Das 1982 in Kiew aufgestellte Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft im Jahr 2022.
In der Ukraine werden Denkmäler, die an Russland oder die Sowjetunion erinnern, demontiert. Der Ukraine-Krieg hat den Kampf der Narrative verstärkt – fast jedes wichtige Ereignis der Geschichte des Landes hat zwei konkurrierende Deutungen: eine ukrainische und eine russische. Bildrechte: Imago Images

Propaganda Geschichte als Waffe: Sind Ukrainer und Russen ein Volk?

18. August 2024, 05:00 Uhr

Im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine spielt die Geschichte eine zentrale Rolle. Beide Seiten nutzen historische Argumente, um ihre Positionen zu rechtfertigen und den Kampfgeist zu stärken. Russland behauptet, die Ukraine gehöre historisch zu Russland, während die Ukraine ihre eigenständige Entwicklung betont. Historische Narrative werden als "Waffe" im russisch-ukrainischen Konflikt genutzt – und zwar nicht erst seit Ausbruch der offenen Kriegshandlungen.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Cezary Mariusz Bazydlo
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Russen und Ukrainer seien ein Volk und die Ukraine ein künstliches Gebilde, hat Russlands Präsident Wladimir Putin mehrmals behauptet. In einer seiner Reden sagte der Kremlherr beispielsweise: "Die Sowjetmacht schaffte die sowjetische Ukraine, das ist allgemein bekannt. Davor gab es in der Geschichte der Menschheit keine Ukraine." Für den Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler sind diese Worte "eine Art Kriegserklärung mit der Waffe der Geschichte", wie er in der MDR-Dokumentation "Blackbox Ukraine: Kampf um die Geschichte" erklärt.

Historische Landkarte als Propaganda-Instrument

Fast schon kurios mutet in diesem Zusammenhang eine kleine Inszenierung des Kremls im Mai 2023 an. Im Mittelpunkt stand eine französische Landkarte aus dem 17. Jahrhundert, auf der die Ukraine angeblich nicht verzeichnet war. Der Präsident des russischen Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, will sie im Gerichtsarchiv entdeckt haben. Vor laufenden Kameras präsentierte er den Fund dem russischen Machthaber. "Warum habe ich sie mitgebracht?", fragte er rhetorisch, und antwortete sogleich: "Weil es da keine Ukraine gibt." "Na klar", antwortete Putin.

Der russische Präsident Wladimir Putin und der Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, betrachten während eines Treffens im Moskauer Kreml eine Karte.
Wladimir Puttin und Waleri Sorkin an einer historischen Landkarte, die die Nichtexistenz der Ukraine im 17. Jahrhundert beweisen soll – laut Historikern ein Fake. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Doch Timothy Snyder, Osteuropa-Historiker an der Yale University, widerspricht: "Wenn man diese Karte genau betrachtet, wird man feststellen, dass das Wort 'Ukraine' sehr wohl draufsteht. Und dass das Wort 'Russland' nicht auf der Karte zu sehen ist. Das ist wieder ein schönes Beispiel dafür, wie manche Menschen nur das sehen, was sie sehen wollen."

Für Putin ist die Geschichte ein wichtiges Mittel, um politische Ziele zu erreichen – dazu hat er sogar eigene historische Aufsätze publiziert. In den Augen der russischen Geschichtsbloggerin Tamara Eidelman ist das regelrechte Geschichtsklitterung: "Putin hat die Eigenart, dass er sich aus der Geschichtswissenschaft das nimmt, was er braucht, es auf den Kopf stellt und für seine Zwecke nutzt."

Ukrainer als "kleine Brüder" der Russen?

Doch nicht nur in Putins persönlichem Geschichtsbild gibt es keinen Platz für die Ukraine als eigenständige Nation, auch ein Großteil der russischen Öffentlichkeit sieht es ähnlich. Die Ukrainer gelten in Russland oft als dümmliche "kleine Brüder", tollpatschige und vertrauensselige Kosaken-Nachfahren, die immer wieder vom Westen manipuliert und auf das unschuldige Russland gehetzt werden.

Die Ukrainer lassen das nicht gelten und bestehen auf ihrer Eigenständigkeit. Und so hat jedes zentrale Ereignis der ukrainischen Geschichte zwei Deutungen – eine ukrainische und eine russische. Das beginnt schon mit der Taufe des Kiewer Fürsten Wolodymyr (ukrainisch) bzw. Wladimir (russisch) im Jahr 988, die in beiden Staaten als Gründungsmythos herhalten muss. Moskau gibt es zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Kiewer Rus – Gründungsmythos dreier Nationen

Kiew dagegen wird zum Inkubator eines neuen Reiches: der alten Kiewer Rus, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht. Heute gehören diese Gebiete zu drei Staaten: Russland, Belarus und der Ukraine. Und alle drei haben die Kiewer Rus zu einem festen Bestandteil ihrer nationalen Mythologie gemacht. Dabei gab es damals noch keine Nationen im heutigen Sinne, betonen Historiker.

