Rezension "White Darkness": Mit drei Meisterwerken des modernen Balletts verabschiedet sich Aaron Watkin in Dresden
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05. Juni 2023, 12:03 Uhr
Eigentlich war dieser Abschied ja noch gar nicht geplant. Ballettdirektor Aaron Watkin, der nach 17 Jahren in Dresden dem Ruf nach London folgt und die Leitung des National Ballett übernimmt, wurde bei seinem letzten Abend an der Semperoper stürmisch gefeiert.
Zufall oder nicht, dieser Abend fügt sich nun geradezu genial zum Anlass, denn in einem Interview für die Zeitschrift "tanz" betont Aaron Watkin, dass für ihn die Arbeiten mit William Forsythe in Frankfurt und mit Nacho Duato in Madrid bis heute zu den wichtigsten Erfahrungen zählen, die er als junger Tänzer gemacht habe.
Es war natürlich an der Zeit, einen so wichtigen Choreografen wie Nacho Duato in Dresden vorzustellen, eine Arbeit von Sharon Eyal, aus Israel, von der Bathsheva Company, zur Diskussion zu stellen, und natürlich William Forsythe, mit dessen Werken ja das Semperoper Ballett weltweit gefeiert wurde.
"The Second Detail", Choreografie von William Forsythe
Ungebrochen, die Kraft des Werkes zur Musik von Tom Willems, auch nun mit den Tänzerinnen und Tänzern einer neuen Generation, die hier grandios tanzt. Die Anforderungen sind enorm. Die elektronischen Klänge geben keine Handlung vor. Eher Anregungen der Bewegungen, die sich bei hohen Ansprüchen aus klassischen Vorgaben des Balletts – auch Tanz auf der Spitze – Hebungen, schönsten Sprungvarianten der Tänzer, in natürlicher Wirkung ergeben. Das verblüfft.
Zwölf Tänzerinnen und Tänzer, im Kommen und Gehen, im Miteinander, einzeln oder in raffinierten Bewegungsfolgen. Sie lösen einander ab. Eröffnen einen Kosmos des Balletts, von der Neoklassik bis in die Gegenwart.
Und dann, Überraschung, am Ende, Duosi Zhu, die Tänzerin im weißen Kleid, auf bloßen Füßen, in wildem Tanz, mit der Gruppe, wie in einem beschwörenden Ritual: Nach allen typischen Varianten der Höhe, die dem Ballett eigen sind, ganz fest auf dem Boden, auf dem der Tatsachen, eben "The Second Detail". Das Publikum jubelt.
"Half Life", Choreografie von Sharon Eyal
Das wird laut. Der Sound wummert, knallt, schrammt und hämmert. Tänzerisch auf den ersten Blick eher lau. Eine Gruppe von 13 Tänzerinnen und Tänzern, in einer Art von Gruppenzwang, entindividualisiert, diffuses Halbdunkel.
Aber das scheint Absicht zu sein. Eine klingende und optische Reaktion auf Erfahrungen nur scheinbarer, gesellschaftlicher Freiheit und Individualität, die dann doch zu Zwängen wird, zu Vereinsamung in der Masse.
Ein Paar tanzt sich immer wieder heraus. Bewegungen wie ekstatisches Training des Beckenbodens bei ihm, aufstrebende Schultergymnastik auf halber Spitze bis zur Erschöpfung bei ihr. Aber kein Entrinnen, man fügt sich – welch bittere Ironie – so schmerzhaft wie lustvoll, in diesen Zwang eines donnernden Zeitgeistes. Der Applaus donnert euphorisch.
"White Darkness", Choreografie von Nacho Duato
Die Choreografie ist von 2001, Dresdner Erstaufführung, erste Begegnung mit einem Choreografen, dessen Arbeiten ja eigentlich recht vornan stehen im Repertoire des modernen Tanzes. Und natürlich auch ein Titel, der widersprüchlich erscheint: "Weiße Dunkelheit".
Aber diese weiße Dunkelheit, diese Widersprüchlichkeit, steht im Grunde für das dramaturgisch überzeugende Konzept des ganzen Abends. Bei aller Widersprüchlichkeit fügen sich am Ende drei Teile – die je für sich nicht unterschiedlicher sein könnten – zu einem Ganzen. Es geht um Aufbrüche, um schmerzhafte Eingrenzung, und eben jetzt um diese Dunkelheit des weißen Todes, der in sanfter Pulverform aus dem Bühnenhimmel kommt: Leise rieselt der Tod.
Diese Choreografie widmet Nacho Duato seiner Schwester, die dieser weißen Dunkelheit, im Drogentod, erlegen ist. Zur Musik von Karl Jenkins, vornehmlich Streicherklänge, die schon Traurigkeit aufkommen lassen, versuchen Svetlana Gileva und Christian Bauch, im tänzerischen Dialog mit vier anonymeren Paaren, diesem tödlichen Irrtum der weißen Dunkelheit zu entkommen.
Das sind berührende Szenen: Immer wieder der Versuch möglicher Nähe, dann Entfernung, Einsamkeit. Sehr eindringlich ist eine Szene des Paares, wenn die Musik verstummt, wenn zur optischen auch die akustische Einsamkeit kommt.
Und doch, das vermag der Tanz zu vermitteln, wenn er immer wieder an die Grenzen körperlicher Möglichkeiten geht, die Hoffnung, sei es ein noch so kleiner Schimmer, verlischt nicht. Und so eröffnet dieses Motto von der weißen Dunkelheit, im Zusammenklang der drei Kreationen, zwar keine eindeutigen, aber doch wohl subversive Varianten individueller Visionen möglicher Hoffnungen.
Aaron Watkin
Im eingangs erwähnten Interview betonte Aaron Watkin, dass ihm ja gerade dieses Werk von Nacho Duato sehr am Herzen läge. "White Darkness" sei für ihn eines seiner kraftvollsten Werke. Das möchte man auch gerne ergänzen: In 17 Jahren hat er mit über 50 Premieren dem Publikum viele kraftvolle Werke geschenkt.
Er hat es vermocht die Kraft des Tanzes, dieser Muttersprache des Menschen, hell aufleuchten zu lassen, das hat Augen und Ohren geöffnet, die Herzen des Publikums, nicht nur in Dresden, erreicht.
Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | 04. Juni 2023 | 03:15 Uhr