MDRfragt Viele zweifeln an stabiler Brombeer-Regierung in Thüringen
Hauptinhalt
03. Dezember 2024, 11:00 Uhr
Erst seit wenigen Monaten hat die langjährige Linken-Spitzenpolitikerin eine nach ihr benannte Partei – und jetzt könnte das Bündnis Sahra Wagenknecht direkt Teil der neuen Thüringer Landesregierung werden. Im MDRfragt-Stimmungsbild sind viele Befragte aus Thüringen skeptisch. Manche auch wegen der Rolle der BSW-Namensgeberin. Manche wegen viel grundsätzlicherer Dinge.
- Jede und jeder Dritte glaubt daran, dass die Brombeer-Koalition Thüringen stabil regieren könnte.
- "Kleinstes mögliches Übel aufgrund der Wahlergebnisse" – so oder ähnlich argumentieren viele Befürworter der Brombeer-Koalition. Doch es gibt auch viele Gegenargumente.
- Auf dem inhaltlichen Wunschzettel stehen Gesundheit, Pflege und Bildung ganz vorn, gefolgt von Asyl-Politik.
Der noch amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat Thüringen die vergangenen fünf Jahre mit einer Minderheitsregierung regiert. Jetzt soll er von CDU-Landeschef Mario Voigt abgelöst werden.
Doch in einem aktuellen MDRfragt-Stimmungsbild unter rund 6.000 Thüringerinnen und Thüringern glaubt die Mehrheit nicht daran, dass das angestrebte Bündnis aus CDU, SPD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für Thüringen eine stabile Regierung bedeutet.
In konkreten Zahlen: Eine Mehrheit (57 Prozent) traut es der sich abzeichnenden Brombeer-Koalition eher nicht zu, Thüringen stabil zu regieren. Ein gutes Drittel (37 Prozent) hat hingegen das Vertrauen, dass die drei Parteien den Freistaat stabil regieren könnten.
Zweifel daran, dass das Brombeer-Bündnis Thüringen stabil regiert, werden von den MDRfragt-Mitgliedern immer wieder damit begründet, dass man die Regierungspartner CDU, SPD und BSW für zu unterschiedlich hält.
Hinweis Die Stimmungsbilder von MDRfragt sind auch dank der hohen Teilnehmendenzahl aussagekräftig. Da alle MDRfragt-Mitglieder ihre Meinung einbringen können und sollen, werden keine Zufalls-Stichproben gezogen. Die Ergebnisse sind damit nicht repräsentativ. Um mögliche Verzerrungen durch die Zusammensetzung der Befragten zu verringern, werden die Befragungsergebnisse nach bewährten wissenschaftlichen Methoden gewichtet. Zudem erlauben die Begründungen und Kommentare der Befragten, die Stimmungstendenzen einzuordnen. Mehr zur Methodik von MDRfragt am Ende des Artikels.
So meint zum Beispiel Andrea (62) aus dem Ilm-Kreis: "sind zu große Gegensätze". Hans Jürgen (74) aus Jena sieht es ähnlich und zieht Parallelen zwischen Berlin und Erfurt: "Es wird enden wie in der Bundesregierung: drei Parteien, eine Meinung – unmöglich. Man wird sich gegenseitig blockieren, beziehungsweise 'faule Kompromisse' schließen."
Argumente gegen Brombeere als Stabilitäts-Anker
Für andere MDRfragt-Teilnehmende sind es inhaltliche Punkte, mit denen sie ihre Skepsis begründen. So ist Jana (38) aus dem Landkreis Gotha überzeugt: "Diese Koalition ist klar konservativ und wird Thüringen nicht voranbringen."
Andere Befragte sehen hingegen vor allem ein Risiko darin, dass die Brombeer-Koalition keine eigene Mehrheit hat und immer mindestens eine weitere Stimme braucht. Zu ihnen gehört Jan (25) aus dem Landkreis Hildburghausen: "Die Koalition hat keine Mehrheit. AfD und Linke können sie blockieren, wann immer sie wollen. Vorhaben dürften somit schwer umzusetzen sein."
