Chorsänger oder Solistin? Was braucht ein guter Chorsänger?
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29. Mai 2022, 13:38 Uhr
Ab wann spricht man eigentlich von einem Chor im Unterschied zu einem kleineren Vokalensemble? Was macht gute Chorsängerinnen und -sänger aus, was müssen sie können im Vergleich zu Solisten – und wie wird man Profi-Chorsänger?
Solo-Sänger sind die Stars der Musikwelt. Ihre Stimme macht sie einzigartig, egal ob bei einer klassisch ausgebildeten Virtuosin wie Anna Netrebko oder einem Naturtalent wie Freddie Mercury. Im Chor dagegen kommt es nicht auf den Klang einzelner Stimmen an – im Gegenteil, erklärt André Kellinghaus, Chordirektor des Sächsischen Staatsopernchores Dresden: "Das Entscheidende bei einem Chorklang ist, dass mehrere Stimmen sich zu einem Gesamtklang mischen."
Um von einem Chor sprechen zu können, muss also bei mehrstimmigem Gesang jede Stimme von mindestens zwei Menschen gleichzeitig gesungen werden – also "chorisch besetzt" sein. "Es wird immer einfacher, je mehr Stimmen hinzutreten", erklärt Kellinghaus – weil erst dann der ideale Mischklang entsteht, in dem die einzelnen Stimmen aufgehen.
Ist Chorgesang einfacher als Sologesang?
Wenn es auf den individuellen Klang nicht so sehr ankommt – ist es dann einfacher, ein professioneller Chorsänger zu werden als ein Solist? Nach dem Motto: Wer für die Arie nicht gut genug ist, kann immer noch im Chor landen?
"Falsch", sagt Kellinghaus. Zunächst seien Chorpartien nicht weniger anspruchsvoll als Solopartien: "Hören Sie sich mal zum Beispiel von Bach das Weihnachtsoratorium an oder die h-Moll-Messe", so Kellinghaus: "Das ist ganz schön virtuos mit den Koloraturen – die sind zum Teil sogar so schwierig, dass die eigentlich auch nur chorisch zu bewältigen sind, dass man sie solistisch kaum hinkriegen würde."
Außerdem haben Solisten einen Vorteil: Sie wählen aus und singen nur Partien oder Stücke, die zur eigenen Stimme passen. Im Chor dagegen muss jeder Einzelne singen, was gerade verlangt wird – egal ob es ihm oder ihr liegt. Von mittelalterlichem Repertoire bis zu zeitgenössischer Musik – "im Prinzip müssen die alles können", erklärt Kellinghaus: "Und das erfordert eine ganz besondere Flexibilität, sowohl in rein stimmlicher Hinsicht als auch in musikalischer Hinsicht."
Chorpartien sind nicht grundsätzlich einfacher als Solopartien. Das kann man gar nicht sagen. Nicht selten sind sie sogar rein stimmtechnisch schwieriger.
Dazu kommt: Solopartien sind meist so komponiert, dass sie sich auch angenehm singen lassen. Bei mehrstimmigen Chorsätzen dagegen haben die Komponisten dafür weniger Freiheiten, weil sie sogenannte Stimmführungsregeln beachten müssen: Bestimmte melodische Bewegungen etwa im Sopran haben zur Folge, dass an derselben Stelle in den anderen Stimmen nicht mehr jeder beliebige Ton benutzt werden darf. Diese Regeln sichern einen tollen Gesamtklang – bescheren den Chorsängerinnen und -sängern aber eben manchmal sehr sperrige Partien.
Voraussetzung Gesangsstudium
Wegen dieser Anforderungen braucht man in der Regel ein abgeschlossenes Gesangsstudium, um in einem professionellen Chor zu singen. Einen Master-Studiengang speziell für Chorgesang gibt es bundesweit nur in Dresden – Staatsopernchor-Direktor Kellinghaus ist einer der Studiengangsleiter. Das Besondere an diesem Master ist, dass die Studierenden an Proben des Staatsopernchores teilnehmen – und sogar an Vorstellungen in der Semperoper.
Durch diese Praxis haben sie aus Sicht von Kellinghaus sehr gute berufliche Aussichten: "Wir erleben sehr oft, dass Sängerinnen und Sänger ihren Studiengang hier gar nicht zu Ende machen, sondern quasi schon vor Ende dieses Studiengangs eine feste Stelle in einem Chor anderswo bekommen."
Bessere Karrierechancen
Die Altistin Bettina Denner ist erfahrene Solistin in Oper und Konzert, hat aber auch viele Jahre im MDR Rundfunkchor gesungen. Solistisch Karriere zu machen sei heutzutage schwierig, sagt Denner, weil es nur wenige freie Positionen gebe.
Anders sei es bei Chören: Dort gebe es ein großes Angebot, "von einer kleinen Chorstelle bis zu einer Fünf-Sterne-Chorstelle. Wenn jemand wirklich toll ist und das Ziel hat, im MDR oder in der Dresdner Oper im Chor zu landen, dann ist das eine tolle Berufsperspektive", so Denner. Wer das schaffe, könne "sehr gut verdienen" und "sehr glücklich sein mit seiner Tätigkeit".
Wahres Gesangstalent zeigt sich früh
Doch in welchem Alter und woran erkennt man, ob jemand das Zeug zum Profi hat? Bettina Denner arbeitet auch als Stimmbildnerin für den Leipziger Thomanerchor. Schon bei Kindern in der 4. Klasse erkennt sie "deutliche Unterschiede, wer ausgezeichnet ist und wer gutes Mittelmaß". Doch für eine endgültige Aussage ist es dann noch zu früh, zumal gerade bei Jungs später noch der Stimmwechsel ansteht.
Etwa im Alter von 16 Jahren, meint Denner, "kann man wirklich sagen: Das könnte eine Karriere werden". Sie erkennt das einerseits am Timbre, also der individuellen Klangfarbe, die sich kaum beeinflussen lässt. Ein anderes Kriterium ist der sogenannte "Stimmschluss", den man trainieren muss. Ist er gut, klingt die Stimme klar. Bei schlechtem Stimmschluss beschreibt Denner den Klang als "hauchig" – es ist zu viel Luft dabei.
Im Chor zählt die Gemeinschaft
Solisten bräuchten für eine Profi-Karriere neben den stimmlichen und musikalischen Fähigkeiten auch den Willen, "sich alleine vor die vielen Menschen zu stellen und zu singen" – und für die Oper natürlich Freude am Schauspiel, weiß die Sängerin.
Im Chor dagegen komme es auf Teamfähigkeit an: Man "muss sich gut anpassen an den Nachbarn, dass das gut zusammenklingt", so Denner. Chordirektor Kellinghaus ergänzt, man könne sich "Extravaganzen sicherlich viel weniger leisten". Eine gute Solistin ist also nicht immer auch eine gute Chorsängerin.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 26. Mai 2022 | 06:30 Uhr