Regisseurin Grit Lemke blickt freundlich in die Kamera.
Die Dokumentarfilmerin Grit Lemke hat sich für ihren neuen Film über sorbische Identität auch mit ihrer persönlichen Geschichte auseinandergesetzt. Bildrechte: MDR/Joachim Blobel

Interview Wie Grit Lemke sich auf die Spuren ihrer sorbischen Heimat begibt

26. Dezember 2022, 04:00 Uhr

Hoyerswerda, die Lausitz, der Osten: Grit Lemke setzt sich in ihren Büchern und Filmen immer wieder mit ihrer Heimat auseinander, sei es in "Kinder von Hoy" oder "Gundermann Revier". In ihrem neuen Film, der 2023 in die Kinos kommt, sucht die Dokumentarfilmerin nach den Wurzeln von Sorben – persönlicher als je zuvor. Warum sie dabei auf viel Selbsthass gestoßen ist und welchen sorbischen Weihnachtsfilm sie am meisten liebt, verrät die Autorin und Regisseurin im MDR KULTUR-Filmpodcast "Feinschnitt".

MDR KULTUR: Wir sind in der Weihnachtszeit. Hast Du einen Lieblingsweihnachtsfilm?

Grit Lemke: Ich bin, glaube ich, nicht die große Weihnachtsfilmguckerin. So etwas wie "Tatsächlich ... Liebe" gucke ich mir natürlich auch immer an, ganz brav. Ich gucke auch jedes Jahr "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel". Tatsächlich gibt es seit Neuestem einen sorbischen Weihnachtsfilm. Der hatte im November Premiere in Cottbus. Der ist von einer Filmemacherin aus Hoyerswerda, die ich für super begabt halte und die ganz tolle Kurzfilme macht.

Das ist ein klassischer Stummfilm – aber natürlich gab es keine sorbischen Stummfilme in der Art. Sie rekonstruiert etwas, was es nie gegeben hat. Sie erzählt eine kleine schöne Geschichte, sehr poetisch, wie ich finde, von einem Mädchen im alten Hoyerswerda. Es geht um das sorbische Bescherkind. Die Zwischentitel hat sie auf Tafeln gemacht, die sie mit original Blaudruck-Modeln gedruckt hat. Das ist alles super authentisch. Aber diese Authentizität ist praktisch fake. Das gefällt mir auch daran, weil das sind alles Sachen, die sie erfunden hat und die es nicht gab.

Mit Deinem sehr persönlichen Buch "Kinder von Hoy. Freiheit, Glück, Terror" bist Du ziemlich viel herumgereist. Nach diesen vielen Lesungen und Präsentationen – hast Du eine Idee, woran das lag, dass das Buch so einschlug?

Das weiß ich ziemlich genau. Weil das in so eine Leerstelle reinstößt, wegen derer ich das auch geschrieben habe. Ich habe das sehr stark so empfunden, dass das Narrativ über den Osten nicht stimmt oder nicht mit meinen Erfahrungen übereinstimmt. Und dass man dann anfängt, dagegen anzuschreiben und irgendwas zu machen, was die eigene Erfahrung wiedergibt. Natürlich dann auch eine Auseinandersetzung mit der "Schuld" von Hoyerswerda oder mit dem, was da passiert ist.

Aber ich glaube, die Leerstelle war es, dass die Leute sich wenig gesehen fühlen. Wenn sie sich gesehen fühlen, dann sind sie auch in der Lage zu reflektieren, über schlimme Dinge, über die sie sonst vielleicht nicht bereit wären, zu reden. Die Erfahrung habe ich tatsächlich gemacht. Es sind bei jeder Lesung immer lange, intensive Gespräche. Das ist immer toll.

Nach "Kinder von Hoy" und Deinem Film "Gundermann Revier" kommt jetzt mehr oder weniger der dritte Akt, nämlich "Das vergessene Volk". Ein Volk, das wenig beachtet unter uns lebt – die Sorben. Inwieweit würdest Du zustimmen mit dem dritten Akt?

Tatsächlich habe ich irgendwann gedacht, gut, das ist dann jetzt meine Lausitz-Trilogie. Es gibt ja die Lausitz-Trilogie von Peter Rocha, dann gibt es eine von Bernhard Sallman, das sind alles Filme. Ich sehe das als eine Aufarbeitung von Vergangenheit und persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Geschichte – das sind die drei Teile auf alle Fälle. Der Film wird nicht "Das vergessene Volk" heißen, das war der Arbeitstitel. Wie er heißt, ist noch nicht ganz klar. Aber es wird auch eine viel persönlichere Erzählung sein. Es geht auch um einen verdrängten Teil unserer Geschichte, genauso wie in "Kinder von Hoy" und in "Gundermann Revier".

