MEDIEN360G im Gespräch mit... Matthias Gehler
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22. November 2019, 14:59 Uhr
Während der Friedlichen Revolution öffneten sich die DDR-Medien. Auch im Rundfunk wurde nun frei berichtet. Der Einigungsvertrag regelte die Auflösung von DDR-Fernsehen und Rundfunk zum 31. Dezember 1991. Dann sendeten öffentlich-rechtliche Anstalten. Wir sprachen dazu mit Matthias Gehler, heute Chefredakteur bei MDR THÜRINGEN. Vor 30 Jahren war er selbst in einer Zeitungsredaktion tätig, 1990 wurde er Pressesprecher der ersten frei gewählten Regierung der DDR.
Dagmar Weitbrecht: 30 Jahre Friedliche Revolution, das ist für MEDIEN360G der Anlass, auf die Medien in dieser Zeit zu blicken. Dabei schauen wir ganz konkret auf den Rundfunk. Dazu spreche ich jetzt mit Matthias Gehler, Chefredakteur bei MDR THÜRINGEN. Vor 30 Jahren waren Sie selbst in einer Zeitungsredaktion tätig, 1990 wurden Sie Pressesprecher der ersten frei gewählten Regierung der DDR. Aus dieser Perspektive: Wie haben Sie damals die Veränderungen in den Medien erlebt?
Matthias Gehler: Ja, ich war schon ein bisschen vorgeprägt, das heißt unsere Arbeit in der bei der Neuen Zeit - es gab drei DDR-weite Zeitungen: Neue Zeit, Junge Welt und das Neue Deutschland - waren wir (Neue Zeit) mit nur 120.000 Auflagehöhe, die wir haben durften (relativ klein). Mehr wollten sie (die Zeitungsmacher), aber mehr ging nicht. Die SED hat uns nicht mehr Papier gegeben und das auch beschränkt. Dann hatten wir das Problem, dass wir einen ganz frühen Andruck hatten. Wir haben gedruckt im Neuen Deutschland. Wir haben damals schon gelitten als Redakteure auch und wir wurden sieben Mal zensiert, bevor die Zeitung rauskam. Das haben wir gewusst und wir haben danach auch Zeitung gemacht. Ich war zuständig, dann für Seite drei. Wir haben dann während der Wendezeit oder ein bisschen vor der Wende versucht, eine Kommunikationsseite daraus zu machen. Das Problem was wir hatten: das musste alles X-Mal vorweg gelesen werden, auch das Fortschrittlichere. Mit der Wende ist es wie eine Erlösung gewesen, als wir dann schreiben konnten, was wir wollten. Es ging schrittweise. Es ging auch nicht mit einem Mal. Ich habe zum Beispiel damals den Weimarer Brief (das Reformationspapier in der Ost-CDU) – ich war in Eisenach und hab davon berichtet, war mit einem Kollegen noch dort, der dann in der Stasi war, wie sich herausgestellt hat. Und bin dann zurück und habe versucht, das in die Zeitung zu kriegen. Wir waren so drei, vier Leute, die ein bisschen reaktioneller gedacht haben. Wir haben dann gesagt okay: wie machen wir das? Dann haben wir uns nicht getraut. Ich hatte an dem Abend Dienst im Neuen Deutschland und mit dem Drucker, der auf meiner Seite stand, gesprochen. Der sagte dann zu mir: willst du das wirklich wagen, das jetzt von der Seite zu nehmen und neu einzuspiegeln, um den Weimarer Brief draufzukriegen. Das habe ich mir nicht getraut, sondern wir haben die Idee dann gehabt, erst gegen den Brief zu schreiben, dann Ausschnitte zu bringen und dann auch Für und Wider zu dem Brief zu machen. So war die Idee, es dann umzusetzen. So ist es auch geglückt,
Dagmar Weitbrecht: Der berühmte kleine Kompromiss würde ich es mal nennen. Sie sind dann zum Regierungssprecher berufen worden, quasi eine Art Quantensprung.