In eine ähnliche Richtung geht die Meinung von MDRfragt-Mitglied Julia (34) aus dem Wartburgkreis: "Die Koalition existiert nur aus dem Grund, um die AfD von der Regierung fernzuhalten. Daher wird dies nicht lange funktionieren. Außerdem sind sie nur eine Minderheitsregierung und auf Wohl und Wehe der Linke ausgeliefert."
Und Jens (52) aus dem Landkreis Gotha meint, es hätte eine stabilere Option gegeben – die die CDU allerdings per Parteitagsbeschluss generell ausschließt: "Um eine stabile Koalition zu haben, hätte man die Linke mit ins Boot holen sollen. Ich fürchte, die neue Regierung in Thüringen hält keine fünf Jahre."
Auch Stefanie (34) verweist darauf, dass die Brombeer-Koalition nicht auf wechselnde Mehrheiten setzen könnte, da alle beteiligten Parteien eine Zusammenarbeit mit der als gesichert rechtsextrem eingestuften Landes-AfD ausschließen. Die MDRfragt-Teilnehmerin aus dem Landkreis Hildburghausen kommentiert ihre Zweifel an einer stabilen Brombeer-Regierung so: "Da man nicht mit der AfD stimmen will, ist man letztlich bei jedem Vorhaben auf die Linke angewiesen." Laut Stefanie könnte dieses faktische Viererbündnis Vieles noch komplizierter machen: "Vieles aus dem Koalitionsvertrag wird man so nicht umsetzen können", meint sie.
Und immer wieder kommt das Argument: Die Namensgeberin der jüngsten Partei im Bunde – des BSW – sei unberechenbar: "Sahra wird schon dafür sorgen, dass es nicht lange hält", kommentiert etwa Malte (39) aus Erfurt.
Ähnlich formuliert es Torsten (42) aus dem Saale-Holzland-Kreis: "Die Einmischung seitens der Bundes-Parteivorsitzenden ist schon bei den Koalitionsverhandlungen unübersehbar geworden. Hier soll nach ihrem Willen ein Teil dieser Koalition politisch aus Berlin ferngelenkt werden. Das kann auf Dauer nicht gut gehen."
Was für eine stabile Regierung spricht
Wer an eine stabile Brombeer-Koalition glaubt, argumentiert hingegen immer wieder mit der zweiten prominenten BSW-Politikerin, wenn es um die Thüringer Geschicke geht: die langjährige Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf.
So stützt nicht nur Gina (43) ihre Hoffnungen für eine funktionierende Brombeer-Koalition auf Wolf: "Mit Frau Wolf haben wir in Thüringen eine kompetente Frau an der Spitze der BSW." Doch für MDRfragt-Mitglied Gina haben alle drei Partner geeignetes Personal: "Ich traue den drei Parteien eine kompetente Führung für Thüringen zu. Alle drei haben sehr viel politische, und vor allem auf kommunaler Ebene Erfahrung. Sie müssten verstanden haben, was die Thüringer bewegt."
Auch Luise (34) aus dem Eichsfeld glaubt an eine stabile Regierung: "Ich hoffe, dass sie zügig ins Arbeiten kommen und ohne Störfeuer von rechts oder besonders von links ihre Arbeit machen können." Zuversicht gibt ihr dabei auch das bisherige Agieren der BSW-Landesspitze um Katja Wolf: "Von Sahra Wagenknecht haben sich die Thüringer schließlich auch schnell emanzipiert."
Für Antonia (34) aus Gera gilt: "Demokratie soll ja von verschiedenen Ideen leben. Es wäre ein gutes Zeichen gegen Rechtsextremismus, wenn den demokratischen Parteien ein friedliches Miteinander und eine produktive Diskussion gelänge."
Für Claudia (46) aus dem Saale-Orla-Kreis gilt: "Mithilfe der Linken wird das schon klappen. Thüringen hat das mit der Minderheitsregierung ja schon geübt."
Und letztlich geht es auch in Kommentaren wie in dem von Tobias (45) aus dem Eichsfeld um die Hoffnung, dass ein Regierungswechsel frischen Wind bringt und einiges für Thüringen verbessert: "Die letzten Landesregierungen waren nicht besonders erfolgreich. Darum ist es wichtig und notwendig, mal was Neues auszuprobieren. Vielleicht funktioniert es ja besser?"