Dein neuer Film hat den Arbeitstitel "Das vergessene Volk". Gab es da so eine Art Initialzündung für dich? Du beschäftigst dich schon sehr lange mit den Sorben. Aber wieso jetzt ein Film?

Ich erzähle grundsätzlich nur Geschichten, die irgendetwas mit mir zu tun haben. Ich glaube nicht mehr an dieses Prinzip: Ich gehe irgendwohin und recherchiere etwas, und dann mache ich einen Film über Leute, die nichts mit mir zu tun haben. Weil ich glaube, dass man am besten über Dinge erzählen kann, die man selbst kennt. Das ist auch das, was Wolfgang Kohlhaase immer sehr verfochten hat. Der hat mal gesagt, wenn du sozial erzählen willst, denke daran, was du im Alter von sechs Jahren aus dem Küchenfenster gesehen hast.

Ich habe zum Beispiel auf eine Lausitzer Landschaft geblickt aus meinem Küchenfenster. Das war einmal Hoyerswerda, aber das war auch das Dorf, aus dem wir gekommen sind. Wo man in einer Umgebung großgeworden ist, die total sorbisch geprägt war mit ganz vielen Dingen, die man einfach gemacht hat: Zampern, Oster-Eier mit Wachs färben, die Mittagsfrau war präsent. Lauter Sachen, die sorbisch sind. Aber Sorben, das waren immer die anderen. Sorben, das war was ganz Schlimmes.

Ich habe meine ganze Kindheit und Jugend nie irgendetwas Positives über Sorben gehört. Das ist auch eine Art von Selbsthass.

Grit Lemke, Filmemacherin und Autorin

Ich habe meine ganze Kindheit und Jugend nie irgendetwas Positives über Sorben gehört. Irgendwann stellt man dann fest, dass die eigene Familie sorbische Wurzeln hat. Das ist auch eine Art von Selbsthass. Und dann fängt man an, genauer hinzugucken, wo kommt man eigentlich her? Was sind das für Wurzeln? Was ist da passiert? Ich habe irgendwann angefangen, Sorbisch zu lernen, weil ich glaube, dass Sprache der Schlüssel für alles ist. Je besser ich Sorbisch sprach, desto mehr Sorbisches habe ich entdeckt. Auf einmal habe ich gesehen, dass ungefähr 80 Prozent der Leute, mit denen ich befreundet bin, zur Schule gegangen bin, die Nachbarn, dass die sorbische Namen haben. Da habe ich gedacht, krass, sowas Totgeschwiegenes.

Sorbinnen in Schleifer Tracht
2023 im Kino: Grit Lemke begibt sich in ihrer Doku auf die Suche nach sorbischer Identität – Folklore ist laut ihr ein Teil davon. Bildrechte: imago/Rainer Weisflog

Ich bin mittlerweile in dieser sorbischen Community sehr vernetzt. Ich habe da einen Großteil meiner Freundinnen und Freunde, erlebe ganz viel Gemeinschaft und verbringe Zeit mit denen. Ich habe da Leute gefunden, die genau diesen Prozess durchmachen wie ich, aber die an verschiedenen Stellen stehen. Natürlich auch Leute, die noch so richtig sorbisch leben, in der Oberlausitz. Da gibt es noch die sorbischen Dörfer, wo Sorbisch die Muttersprache ist, die sind auch in dem Film.

Aber es geht in dem Film nicht um die Sorben. Das sagt auch Jurij Koch, der Schriftsteller in dem Film: Die Sorben gibt es nicht. Genausowenig wie es die Deutschen gibt. Eigentlich ist es vermessen zu sagen, man macht einen Film über Sorben. Wenn jemand sagen würde, ich mache einen Film über die Deutschen, den würde man auslachen. Genausowenig kann man einen Film über die Sorben machen. Aber ich kann einen Film über die Suche nach Wurzeln machen. Und das ist es eigentlich am Ende.

Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung. Das komplette Gespräch führten Anna Wollner und Lars Meyer für "Feinschnitt" den Film-Podcast von MDR KULTUR.
Redaktionelle Bearbeitung: Valentina Prljic

Weitere Informationen Grit Lemkes Dokumenarfilm "Zabyty lud. Das vergessene Volk" (AT) kommt 2023 ins Kino und Fernsehen.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | "Feinschnitt" | 23. Dezember 2022 | 18:00 Uhr

Mehr MDR KULTUR