Holodomor Hungersnot in der Ukraine - Wie es vor 100 Jahren dazu kam
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23. Dezember 2022, 10:13 Uhr
In den 1920er- und 1930er-Jahren werden weite Gebiete des heutigen Russlands und der Ukraine kurz nacheinander von zwei schweren Hungersnöten heimgesucht. Millionen Menschen verlieren ihr Leben. Die Ukraine kämpft knapp 100 Jahre später um die Anerkennung der Geschehnisse als Völkermord. Der Bundestag und das Europäische Parlament teilen inzwischen diese Ansicht. Wie kam es zu dieser Katastrophe? Wäre das heute wieder möglich?
Was heute für viele Menschen undenkbar scheint, war vor gerade einmal 100 Jahren auf russischem Staatsgebiet bittere Realität. Die eigentlich so fruchtbare Region erlitt innerhalb von nicht einmal zehn Jahren zwei schwere Hungersnöte. Nachdem die erste zwischen 1921 und 1922 auf dem Gebiet Russlands bereits schätzungsweise fünf Millionen Menschenleben forderte, folgte bereits Anfang der 1930er-Jahre die nächste Katastrophe. Weitere neun Millionen Menschen starben in den Republiken der noch jungen Sowjetunion. Besonders hart traf es die Ukraine. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?
1. Weltkrieg und Bürgerkrieg bringen den Hunger nach Russland
Bereits vor dem Beginn der Hungersnot im Jahr 1921 hatte Russland eine schwere und unruhige Zeit hinter sich. "Man schaute zurück auf lange Jahre des Ersten Weltkriegs, die Revolutionen im Februar und Oktober 1917 sowie auf den darauffolgenden Bürgerkrieg auf dem Territorium des ehemaligen russischen Kaiserreiches", sagt der Historiker Prof. Dr. Stefan Rohdewald von der Universität Leipzig.
Heute lässt sich der Ausbruch der Hungersnot als direkte Folge dieser Jahre identifizieren. Insbesondere die zwischen 1918 und 1921 propagierte Wirtschaftspolitik des "Kriegskommunismus" sowie die Beschlagnahmung von Getreide durch den Staat und die Kriegsparteien trugen ihren Teil dazu bei. "Alle Bürgerkriegsparteien waren darauf angewiesen, dass sie genügend Getreide für die Armeen, die sie betrieben, behielten. Dafür griffen sie auf Zwangsrequirierungen zurück. Insbesondere die Rote Armee", so Rohdewald. Hinzu kam die Ablehnung internationaler Unterstützung. Bereits 1919 bot die American Relief Administration (ARA) Lenin Hilfe an, der diese jedoch zunächst ablehnte.
Einlenken der Politik leitet Ende der Hungersnot ein
Als sich die Situation zunehmend verschlechterte, führte dies schließlich zu einem politischen Umdenken. "Die Regierung reagierte mit der Ausrufung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP). Damit wurden die Maßnahmen gelockert und der 'Kriegskommunismus' aufgehoben", sagt Rohdewald. Diese neue Politik war nun gekennzeichnet durch eine Liberalisierung sowie Dezentralisierung der Landwirtschaft. Zudem sei nun auch ausländische Hilfe zugelassen worden, was wesentlich dazu beigetragen habe, die Hungersnot zu beenden. Die Haupthilfslast fiel dabei auf die ARA. "Die ARA ernährte nach Schätzungen zehn bis zwölf Millionen Menschen. Die Hilfe kam somit größtenteils aus Amerika." Bis zum Ende des Jahres 1922 sollte die Hungersnot schließlich ein Ende finden. Schätzungen zufolge verloren in dieser Zeit fünf Millionen Menschen ihr Leben.
Stalins Politik führt zu zweiter Hungersnot
Nach dem Tod Lenins und der Machtübernahme Josef Stalins entschied dieser sich, ab 1928 einen erneuten Wandel der Politik herbeizuführen. "Stalin hatte schon kurz vorher die Wende ausgerufen, die NEP beendet und Zwangskollektivierungen durchgeführt. Es wurden Fünfjahrespläne entworfen und durchgesetzt. Außerdem wurde die Einwurzelungspolitik, also die Förderung nationaler Identitäten beendet."
Hinzu kamen weitere Maßnahmen wie die Wiedereinführung von landwirtschaftlichen Zwangsabgaben. Für Krise und Not präsentierte Stalin gleichzeitig Sündenböcke: Die Kulaken, die Klasse vermeintlich wohlhabender Bauern und Landbesitzer, die er fortan unbarmherzig verfolgen ließ. Als Kulaken wurden aber auch all jene landwirtschaftlichen Arbeiter verfolgt, die sich gegen die staatliche Politik stellten. In der Folge wurden viele Bauern enteignet, verhaftet, deportiert und hingerichtet. Dies führte zu einem erheblichen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion.
