibt den Indexwert. Tatsächlich liegen die ostdeutschen Länder und Berlin auf den hinteren Plätzen der Glücks-Rangliste.

Dennoch: Im Osten ist die Lebenszufriedenheit der Untersuchung zufolge stärker gewachsen als in Westdeutschland. Bewirkt haben den Trend laut den Autoren die anhaltend gute Lage am Arbeitsmarkt und die positive Einkommensentwicklung. Die Unterschiede zwischen Ost und West werden also kleiner, auch beim empfundenen Glück. Doch je kleiner sie werden, desto deutlicher treten sie hervor.

Systematische Enttäuschungen

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat für unsere Gesellschaft die Ausbreitung "einer Logik des Vergleichs" festgestellt, die systematisch Enttäuschungen potenziere. Und so groß die eigene Zufriedenheit und der eigene Wohlstand isoliert betrachtet auch sein mögen, "die Markt- und Vergleichslogik bringt Verlierer in unberechenbarer Weise hervor, die leicht das Gefühl nährt, von den anderen auf unfaire Weise übervorteilt zu werden", schreibt Reckwitz in einem Aufsatz in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".

Dem liegen laut Reckwitz auch einige grundlegende Veränderungen von Gesellschaft und Kultur zugrunde. Vor allem in der BRD galt über Jahrzehnte das verlässliche Versprechen, sich mit Leistung auch im gesellschaftlichen Gefüge nach oben arbeiten zu können. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür in den 1980er-Jahren den Begriff "Fahrstuhleffekt" erfunden: Für alle Klassen ging es bei halbwegs leistungsbereiter Lebensführung mit dem Wohlstand bergauf. Irgendwann hatten alle einen Fernseher, dann das eigene Auto und schließlich auch ein Haus. Und dieses Versprechen galt 1989 natürlich auch für die Ostdeutschen.

Andreas Reckwitz hat das Bild vom Fahrstuhl in seinem aktuellen Buch "Das Ende der Illusionen" aufgegriffen. Demnach steht die Gesellschaft aber nicht mehr im Fahrstuhl, der nur nach oben fährt – sondern im Paternoster. Das alte Klassengefüge hat sich geändert und das, was mal eine breite Mittelschicht war, erodiert. Sie existiert zwar weiter, wird aber unter den Bedingungen einer globalisierten Ökonomie nicht mehr größer, vielmehr gibt sie Teile ab in eine neue Mittelklasse und eine neue Unterklasse. Während die Mitglieder der ersten Gruppe gut bezahlten Jobs in der Wissensökonomie nachgehen, arbeiten die Mitglieder der zweiten Gruppe in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs – in häufig prekären Beschäftigungsverhältnissen.

West-Level immer noch nicht erreicht

Noch bevor Ostdeutsche also das gleiche Niveau erreichen konnten wie Westdeutsche – die Löhne im Osten lagen 2019 immer noch mehr als 15 Prozent unter denen im Westen – fliegt uns der ganze Laden scheinbar um die Ohren, und da redet noch nicht einmal einer vom Klima. Dazu kommt auch die Erfahrung, dass die eigene Leistung und die entsprechende Belohnung allein nicht mehr zufrieden machen. Über die sozialen Medien versorgen die Angehörigen der neuen Mittelklasse (nicht nur, aber doch vor allem sie) auch die anderen mit den Bildern vom gelungenen Leben, das weniger nach Materiellem als vielmehr nach Erfahrungen, bei Reckwitz nach "Erleben", trachtet.

Im Ergebnis steht vor allem bei jenen, die nach den Idealen der alten Mittelklasse gestrebt haben, ein Gefühl der Entwertung und Entfremdung – und das, obwohl sie mit dem Erreichten, so ganz für sich, zufrieden sein können und auch sind. Wäre da nicht der Vergleich.

Untersuchungen zur Zusammensetzung der Pegida-Aufzüge hatten schon 2015 schnell die Annahme abgeräumt, da spaziere eine rechte Unterschicht. Nein, eine Studie der TU Dresden zeichnete diesen durchschnittlichen Teilnehmer: Er stamme aus der Mittelschicht, sei gut ausgebildet und berufstätig und verdiene überdurchschnittlich für einen Sachsen, der er auch sei. Er sei ein Mann und gehöre keiner Religion oder Partei an. Dass diese Gruppe – jedenfalls der Teil, der zu Pegida geht – nicht die Grünen wählt, dafür braucht man keine Studie (bestätigt hat das jene der TU Dresden aber natürlich auch).

Angst vor dem Verlust des Glücks

Es ist vor allem diese Gruppe, die nicht weiß, ob sie im Fahrstuhl steht oder in einem Paternoster, der gleich die Richtung wechselt. Sie sind es, deren traditionelles Familienbild vom Feminismus bedroht wird, so wie ihre Vorstellung von Heimat und Identität von der Zuwanderung. Und je glücklicher und zufriedener sie im Privaten sind, desto argwöhnischer stehen viele Politik und Medienöffentlichkeit gegenüber, aus Angst, das Erreichte wieder aus den Händen geben zu müssen.

Der oben schon erwähnte Thüringen-Monitor der Uni Jena ist übrigens zu der Erkenntnis gelangt, dass 24 Prozent der Thüringer rechtsextrem seien. Die Zahl ist annähernd die gleiche wie das AfD-Wahlergebnis im Freistaat (das waren 23,4 Prozent). Folgt man den Soziologen, dürfte man diese Einsicht aber weniger als Ursache für das Abschneiden der rechten AfD an sich begreifen, sondern vielmehr als ein Symptom des globalen Wandels.

"Integriert doch erstmal uns"

Zuwanderung und Migration trafen die Gesellschaft in Ostdeutschland in kultureller und sozio-ökonomischer Hinsicht nicht überraschend, aber unvorbereitet – jedenfalls in den Ausnahmejahren 2015 und 2016. Die Bilder der Ankunft hunderttausender Flüchtlinge signalisierten zweierlei: Den prekär Beschäftigten der neuen Unterklasse kündigten sie neue Konkurrenten um prekäre Jobs und staatliche Leistungen an, der wenig in interkulturelle Zusammenhänge eingebundenen alten Mittelschicht Konkurrenz um Aufmerksamkeit und um Integrationsangebote.

Die Frage "Fühlen Sie sich als Bürger zweiter Klasse?" taugt eher als oberflächlicher Claim und nur bedingt als erkenntnisgeleitete Forschungsfrage. Dass sie aber so unbeweglich im Raum steht, ist auch das Ergebnis einer Debatte, die 2019 erst richtig Fahrt aufgenommen hat und dabei doch viel früher hätte geführt werden müssen.

Im Januar 2019 erschien Petra Köppings "Integriert doch erstmal uns. Eine Streitschrift für den Osten". Damit hatte die sächsische Integrationsministerin den Startschuss gegeben für die Bespiegelung ostdeutscher Zustände, die in vielen Fällen eine Selbstbespiegelung ist. Es folgten weitere Beiträge, die umso aufschlussreicher sind, je mehr die Autoren wie Köpping auch über sich selbst schreiben. Zahlreiche Studien, Umfragen, Sachbücher und natürlich auch drei Wahlen später kann die Diagnose nur lauten: Der Patient ist glücklich – aber unversöhnt.

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