Matthias Gehler: Ich bin dann Regierungssprecher der ersten freigewählten DDR-Regierung gewesen, und was wir vorgefunden haben, war nicht das Presseamt, was wir dann daraus gemacht haben. Ich hatte 180 Leute in der Zeit. Das Bundespresseamt hatte 750. Da sieht man schon die Verhältnismäßigkeit. Wir hatten unheimlich viel zu bewältigen in der Zeit. Aber ich habe Mitarbeiter vorgefunden, die alle mitgemacht haben und intensiv gearbeitet haben dort. Das waren teilweise welche vom alten Schlag. Aber die haben sich alle richtig große Mühe gegeben. Wir haben dann Pressekonferenzen gehabt in dieser Zeit mit Journalisten, vor allem auch aus dem Ausland, immer 200 Journalisten und haben dann erhöht auf zwei Pressekonferenzen in der Woche, weil die Informationsflut so groß war. Was ich damals als erstes mit eingerichtet habe, war die Gründung der Pressekonferenz Berlin e. V. Es gab keine Pressekonferenz in dem Sinne, dass man sich befragen lässt. Sondern es war wie heute in den USA, dass der Präsident Pressekonferenzen hält und geht und kommt und Fragen zulässt. So war es in der DDR. Wir haben gesagt, wir müssen das bundesdeutsch machen. Wir müssen das so hinkriegen, dass wir uns befragen lassen. Journalisten leiten die Pressekonferenz. Annerose Srocke hat diese Pressekonferenz, als Vorsitzende geleitet und ich habe sie ganz bewusst Hauptstadt Berlin e.V. genannt, um die Hauptstadt reinzukriegen. So haben wir den ersten Pflock eingesetzt, dass Berlin Hauptstadt wird.
Dagmar Weitbrecht: Kommen wir zurück in die Geschichte '89 und danach, in Bezug auf Rundfunk und Fernsehen. Im Laufe des Jahres 1990 wurde ja der Einigungsvertrag ausverhandelt und der Artikel 36 regelte den Umgang mit Radio und Fernsehen. Die Länder wurden verpflichtet, den Rundfunk bis zum 31. Dezember 1992 abzuwickeln. Was hatte das für Folgen?
Matthias Gehler: Das hatte sehr unterschiedliche Tempi. Das heißt, wir hatten - ich kann das nur aus dem Gedächtnis sagen - immer so über die 12.000 - 15.000 Leute gesprochen, die in Radio und Fernsehen der DDR tätig waren. Da sind auch die dabei, die bei der Post waren. Das waren etwa über 2.000 die dazugehörten, (weil) die die Technik gemacht hatten. Da gehörten auch dazu Ferienheime an der Ostsee und überall. Es war ein großer Apparat. Uns war klar diese Mitarbeiter können nicht 1:1 überführt werden, sondern Rundfunk ist Ländersache. Es muss hier ein Übergang geschaffen werden. Es mussten Frequenzen neu vergeben werden. Es mussten Strukturen möglich gemacht werden, die den alten Bundesländern entsprachen. Es musste dann auch Programmvermögen verwaltet werden. Es mussten Rechte geklärt werden. Da gab es den Stab des Rundfunkbeauftragten für die neuen Bundesländer nach Artikel 36 Einigungsvertrag. Ich