Was ist Populismus? Menschen, Behauptungen, Emotionen
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01. August 2022, 12:01 Uhr
Selbst als ihn seine eigene Partei zum Rücktritt gezwungen hatte, blieb Boris Johnson dabei: "Ich bin unheimlich stolz auf unsere Erfolge als Regierung: Wir haben den Brexit geschafft und (…) für unser Land die Macht zurückgeholt, unsere eigenen Gesetze zu machen", sagt der scheidende britische Premierminister in seiner Rücktrittsrede als Vorsitzender der Konservativen Partei am 7. Juli.
Dabei sprechen die Auswirkungen, die der Ausstieg von Großbritannien aus der EU zeigt, eine ganz andere Sprache. Exporte sind eingebrochen, Arbeitskräfte fehlen. Und die britische Fischerei, der eine so leuchtende Zukunft versprochen wurde, wird ihre Meeresfrüchte nicht los, weil der Export in die EU so kompliziert geworden ist. Doch das kümmert Johnson wenig. Schließlich waren alle seine Ankündigungen blanker Populismus.
Schwarz-Weiß-Malerei
Populismus verkauft sich gut. Denn populistische Aussagen bieten Emotionalität und Zuspitzung, die suggerieren: Hier geht es um etwas wirklich Wichtiges. Außerdem ist dank einfacher Schwarz-Weiß-Malerei alles plötzlich so schön klar. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge werden weitestgehend ignoriert oder als Gegenpol zu eigenen Positionen eingesetzt.
Populismus ist dabei keine Ideologie oder ein politisches Programm an sich, sondern vielmehr eine Darstellungsform. Es ließe sich auch sagen - bloße Show. Und die kann je nach eigener Position aufgeladen werden. Es gibt Populismus von rechts wie von links. Alle Strömungen eint, dass sie ihre Haltung absolut setzen und ein "Gegeneinander" aufbauen, sagt die Kommunikationsforscherin Paula Diehl von der Universität Kiel im Interview mit MDR MEDIEN360G: "Ein zentrales Element des Populismus ist eine polarisierte Wahrnehmung der Gesellschaft: unten gegen oben, innen gegen außen, 'wir' gegen 'die anderen'". Dieses Weltbild zwischen guter "Ingroup" und böser "Outgroup" finde sich sowohl im Links- als auch im Rechtspopulismus wieder, so Diehl.
Kampf gegen "Eliten"
Neben Boris Johnson sind auch der ehemalige italienische Regierungschef Silvio Berlusconi und Ex-US-Präsident Donald Trump typische Populisten. Sie suggerieren den Menschen, nur auf sich selbst bedachte Eliten würden ihnen die sprichwörtliche Butter vom Brot nehmen. Berlusconi spielte die hart Arbeitenden des reichen industrialisierten italienischen Nordens gegen ihre angeblich faulen Landsleute im Mezzogiorno, dem wirtschaftlich abgehängten Süden, aus. Diesen versprach er wiederum die Lösung all ihrer Probleme. Das entsprach zwar nicht der Realität, kam aber gut an. Den alten Eliten sagte er bei seiner ersten Wahl 1994 den Kampf an, denn er wolle "nicht in einem unliberalen Land leben, das von unreifen Kräften regiert wird". Auch Trump oder Johnson stellten das Volk immer als Betrogene dar, die um ihre Pfründe gebracht würden. Bei Trump war der Feind das politische Establishment von der Westküste, insbesondere die Demokratische Partei. Und Johnson hatte sich schon zu seiner Zeit als Journalist in Brüssel einen Spaß daraus gemacht, die EU für alles verantwortlich zu machen und dabei auch nicht vor dreisten Lügen zurück gesteckt. Damals berichtete er von einer angeblich geplanten Norm für quadratische Erdbeeren. Oder dass britische Fischer künftig auf hoher See aus Hygiene-Gründen Haarnetze zu tragen hätten.
Das Prinzip ist immer das gleiche und funktioniert auch heute noch: Der ohnehin euroskeptischen britischen Mehrheit Gerüchte und Halbwahrheiten zu verkaufen, solange sie nur schön knallig sind und alte Vorurteile und Sehnsüchte bedienen. Als Premierminister sagte er am 14. September 2020: "Was wir nicht hinnehmen dürfen ist eine Situation, in der die EU ernsthaft glaubt, sie habe die Macht, unser Land zu zerschlagen."