Befragte mit Blick auf Brombeer-Bündnis gespalten
Während es bei der Frage danach, ob die Brombeer-Koalition Thüringen stabil regieren könnte, eine deutliche Tendenz zur Skepsis gibt, fällt das Meinungsbarometer beim Blick auf das Brombeer-Bündnis allgemein etwas knapper aus.
Eine knappe Mehrheit (52) Prozent der Befragten aus Thüringen lehnt eine Koalition aus CDU, SPD und BSW ab oder eher ab. Doch der Anteil derjenigen, der die Brombeer-Koalition eher befürwortet ist mit 41 Prozent nicht viel kleiner.
Die Argumente der Brombeer-Befürworter und der Brombeer-Gegner sind ähnlich wie bei der Frage nach einer stabilen Regierung: Zweifel daran, dass die drei Parteien gut zusammenpassen, Skepsis an der neuen und eher unbekannten Partei BSW, aber auch Freude daran, dass es einen Regierungswechsel gibt und neue Bündnisse gewagt werden.
Dabei zeigt sich jedoch: Vor allem die Zusammenarbeit von CDU und BSW wird kritisch bewertet. Damit bestätigt sich ein Stimmungsbild aus der MDRfragt-Gemeinschaft von Mitte September: Wenige Tage nach der Landtagswahl war die Frage, ob die CDU mit dem BSW zusammenarbeiten sollte, obwohl sie das für die frühere Partei der Namensgeberin ausschließt, eine, die die Thüringer Befragten spaltete: Damals waren Befürworter (46 Prozent) und Gegner (45 Prozent) einer Zusammenarbeit von CDU und BSW in Thüringen ungefähr gleich auf.
"Kleinstes mögliches Übel aufgrund der Wahlergebnisse."
Bei manchen überwiegt der Pragmatismus. Sie befürworten es, dass es mit der Brombeer-Koalition überhaupt eine Regierungsoption gibt: "Leider lässt das Wahlergebnis kaum anderen Raum, zumal die CDU die Ansicht vertritt, dass eine Regierung mit der Linken unzulässig, eine Regierung mit dem unbekannten BSW aber vertretbar ist", meint eine Teilnehmerin (47) aus Erfurt, und ergänzt: "Immerhin ist das besser als eine wie auch immer geartete Regierung der AfD." Ähnlich sieht es Martin (49) aus Erfurt, der meint: "Kleinstes mögliches Übel aufgrund der Wahlergebnisse."
Für Daniela (50) aus dem Eichsfeld gilt: "Ich finde es gut, dass das BSW zeigen kann, was es für Thüringen und die Menschen, die in Thüringen leben, Gutes tun möchte. Wenn Ehrlichkeit dahinter steht, finde ich es top."
"Alle müssten zusammenarbeiten und sich nicht gegenseitig traktieren."
Doch es gibt auch einige MDRfragt-Mitglieder, die das Brombeer-Bündnis grundsätzlich kritisieren: wegen der politischen Ausrichtung der Partner, oder weil sie das Nein aller Parteien zu einer Zusammenarbeit mit der AfD nicht richtig finden. Die AfD wurde bei der Landtagswahl am 1. September vor der CDU stärkste Kraft.
Viele Gegner der Brombeer-Koalition argumentieren so oder so ähnlich wie Andreas (54) aus dem Weimarer Land: "Ein Drittel der Wähler hat AfD gewählt. Diese Bürger werden komplett fallen gelassen."
Allerdings verweisen nicht nur Politikwissenschaftler, wie Benjamin Höhne von der TU Chemnitz, immer wieder darauf, dass Wählerinnen und Wähler nur die Zusammensetzung des Landtages und keine Regierungsbündnisse wählen: "Wir wählen eben nicht den Ministerpräsidenten, sondern wir wählen Parteien und die müssen versuchen, eine Mehrheit im Parlament zu bekommen", sagte Höhne zuletzt wieder in einer Diskussionsrunde von MDR Aktuell.
Andere Befragte stören sich daran, dass die bisherige Minderheitsregierung von Ministerpräsident Ramelow abgewählt wurde, die SPD aber als einzige bisherige Regierungspartei auch wieder der neuen Landesregierung angehören wird. Diana (51) aus dem Altenburger Land schreibt dazu: "Die SPD wollte niemand mehr in der Regierung. Nun sind sie doch wieder dabei. Hauptsache die AfD regiert nicht. Warum geht es generell nicht um die Sache?" Diana findet: "Alle müssten zusammenarbeiten und sich nicht gegenseitig traktieren."