gehörte dazu. Ich war Berater in dem Stab. Wir waren etwa zehn bis zwölf Leute in dem engen Beraterstab von Rudolf Mühlfenzl, der Rundfunkbeauftragter war. Das war er deshalb, weil er früher im amerikanischen Sektor, also in Bayern, schon mal das (öffentlich-rechtliche System) aufgebaut hat. Da hatten die Amerikaner ihn eingesetzt. Er kannte Aufbauarbeit. Wir waren nicht unbedingt willkommen bei den Mitarbeitern, die natürlich das große Schwert über sich schweben sahen. Wir werden hier abgewickelt. Parallel mussten die neuen Länder aufgebaut werden. Das heißt, wir hatten die Aufgabe: weiter zu senden, die Sache zu regeln und die Länder selber mussten aufbauen. Da gab es unterschiedliche Geschwindigkeiten. Während sich die Dreiländeranstalt Mitteldeutscher Rundfunk sehr schnell gründete. Es sehr schnell auch einen Gründungsintendanten gab, gab es die Schwierigkeit in den nördlichen Bundesländern. Da war Günther von Lojewski mit dem SFB, der mitten in Berlin da war und eine größere Rolle spielen wollte, als ihm zugedacht war. Dann gab es ein Gesamtkonzept, das sogenannte Ellinghaus-Konzept. Da hatte einer sich überlegt, die gesamte DDR als eine große Anstalt zu machen und Berlin in der Mitte. Das war nicht im Sinne der Bundesländer. Die Bundesländer wollten unbedingt ihre eigene Hoheit haben und haben gesagt: nee, nee, wir schließen uns nicht gleich so zusammen, sondern wenn dann wie beim MDR zur Dreiländeranstalt. Es war auch zwischendrin die Rede, weil die Länder-Zusammenführung auch noch einmal diskutiert worden war. Da gab es, was die Länder betraf, das so genannte Wallmann-Konzept. Da ging es um Thüringen und Hessen. Daraus entsprungen war auch dann die Überlegungen, ob nicht der Hessische Rundfunk und Thüringen zusammengehen. Diese Varianten gab es alle. Wir saßen - ich erinnere mich noch - wir saßen in Magdeburg zusammen, die Chefs der Staatskanzleien und dort hat Rudolf Mühlfenzl dann mit seinen Beratern, den Chefs der Staatskanzleien gesagt, ihr müsst dafür sorgen, dass die nördliche Anstalt aufgebaut wird, denn wir enden am 31.12. Dann bis dahin - wir hatten etwa noch so 5.000 Leute, die noch übrig waren und sendeten - können wir das nur aufrechterhalten, wenn ihr garantiert, dass die Übergänge laufen. Dann haben die dort gesagt: ja dann legen wir halt eine Kassette ein. Das war so ein Punkt, wo wir fast aufgestanden und gegangen wären.
Dagmar Weitbrecht: Das klingt sehr spannend, sehr dramatisch. Ich würde gerne noch mal auf die politischen Begehrlichkeiten gehen. Es klang eben an Hessen und Thüringen. Hessen war damals SPD regiert, aber auch in Brandenburg regierte die SPD, währenddessen die drei mitteldeutschen Länder, ja CDU regiert waren. Wie hat sich dieses politische Tauziehen abgespielt?
