Von Zensur, Freiheit und Neubeginn Die Friedliche Revolution im Rundfunk
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05. Oktober 2020, 07:31 Uhr
Zwischen den Zeilen schreiben ist oft die einzige Möglichkeit, Botschaften zu transportieren. Die SED legt fest, worüber und wie im Radio berichtet wird. Nach dem Rücktritt Erich Honeckers im Oktober 1989 können Journalisten in der DDR freier arbeiten. Mit der Friedlichen Revolution ändern sich die Strukturen im Radio. Die Zentralprogramme werden schrittweise von Landessendern abgelöst.
„Einrichtung des Ministerrates der DDR“ steht am Eingang des Berliner Funkhauses in der Nalepastraße. Die eigentlichen Lenker sitzen im Stadtzentrum in der Agitationskommission der Sozialistischen Einheitspartei (SED). Dort wird bestimmt, über welche Themen in welcher Form berichtet wird. Das betrifft auch die Auswahl der Musik. Missliebige Titel werden gesperrt.
Zwischen Zensur und Framing
Die Liste der unerwünschten Themen in der DDR reicht von Arbeitslosigkeit, über Homosexualität bis Rechtsextremismus. Alles Erscheinungen, über die das Politbüro der SED nichts hören will. Sie passen nicht in die heile Welt des Sozialismus. Trotzdem finden brisante Themen beispielsweise in Hörspielen statt, erinnert sich Christoph Singelnstein (ab 1983 Hörspieldramaturg beim DDR Rundfunk). „Wir haben viele Themen dort gemacht, die sich um Arbeitslosigkeit rankten, was es offiziell in der DDR nicht gab, wo es um Homosexualität ging, was auch in der DDR kein öffentliches Thema war.“
Vor allem in den Nachrichten ist die Zensur spürbar. Die Bürgerinnen und Bürger erfahren nur das, was sie erfahren sollen. Ereignisse wie das Paneuropäische Picknick, die Flüchtlinge in der Prager Botschaft oder Montagsdemos in Leipzig werden nur in beiläufigen Meldungen erwähnt. Noch am 7. Oktober 1989 spricht Erich Honecker von der „zügellosen Verleumdungskampagne, die derzeit international koordiniert gegen die DDR geführt wird.“ Nur durch die Westmedien oder persönliche Kontakte erfahren die DDR-Bürger, was sich bei den Demonstrationen in Leipzig wirklich ereignet. Das ändert sich erst nach dem 18. Oktober 1989, als Erich Honecker zurücktritt. Damit kommt das Ende der „Medienlenkung und Mediensteuerung aus dem Politbüro“ so der Historiker Peter Ulrich Weiß (Leibnitz-Zentrum für Zeithistorische Forschung).
Zur Person Christoph Singelnstein
Christoph Singelnstein, geboren 1955, stammt aus einer Buchhändlerfamilie in Greifswald. Er studierte Theaterwissenschaften an der Theaterhochschule Leipzig. Ab 1982 arbeitete er beim Rundfunk der DDR u.a. als Hörspielproduzent. Im Juni 1990 wurde er stellvertretender, im August 1990 geschäftsführender Intendant des DDR-Rundfunks. Ab dem 1. Januar 1992 war er Chefredakteur der Kulturwelle Radio Brandenburg beim ORB. Seit 2009 ist er Chefredakteur des rbb und stellvertretender Programmdirektor.
Die große Freiheit und dann?
Es folgt ein Aufbruch. Erstmals nicht „zwischen den Zeilen“ schreiben zu müssen, berichten was wirklich geschieht, beflügelt viele DDR-Journalisten. Neue Sendungsformate werden eingeführt und die Landessender weiten die Sendezeiten aus.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker unterschreibt am 23. September 1990 den Einigungsvertrag über den Beitritt der DDR zur BRD. Der Artikel 36 des Vertrages regelt die Einrichtung föderaler Strukturen in Rundfunk und Fernsehen bis zum 1. Januar 1992. Nach Vorbild des Hessischen oder Norddeutschen Rundfunks sollen öffentlich-rechtliche Anstalten entstehen.
Am 15. Oktober 1990 wird Rudolf Mühlfenzl, vorher Chef der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, zum Rundfunkbeauftragten berufen. Er soll Personal abwickeln, Immobilien verkaufen und eine Lösung für die Zukunft des Programmvermögens des DDR-Rundfunks finden.
Wer mit wem ist nun die Frage. Neun ARD-Anstalten in Westdeutschland stehen dem aufzulösenden Ostrundfunk gegenüber.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden sich die drei CDU- Ministerpräsidenten schnell einig. Am 7. Juni 1991 wird der Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks Dr. Udo Reiter zum Gründungsintendanten des MDR berufen.
Der für den Norden geplante Verbund NORA von Mecklenburg, Brandenburg und Berlin kommt nicht zustande. Ministerpräsident Manfred Stolpe drängt auf die Gründung des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg. Mecklenburg-Vorpommern wird Teil des Norddeutschen Rundfunks.
Der Sonderfall DT64
Der 1964 als Festivalradio gegründete Jugendsender DT64 hat vor allem im „Tal der Ahnungslosen“, in dem keine Westmedien empfangen werden, eine große Fangemeinde. Nachdem der Aufbau des MDR und des ORB erfolgt, kommt das "Aus" für DT64, den Sender als länderübergreifend sendendes Programm fortzuführen. Auch eine groß angelegte Unterstützungskampagne von Hörern bringt keinen Erfolg.
Der MDR erklärt sich Mitte Dezember 1991 bereit, dem Jugendradio für ein halbes Jahr Frequenzen zu überlassen. Damit beginnt ein „Abschalten auf Raten“ meint Jörg Wagner rückblickend. Am 1. Mai 1993 endet das Programm DT64 und geht im neu gegründeten Sender Sputnik beim MDR auf.
Zur Person Jörg Wagner
Geboren 1955 in Berlin, studierte Jörg Wagner Theaterwissenschaft in Berlin. 1987 kam er zum Jugendprogramm des DDR-Rundfunks DT64. Seit 1993 ist er für verschiedene öffentlich-rechtliche Radiosender tätig mit dem Schwerpunkt Medienthemen. Beim rbb moderiert er das radioeins Medienmagazin.