Alles für das Volk
Es gehört zum "Werkzeugkoffer" populistischer Politikerinnen und Politiker, sich selbst als die einzig wahren "Volksvertreter" zu stilisieren, die mit und für die einfachen Menschen auf der Straße gegen die Machenschaften der Eliten vorgehen. Die Krux dabei ist bloß, dass fast alle von ihnen selbst zu genau den Eliten gehören, vor denen sie angeblich das "Volk" retten wollen. Boris Johnson gehört zur britischen Oberschicht, Studium in Oxford inklusive. Donald Trump ist ein Immobilien-Milliardär. Silvio Berlusconi war ebenfalls schon lange vor seinem Einstieg in die Politik erfolgreicher Unternehmer - übrigens als Chef und Hauptgesellschafter des Medienkonzerns Mediaset.
Mediale "Connections" haben so ziemlich alle Populistinnen und Populisten. Trump wurde der amerikanischen Öffentlichkeit durch die TV-Show "The Apprentice" bekannt, in der Kandidatinnen und Kandidaten mit neuen Geschäftsideen die von Trump angeführte Jury überzeugen mussten. Und Johnson hat auch als Politiker immer noch nebenbei als hoch bezahlter Kolumnist für die konservative britische Zeitung "Daily Telegraph" gearbeitet.
Journalisten in der AfD
In Deutschland bedient vor allem die AfD mit populistischen Aussagen ihr Klientel. In ihren Reihen finden sich ebenfalls viele - zumeist ehemalige - Journalisten. Nikolaus Fest, ehemals Mitglied der Bild-Chefredaktion, war bis 2021 im AfD-Vorstand und sitzt heute für seine Partei im Europaparlament. Der frühere MDR-Korrespondent Armin Paul Hampel war bis 2018 Landesvorsitzender der AfD in Niedersachsen und bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB). AfD-MdB Jürgen Braun, von 1995 bis 1997 im MDR-Landesfunkhaus Sachsen Ressortleiter für Wirtschaft, Verbraucher und Umwelt, war zwischenzeitlich sogar parlamentarischer Geschäftsführer seiner Partei. Und der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland war viele Jahre lang Herausgeber der Märkischen Allgemeinen aus Potsdam.
Doch nicht nur solche personellen Übergänge zeigen: Ohne klassische Medien würde Populismus nur begrenzt funktionieren: Natürlich kann auch eine große Bierzeltrede wie beim Politischen Aschermittwoch der CSU für Furore sorgen. Das hat der frühere CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß schon in den 1980er-Jahren bewiesen. Doch für Wahrnehmung über die Bierzelt-Öffentlichkeit hinaus braucht es die Medien.
Kein Erfolg ohne Medien
Und die bedienen sich wiederum selbst gern populistischer Aussagen. Denn zugespitzte und knallige Aussagen lösen beim Publikum sofort Emotionen aus und lassen sich viel besser absetzen als das rein seriöse und deshalb manchmal etwas trockene Nachrichtengeschäft. Gerade Boulevardmedien wie die Bild-Zeitung spitzen daher auch gern mal selbst zu - aber auch die öffentlich-rechtlichen Polit-Talkshows wie "Anne Will" mit Sendungstiteln wie "Die Kinder-Gangster – Harte Hand statt sanfter Worte?" (05.04.2009), "Beamten-Paradies Deutschland – Wollen wir uns das noch leisten?" (31.01.2010) oder "Politik im Krisenmodus – Wer hält das Land noch zusammen?" (16.02.2020).
Meinungsbildung via Social Media
Wer polarisiert, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das gilt in den sozialen Medien erst recht. Doch hier sind die Reste journalistischer Spielregeln ausgeschaltet, die bei den klassischen Medien auch dann noch gelten, wenn es populistisch wird. Nach Meinung von Johannes Gemkow vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) an der Universität Leipziger wird es hier gefährlich, weil so vor allem junge Menschen erreicht und verführt werden können. "Sie nutzen Social Media häufiger als andere Gruppen für ihre politische Information und ihre Meinungsbildung", so Gemkow im Interview mit MDR MEDIEN360G. "Sie sind die häufigste Zielgruppe für populistische und extremistische Rekrutierungsversuche und bringen dem häufig auch wenig Risikobewusstsein entgegen."
Das heißt aber nicht, dass sich Populismus und Populisten immer durchsetzen. Vielmehr merken irgendwann die Menschen, dass sie - das angeblich so umworbene "Volk" - für dumm verkauft werden. Der schnelle Aufstieg und der genau so rasante Sturz von Boris Johnson als britischer Premierminister zeigt dies als jüngstes Beispiel in aller Deutlichkeit.