Matthias Gehler: Also wir hatten damals, das war allgemein 1990 - 1991 der Fall - ein sehr starkes Wollen, dass die Länder selbst, egal wie regiert, eine ganz große als Länder Rolle spielen. Das war eine Identitätsfrage. Wir sind Thüringen, wir sind Sachsen, wir sind Sachsen Anhalt. Das war in Norddeutschland ganz genauso in der Überlegung und Berlin auch. Berlin und Brandenburg war kompliziert in dieser Situation. Auch, weil dort schon Westberlin und der Osten - da wollte Lojewski eben sehen, dass er da die Oberhand kriegt. Es war weniger CDU/SPD und so weiter. Das spielte zwar eine Rolle, aber es war nicht ganz so vordergründig, wie man das heute denkt. Aber, um noch mal auf Magdeburg zu sprechen zu kommen. Es war ein entscheidender Punkt. NORA, der nordostdeutsche Rundfunk, sollte sich gründen, als Gegenpart zum MDR. Da gab es einen Vorschlag, der dort in Magdeburg besprochen worden war. Das heißt, der ganze norddeutsche Teil plus Brandenburg plus Berlin, die sollten zusammen mit Mecklenburg- Vorpommern zusammengehen zu einer Anstalt. NORA ist daran gescheitert, dass der Chef der Staatskanzlei in Berlin rausgegangen ist mit der Idee. Er hat drei Tage Wartezeit gegeben. Da sollten die Chefs der Staatskanzleien überall ihre Fraktionen, die mit an der Regierung beteiligt waren, informieren. Das hat in Mecklenburg-Vorpommern nicht geklappt. Dort hat der Chef der Staatskanzlei nicht informiert und die haben mit nur einer Stimme Mehrheit regiert. Die FDP, die nicht informiert worden war, hat dann gesagt: das machen wir nicht mit. Einige Tage später - das war das Wochenende - ist der Norddeutsche Rundfunk dort eingefallen, in Schwerin. Die haben eine große Veranstaltung gemacht, die haben dafür geworben und dann ist es ruckzuck gegangen. Der Norddeutsche Rundfunk hat sich ausgeweitet, praktisch auf Mecklenburg-Vorpommern. Das war so nicht geplant. Es ist wirklich an einem Lapsus schiefgegangen. Wir hätten sonst NORA gehabt, als zweite große ostdeutsche Anstalt.
Dagmar Weitbrecht: Wir hatten schon mal über die Einrichtung Rundfunk gesprochen und die vielfältigen Aufgaben, die dieser Organisationen zugetragen waren. Wie muss ich mir das praktisch vorstellen? Es ging um Immobilien. Es ging um sehr, sehr viel Leute, Menschen, die ja vor einer relativ ungewissen Zukunft standen. Wie ist das praktisch abgelaufen?
Matthias Gehler: Es war so eine Übergangszeit. Es war Einiges ungeregelt, (es gab) auch sehr viele Freiheiten. Es wurde ja weiter gesendet, auf alter Basis sozusagen parallel in den Landesstudios die es gab, die de facto zum Rundfunkbeauftragten gehörten. Aber dort waren Leute eingesetzt, die sendeten. Die legten teilweise Geld zur Seite. Ich habe es selbst einmal entdeckt, dass ein Mitarbeiter, der später dann noch beim MDR gearbeitet hat, hat ich glaube, 12 Millionen (Mark) gesammelt aus Werbeeinnahmen, mit der Absicht: wenn die nachfolgenden Anstalt da ist, dann hebe ich das dafür auf. Egal, was wird. Also nicht für sich selber, sondern in dieser Absicht. Wir sind ihm beim Rundfunkbeauftragten auf die Schliche gekommen und haben dann gesehen, dass ist hier nirgends registriert, sondern in irgendeiner schwarzen Kasse gelandet, nicht mit böser Absicht, sondern es gab auch solche Fälle. Das musste geregelt werden. Was dazu geregelt werden musste, waren Liegenschaften, die in ganz unterschiedlichen Besitzverhältnissen waren. Adlershof zum Beispiel war in anderen Besitzverhältnissen, als die Nalepastraße in Berlin zum Beispiel war, die noch unter Bauhaus-Denkmalschutz stand. (Das sind) auch besondere Geschichten. Und dass die Programmvermögen - es war unheimlich viel Programmvermögen – (gesichert werden). Ich habe es mehrfach erlebt, dass Mühlfenzl Leo Kirch anrief und sagte: „Leo, wir haben hier einen Film, den wir jetzt nicht zeigen können, weil du eine Sperre mit deinen Leuten draufgelegt hast. Es gelten neue Regeln. Bitte, gib das mal frei, dass wir heute Abend den Film zeigen können.“ Dann hat er das gemacht. Michael Albrecht vom DDR-Fernsehen rief an und sagt: der Film geht nicht. Und dann handelte Mühlfenzl mal mit einem Anruf, weil er Leo Kirch kannte. Wir hatten in unserer Beraterstab-Runde den Anwalt von Leo Kirch mit sitzen, Dr. Frohne.