Das wäre nicht der Grund gewesen für eine Katastrophe solchen Ausmaßes, auch nicht der gleichzeitige Export von Weizen. Wesentlich war die Politik von Stalin, gleichzeitig unantastbare Getreidereserven aufzubauen. Diese sollten nur im Kriegsfall genutzt werden.
Die Konsequenzen waren dramatisch. Bis zum Jahr 1934 starben bis zu neun Millionen Menschen an den Folgen der Hungersnot. Gemessen an der Gesamtbevölkerung gab es auf den Gebieten Kasachstans (1,5 Millionen) sowie der Ukraine (vier Millionen) die meisten Todesopfer zu beklagen. Auch Russland hatte mit drei Millionen Toten stark unter der Katastrophe gelitten, auch wenn dies lediglich vier Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach.
Holodomor: Völkermord durch Hunger in der Ukraine?
Die starken Auswirkungen auf ukrainischem Territorium lagen auch daran, dass hier die Schicht der vermeintlichen Kulaken besonders groß war. Zur damaligen Zeit waren ca. 80 % der Bevölkerung der Ukraine Bäuerinnen und Bauern. Die Politik traf somit breite Teile des Volks. "In der Ukraine gab es mehr Einzelbauereigentum. Das heißt mehr Bauernhöfe mit großem Grundbesitz. Gegen die Schicht der sogenannten Kulaken wurde eine besondere Kampagne gefahren. Das betraf insbesondere die ukrainischen Gebiete", so Rohdewald.
Die Folge waren starke Rückgänge der Anbaufläche, des Viehbestands und damit auch des landwirtschaftlichen Ertrags, während die staatlich verordneten Abgabenquoten weiterhin hoch blieben. Hinzu kamen natürliche Krisen wie Dürreperioden in den Jahren 1931 und 1932, welche die Ernte weiter verringerten. Weitere Repressionen wie Grenzschließungen und Mobilitätseinschränkungen verhinderten zudem die Flucht der Bäuerinnen und Bauern. "Der Staat hat Maßnahmen erlassen, welche die Situation weiter verschlimmerten. Das ist ein großer Unterschied zur ersten Hungersnot. Diesmal erfolgte keine pragmatische Antwort der Politik", meint Rohdewald. Auch sei versucht wurden, die Hungersnot geheimzuhalten, internationale Hilfsangebote wurden abgelehnt. Bis zum Ende der Hungerkatastrophe verloren Schätzungen zufolge vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Leben - das entspricht 14 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. In der Ukraine wird die Hungersnot heute als Holodomor bezeichnet - übersetzt bedeutet dies "Tötung durch Hunger".
Ukraine kämpft um Anerkennung als Völkermord
Die Ukraine bemüht sich seit ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion um die Anerkennung des Holodomors als Völkermord. Hierzu gibt es jedoch nach wie vor kein einstimmiges internationales Meinungsbild. Auch unter Historikerinnen und Historikern ist diese Einordnung teilweise umstritten. Der Deutsche Bundestag hat die Hungersnot erst Ende November 2022 als Völkermord anerkannt. Wenige Wochen später stufte auch das Europäische Parlament den Holodomor als Genozid ein. Eine Einschätzung, die auch Rohdewald mit Verweis auf die Genozid-Definition der Vereinten Nationen teilt. "Wenn einer Gruppe der Zugang zur Ernährung verwehrt wird, dann werden Bedingungen geschaffen, unter denen kein Leben mehr möglich ist. Wenn dann noch die Republikgrenzen geschlossen werden, dann bezieht sich das selbstverständlich auch auf die Ukraine."
Droht auch heute wieder Hunger in der Ukraine?
Nicht einmal 100 Jahre später steht die Ukraine nun vor ihrer nächsten existentiellen Krise. Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen das Land und wie damals geht es auch heute um nichts geringeres als das Überleben der ukrainischen Identität. Als sich im Laufe des Jahres Berichte über gestohlene Getreidevorräte und Ausfuhrblockaden häuften, weckte dies Erinnerungen an die dunklen Zeiten des Holodomors. Die Gefahr des Hungers im Zuge des Krieges betreffe heute allerdings andere Regionen der Welt, meint Rohdewald. "Die Behinderung des Exports von Getreide aus der Ukraine wurde hauptsächlich thematisiert mit Afrika und allgemein mit der Versorgung der Weltbevölkerung." Die Ukraine sei als einer der weltweit größten Getreideexporteure von großer Relevanz für die globale Lebensmittelversorgung.
Problematischer für die Ukraine sei eher die zielgerichtete Zerstörung ziviler Infrastruktur, welche der Historiker scharf verurteilt. "Die Zerstörung der zivilen Infrastruktur soll unlebbare Bedingungen für die Bevölkerung schaffen und kann auch zum Tode führen. Es geht um Strom- und Heizungsinfrastruktur. Solche Angriffe sind schwere Kriegsverbrechen."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | DAS ROTE IMPERIUM | 24. Januar 2023 | 00:20 Uhr