Belarus Die schmerzhafte Erfahrung mit der Revolution
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09. September 2016, 14:02 Uhr
Die weißrussische Bürgeraktivistin Tatjana Karatkewitsch gilt vielen als unabhängig und setzt sich für einen friedlichen Wandel in Belarus ein. 2015 war sie die erste offiziell registrierte Präsidentschaftskandidatin. Damals hatte sie allerdings wie erwartet das Nachsehen gegen Amtsinhaber Lukaschenko mit weniger als fünf Prozent. Ein Ergebnis, das sie und unabhängige Beobachter stark anzweifeln. Dennoch stellt sich Karatkewitsch wieder zur Wahl – bei der Parlamentswahl am 11. September.
Warum stellen Sie sich trotz Ihrer Niederlage erneut einer Wahl in Ihrem Land?
Die Menschen, die für mich gestimmt haben, sagten: "Tatjana, wir haben Ihnen unsere Stimme gegeben. Bitte setzten Sie Ihren politischen Weg fort, setzen Sie den Kampf um Ihr Programm fort." Als wir unsere Kampagne bei den Präsidentschaftswahlen angefangen haben, haben wir uns entschieden, dass wir auch diese Wahlen angehen. Für uns ist das ein Marathon, bis wir das Ziel erreicht haben, bis unsere Gesellschaft sich tatsächlich verändert hat.
Glauben Sie, dass dieser Marathon zu den Präsidentschaftswahlen tatsächlich fair ablief oder hatten Sie eigentlich gar keine Chance?
Als Kandidatin erkenne ich die Wahlen von 2015 und ihre offiziellen Ergebnisse nicht an. Ich habe auch mehr als 1.000 Beispiele von Fälschungen und Rechtsverletzungen präsentiert. In Wirklichkeit haben für mich sehr viele Menschen gestimmt, laut den Umfragen sind das etwa 20 Prozent. Die Praxis unserer Wahlen und das Leben unseres politischen Systems zeigen also, dass die Stimmen geklaut werden können, aber die Unterstützung nicht.
Es gibt Menschen in Belarus, die deshalb dazu aufrufen, die Wahlen am 11. September zu boykottieren. Nicht wählen zu gehen - was halten Sie davon?
Nicht wählen gehen, bedeutet Ignoranz, oder das Nichtstun. Das betrifft sowohl einfache Menschen, als auch einige Aktivisten und Beobachter, die diesen Weg wählen. Wir haben jedoch erlebt, dass diese Taktik im Laufe der letzten zehn Jahre so gut wie gar nichts gebracht hat. Ich meine: Wir haben uns keinen Reformen angenähert, wir haben nicht an Einfluss in der Gesellschaft gewonnen, wir haben nicht an Größe gewonnen - damit meine ich die Demokraten. Das sage ich auch meinen Wählern, die Wahlfälschungen fürchten. Ich sage: Um das zu vermeiden, müssen Sie am Haupttag der Wahlen Ihre Stimme abgeben. Und jeder Weißrusse muss sich irgendwie verändern. Jeder muss eine gewisse Verantwortung übernehmen und eine Wahl in die Richtung der verantwortlichen Kandidaten machen, die für Veränderungen kämpfen. Und dann muss man nicht nur "schweigender Bürger" sein, sondern Fragen stellen, nach Verantwortlichen suchen und aktiv sein. Weil davon unsere Zukunft abhängt.
Allerdings hat das Parlament keinen großen Einfluss in Belarus. Warum also sollte die Parlamentswahl daran etwas ändern?
Es gibt einen Teil der Menschen, der sagt: "Oh nein, es ist alles gut, wir wollen wie früher leben." Aber es gibt eben einen großen Teil der Menschen, der Veränderungen will. Selbstverständlich werden diese Wahlen die Entwicklung der internationalen Beziehungen von Weißrussland beeinflussen - mit dem Westen und mit dem Osten, darunter auch mit Russland. Aus dem Parlament muss man die Wahrheit hören, dort muss die Stimme der Menschen laut zu hören sein. Es müssen gewählte demokratische Kandidaten sein - und es muss alternative Meinungen geben. Es muss diskutiert werden. Meine Aufgabe als demokratische Kandidatin ist es, die Arbeit des Parlaments einflussreicher zu machen.
Sie stehen für einen friedlichen Wandel, nicht für eine Revolution. Aber ist so ein Wandel wirklich möglich in der "letzten Diktatur Europas", in der Demonstranten wie nach der Präsidentschaftswahl 2010 von Polizisten niedergeknüppelt werden?
Ich muss Sie daran erinnern, dass ich die Vertrauensperson von Wladimir Nekljajew war. Wir waren das Team, das die Menschen damals auf die Straße gerufen hat. Denn wir waren davon überzeugt, dass positive Veränderungen auch während eines Tages möglich sind. Aber wir haben dann diese unerklärliche Aggression seitens der Machthaber erlebt. Und dann die Angst und Apathie der Wähler abbekommen, die am 19. Dezember einfach nur an einem friedlichen Protest nach den Präsidentschaftswahlen teilnehmen wollten. Aus diesen Erfahrungen haben wir die Kraft gefunden, um unsere Strategie zu verändern - nicht revolutionär, sondern evolutionär zu agieren. So entwickelt sich die Geschichte, verstehen Sie? Heute brauchen wir als Gesellschaft mehr Dialog, wir müssen gemeinsam noch viele Probleme unseres Landes lösen.