Dagmar Weitbrecht: Gehen wir zum 1. Januar 1992. Da ging der MDR auf Sendung mit den Landesprogrammen, dem Kulturradio, Inforadio, der Pop Welle. Trotzdem gab es, im Vergleich zum ORB, Kritik am MDR-Staatsvertrag. Warum?
Matthias Gehler: Ja, na gut, die Kritik an dem Staatsvertrag kann ich so nicht nachverfolgen. Ich hab so richtig Kritik eigentlich in dieser Zeit so gar nicht wahrgenommen. Das heißt, wir haben, als es losging, einfach angefangen und Radio und Fernsehen gemacht. Die Kritik, die da drin natürlich lag, (war): sind die Anteile gut verteilt. Das schwang von Anfang an mit. Das konnte aber keiner genau erahnen, wie das ausgeht. Es ging darum, dass noch etwas ausgebaut werden musste. In den Hauptstädten waren noch nicht die Funkhäuser etabliert. Da ging es ans Bauen. Wir haben dann 190 Millionen gekriegt für ein Funkhaus. In Erfurt auf der ega ist das Funkhaus ja erst im Jahr 2000 bezogen wurden. Das muss man alles sehen. Also keiner wusste, wie das Konstrukt wirklich funktionieren wird und ist das Ganze jetzt wirklich so politisch gesteuert. Udo Reiter kam aus Bayern. Es waren viele, die aus den Westbundesländern kamen. Ich war zum Beispiel stellvertretender Direktor. Man sprach damals von einem Tandem-Prinzip. Von daher gesehen ist es so, dass wir als Tandem arbeiten sollten. Das hat so richtig auch nicht funktioniert. Es gab immer auch diesen kleinen Ost-West-Konflikt in dieser Runde. Da hatten sich natürlich ein paar aus dem Westen Positionen gesichert. Das war eindeutig zu erkennen. Und es gab dann Listen, die ausgegeben wurden. Ich stand auf der ersten Liste gar nicht drauf, bis sich angesprochen worden bin von jemandem und ich hatte gar nicht gewusst, dass es diese Liste gibt. Und da hat sich jemand aus dem Westen zweimal draufgeschrieben, der auch mit "G" anfing.
Dagmar Weitbrecht: Mit Gründung des MDR endete eine Zeit für viele Journalisten die sie als große Freiheit empfunden haben. Dann wurden die Programme nach westlichem Vorbild formatiert. Rückblickend jetzt mit dem großen Abstand der Zeit, wie schauen Sie da drauf?
Matthias Gehler: Wir waren verdammt fortschrittlich, auch gegenüber der alten ARD. Ich fand das richtig gut. Wir haben die Freiheit, die wir damals hatten, genutzt. Und ich weiß noch, wie wir dasaßen, bei mir im Wohnzimmer Zuhause und haben die Struktur von MDR 1 Radio Thüringen gemacht und haben da eine ganze Reihe an Ideen gehabt. Mit dem damaligen Wort-Chef und späteren Direktor Werner Dieste saßen wir zusammen. Da haben wir gesagt: wie bauen wir die Mannschaft auf, das muss eine gemischte Mannschaft sein. Also welche aus der alten ARD, welche vom Privatfunk, welche, die hier immer schon gelebt haben, die die Region kennen. Und so haben wir das dann auch hingekriegt. Ich saß bis elf, zwölf jeden Abend in Weimar im Funkhaus oben und hab nicht auf die Uhr geguckt und bin dann früh um sechs wieder da gewesen. Das war eine tolle Aufbauzeit und die möchte ich nicht missen und danke an jeden Mitarbeiter, der da mitgemacht hat. Die Leute waren so fleißig und sind voran gegangen, trotz mancher technischer Schwierigkeiten. Wenn man nur einen Telefonanschluss hat fürs ganze Haus, ist das ein Problem. Das war übrigens ein Unterschied zwischen Ost- und West-Journalisten. Wenn Ost-Journalisten einen Beitrag machen wollten und sollten, dann haben sie das Problem gehabt, dass sie erst mal vor einer Riesenmauer von Schwierigkeiten standen, auch im Kopf. Das war so drin. Jemand aus dem Westen hat gesagt, dann mach ich das heute alles fertig. Und es ist gut. Aber jemand aus dem Osten wusste, dass er für ein Telefonat einen ganzen Tag Anlauf brauchte. Also solche Kleinigkeiten, die prägen. Das sind Mentalitäten, die zusammenkommen und Geschichten, die zusammenkommen. Aber der Mix hat es gemacht, dass wir eine gute Mannschaft wurden, und wir hatten ja auch Riesenerfolg.