Auch Peggy (50) aus Gera formuliert ein immer wieder genanntes Argument, warum die Brombeer-Koalition kritisch gesehen wird: "Eine Regierungsbildung sowohl mit dem BSW als auch mit der AfD lehne ich kategorisch ab."
Wichtigstes Thema: Gesundheit und Bildung vor Asylpolitik
Doch unabhängig davon, ob die Thüringer MDRfragt-Gemeinschaft zuversichtlich oder kritisch auf eine Brombeer-Koalition sieht, bleibt die Frage: Welchem Themenbereich soll sich die neue Landesregierung am dringendsten widmen?
Eine eindeutige Antwort gibt es darauf nicht: Vielmehr gibt es fünf Themen, die ungefähr gleich oft als wichtigstes Thema genannt wurden: Medizinische Versorgung und Pflege (16 Prozent) gleich auf mit Kitas und Bildung (16 Prozent) - und nur knapp dahinter die Unterbringung, Integration und Abschiebung von Asylsuchenden (14 Prozent), die Wirtschaftsförderung (12 Prozent) sowie die innere Sicherheit (12 Prozent).
Auch wenn sich die Befragten entscheiden mussten, welchen Bereich sie am wichtigsten finden, zeigen die Kommentare, dass viele eine Mischung aus dringenden Herausforderungen sehen. So schreibt Lina (24) aus Erfurt: "Sie müssten auf alle Fälle das Thema Asylpolitik angehen, denn dort gibt es einige Sachen, die noch geklärt beziehungsweise verändert werden müssen. Aber auch beim Thema Bildung (mehr Lehrer, besseres Bildungsangebot) müssen sie noch einiges aufholen. Und auch beim Thema, wie man Fachkräfte in Thüringen halten und was man am Arbeiten in unserem Bundesland attraktiver machen kann."
In der Aufzählung von Anna (33) aus dem Unstrut-Hainich-Kreis klingt die Liste der wichtigsten Handlungsfelder für die nächste Thüringer Landesregierung so: "Bürokratieabbau, Ausbau der ländlichen Infrastruktur mit besonderem Augenmerk auf Öffentlichen Nahverkehr und Mobilfunknetz und die Lösung des Ärzte- und Pflegemangels auf dem Land unter unbürokratischer und pragmatischer Einbeziehung ausländischer Arbeitskräfte."
Und Florian (41) aus Jena findet: "Soziale Gerechtigkeit ist neben Bildung der Schlüssel, um die Menschen wieder von der Demokratie zu überzeugen."
Über diese Befragung
Die Befragung: "Brombeer-Premiere in Thüringen: stabil oder labil?" lief vom 22. bis 25. November. Insgesamt haben 5.901 Menschen aus Thüringen mitgemacht.
Je nach Thema bittet das MDRfragt-Team mitunter nur Teile der MDRfragt-Gemeinschaft um ihre Meinung. So wird bei sehr landesspezifischen Themen jeweils nur die MDRfragt-Gemeinschaft aus dem betroffenen Bundesland oder den betroffenen Bundesländern befragt.
Bei MDRfragt können sich alle anmelden und beteiligen, die mindestens 16 Jahre alt sind und in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen, denn: Wir wollen die Vielfalt der Argumente kennenlernen und abbilden. Die Kommentare der Befragten erlauben, die Gründe für die jeweiligen Positionen und das Meinungsspektrum sichtbar zu machen. Da sich jede und jeder beteiligen kann, der möchte, sind die Ergebnisse von MDRfragt nicht repräsentativ.
Die Ergebnisse von MDRfragt werden nach wissenschaftlichen Kriterien anhand verschiedener soziodemografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad gewichtet, um sie an die tatsächliche Verteilung in der mitteldeutschen Bevölkerung anzupassen. Damit wird die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht und es ergibt sich ein valides und einordnendes Stimmungsbild aus Mitteldeutschland. MDRfragt wird zudem wissenschaftlich beraten und begleitet, beispielsweise durch regelmäßige Validitätstests.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | Das Fazit vom Tag | 02. Dezember 2024 | 18:00 Uhr