Dagmar Weitbrecht: Es gibt Wissenschaftler, die sagen, dass die Installation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach westlichem Vorbild hier in Ostdeutschland bis heute das Mediennutzungsverhalten beeinflusst. Wie stehen Sie dazu?
Matthias Gehler: Ja, ich glaube, das stimmt. Das Mediennutzungsverhalten setzt sich aus mehreren Gesichtspunkten zusammen. Es ist natürlich eine Entwicklung. Das ist auch eine Kultur. Wir haben eine andere Kultur zum Teil mitgebracht. Aber ich möchte auch sagen, dass wir sehr stark diese 20 Uhr Tagesschau-Zeiten im Kopf hatten. Und es war für uns eine Informationsquelle, bis auf das "Tal der Ahnungslosen" in Dresden. Aber ansonsten war das in der DDR so üblich, dass man sich informiert hatte. Wir waren sehr politisch interessiert und so ein Mediennutzungsverhalten resultiert aus Gewohnheiten auch in Familien. In kleinen Kulturen würden wir als Kommunikationswissenschaftler sagen. Das sind Kulturen, die über Generationen weiter getragen werden. Ich denke schon, dass wir uns ein Stück angeglichen haben und dass das auch notwendig war, aber auf der anderen Seite auch ein Stück Eigenständigkeit weiter bewahrt hatten, wie wir auch kritisch rangegangen sind als Nutzer. Das glaube ich schon. Ich glaube aber, es gab keine Alternativen. Wenn ich mir das angeguckt habe, dann hätte man in Ostdeutschland nichts anderes aufbauen können. Man musste dazugehören. Man musste das irgendwie vereinigen und zusammenbringen. Ich sehe keine Alternativen, auch wenn da Politik dahinter steckte. Ganz sicher. Aber das ist Aufgabe von Politik, da was zu machen
Dagmar Weitbrecht: Ein Sonderfall auch mit Blick auf die Gründung des MDR waren ja die zentralen Radioprogramme der DDR und ganz besonders DT64. Warum gab es keine Chance, dieses Programm weiterzuführen?
Matthias Gehler: Ich erinnere mich. In Weimar sind Demonstranten gewesen, junge Leute, die bei uns vorm Sender standen und die wollten das Funkhaus stürmen. Ich hab sie dann empfangen und rein geholt und mit ihnen diskutiert. Wir haben dann lange darüber gesprochen, einen ganzen Abend, wie das mit DT64 ist, und wir haben das ja später in Sputnik umgewandelt und weitergeführt - ein Stück. Da hat der MDR einen Anteil dran. Aber es gab in dieser Zeit auch eine ganze Reihe Fehlinformationen. Ich erinnere mich noch an die Zeit beim Rundfunkbeauftragten. Da gab es plötzlich das Gerücht, dass der Sandmann abgeschafft würde. Das hat es nie gegeben. Wir hatten nie die Idee, auch nur im Geringsten, den Sandmann abzuschaffen. Wir haben nach Lösungen gesucht, zu privatisieren oder sonstiges. Aber den Sandmann weiter zu senden. Mühlfenzl sagte selber, ich würde nicht so blöd sein in Bayern, den Pumuckl abzuschaffen. Das heißt, ihm war völlig klar, was es bedeutete. Aber die Junge Welt hatte das in die Welt gesetzt. Es war ein politischer Akt, zu sagen, der Sandmann ist in Gefahr, das andere wird abgeschafft werden. Da demonstrierten sie alle. Und solche Fehlinformationen gab es überall. Ich glaube, es ist viel, viel passiert in dieser Zeit und ich denke, man muss auch wirtschaftlich denken. Rundfunk ist Ländersache. Das ist das Erste, was das Grundgesetz sagt. Und so muss man auch überlegen und man kann nicht sagen, wir führen jetzt DT64 einfach sonst wohin über ganz Deutschland weiter, wenn die Grundlage dafür nicht gegeben ist,
Dagmar Weitbrecht: 30 Jahre Friedliche Revolution und die Zeit bis 1992: Wenn Sie zurückschauen, welcher Moment war für Sie als Journalist, als Medienpolitiker, aber auch als Radiomacher einer der bewegendsten?
Matthias Gehler: Also für mich war ganz bewegend - ich hab die Stürmung der Stasizentrale in Berlin Normannenstraße miterlebt. Ich bin damals zurück zur Neuen Zeit gegangen und habe gedacht: wie schreib ich denn darüber, was mach ich denn? Ich habe einen Kommentar geschrieben dazu. Ich stand da und dachte: wie schreibe ich? Wie kann ich schreiben und wie kriege ich das hin, dass es dann auch so steht und wie fortschrittlich (sie) sind. Das muss man ausloten. Wir sind 1987 von Gorbatschow wiedergekommen. Da war schon Bewegung in den Zeitungen. Aber es ist nie so weit gegangen, dass man frei, ganz frei, schreiben konnte. Es ging einfach nicht. Ich komme wieder und sage: ich habe Verständnis (für den Sturm auf die Normannenstraße) eigentlich dafür. Und als ich am nächsten Tag (Zeitungen) gelesen habe, war ich der Einzige, der das so geschrieben hatte. Dass die Leute dahin gegangen sind und alles verwüstet haben, das sind schließlich ihre Akten. Sie sind ja da registriert und es ist ihnen ja auch Unrecht geschehen. So hatte ich da meinen Kommentar aufgebaut. Ich war der Einzige und dann hab ich wieder dagestanden, habe gesagt, jetzt bin ich hier der Einzige, liege ich wirklich richtig? Ja, das sind solche Momente, zu denen ich heute ganz fest stehe. Aber trotzdem beschäftigt mich das heute noch. Wie man dahin geht und selber nachdenkt, liege ich denn richtig mit dem, was ich da gemacht habe, was ich tue? Es hat mich die ganze Nacht damals beschäftigt und in diesem Moment, der für mich so ein Moment ist, wo ich heute sage, ich habe richtig gehandelt. Aber damals war ich mir nicht sicher.
Dagmar Weitbrecht: Das war Matthias Gehler, Chefredakteur bei MDR THÜRINGEN. Im Gespräch mit Dagmar Weitbrecht
* Das Gespräch wurde am 16. Oktober 2019 in den Studios des MDR THÜRINGEN aufgezeichnet.
Zur Person Matthias Gehler
Geboren 1954 in Crimmitschau, studierte Matthias Gehler Theologie und arbeitete bis 1987 als Pfarrer. Danach war er im Zeitungsverlag Neue Zeit tätig und trat auch als Liedermacher auf. 1990 wurde er Staatssekretär und Regierungssprecher der ersten frei gewählten Regierung der DDR. 1991 arbeitete er als Berater des Rundfunkbeauftragten für die neuen Bundesländer. Seit 1991 arbeitet er beim MDR. Er ist Chefredakteur bei MDR THÜRINGEN.