Denkmal von Fürst Wladimir in Moskau wird gereinigt.
Denkmal von Fürst Wladimir in Moskau – Russland reklamiert den Kiewer Fürsten aus dem Mittelalter als Gründungsvater der Nation für sich. Bildrechte: IMAGO / SNA

"Im Mittelalter von Ukraine und Russland zu sprechen, ist unsinnig. Das waren keine Russen und Ukrainer. Wie sie sich gefühlt haben, wissen wir nicht", sagt Kappeler. Sein ukrainischer Kollege von der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder pflichtet ihm bei und vergleicht die Situation in der Kiewer Rus mit den Herrschaftsgebieten Karls des Großen in Westeuropa: "Wir wissen, dass dort weder moderne Deutsche noch moderne Franzosen lebten. Ebenso lebten weder moderne Ukrainer, noch moderne Belarussen und Russen in der alten Rus. Aber alle drei Nationen haben ihre Kulturgeschichte und Mythologie auf den Ursprüngen der Rus aufgebaut."

Und so wird der Kiewer Fürst Wladimir in Russland, entgegen den Tatsachen, zum Vater der Nation erklärt. 2016 weihte Putin in Moskau eine Wladimir-Statue ein und würdigte den Fürsten als Einiger Russlands: "Fürst Wladimir ist für immer als Sammler und Verteidiger russischer Erde in die Geschichte eingegangen."

Westanbindung durch Zugehörigkeit zu Polen

Putins Erzählung verfängt. Das Narrativ einer gemeinsamen Geschichte der Ukraine und Russlands hält sich hartnäckig. Dabei war alles ganz anders. Nach dem Zerfall der Kiewer Rus schreibt die Ukraine ihre ganz eigene Geschichte. "Die ganze Ukraine hat vom 14. bis zum 17. Jahrhundert zu Polen-Litauen gehört. Und natürlich hat das dieses Land geprägt. Es gehörte viel länger zu Polen als zu Russland", sagt der Osteuropa-Historiker Kappeler.

Panoramablick auf Lviv von einer Drohne aus.
Durch die lange zugehörigkeit zu Polen-Litauen übernahm die heutige Ukraine viele westliche Einflüsse – das schlägt sich heute u.a. im Stadtbild von Lviv nieder, das wie eine typische mitteleuropäische Stadt aussieht. Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Über Polen-Litauen gelangen viele westeuropäische Einrichtungen und Erfindungen in die heutige Ukraine: "Humanismus, Reformation, Jesuitenschulen oder schon früher das Stadtrecht – das sind alles Dinge, die es in der Ukraine gegeben hat und in Russland praktisch nie. Diese Westorientierung durch diese lange Zugehörigkeit ist heute für das Selbstverständnis der Ukrainer sehr wichtig", so Kappeler.

Kosaken-Mythos zentral für ukrainische Identität

Auch bei den Kosaken konkurrieren ukrainische und russische Narrative untereinander. Für die heutigen Ukrainer ist der Kosakenmythos identitätsstiftend – in ihrer Nationalhymne singen sie, dass sie deren Nachkommen sind. Im 17. Jahrhundert bewohnen die Kosaken, ein Volk von Freibeutern, Söldnern, Fischern und Bauern, weite Teile der heutigen Ukraine beidseits des Dnipro.

Ihr Oberhaupt wählen sich die Kosaken selbst, und zwar auf einem großen Platz namens Majdan – eine frühe Form von Demokratie und Vorbild für die Majdan-Bewegung im 21. Jahrhundert. "Entscheidend ist, dass die innere Ordnung der Kosaken eine ganz besondere war. Ich habe das mal mit den Worten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, also dem Slogan der französischen Revolution, umschrieben. Der einzelne Kosak war frei und hielt seine Freiheit über alles", sagt Kappeler.

An der Wand eines Wohnhauses im Zentrum von Saporischschja ist ein Wandgemälde des Saporoger Kosaken zu sehen, der die FPV-First-Person-View-Kampfdrohne bedient und bereit ist, den Feind mit einer Handgranate zu bombardieren.
Die Saporoger Kosaken sind für die Ukrainer identitätsstiftend. Auf diesem Wandgemälde steuert ein Kosage in historischer Tracht eine Drohne gegen den russischen Agressor. Bildrechte: IMAGO/SOPA Images

So geraten die Kosaken zunehmend in Konflikt mit dem polnischen Adel und starten 1648 einen Aufstand – eine Parallele zum heutigen Unabhängigkeitskampf. Ihrem Anführer Bohdan Chmelnitski gelingt es, den größten Teil der Ukraine von der polnischen Herrschaft zu befreien, und er zieht mit seinen Männern in Kiew ein.

Doch die Polen wollen den Verlust der Ukraine nicht hinnehmen, und sie haben eines der mächtigsten Heere Europas unter Waffen. Chmelnitski ersucht darum Hilfe beim Moskowiter Zaren Alexei I. 1654 schließen sie in der Stadt Perejaslaw, rund 100 Kilometer von Kiew entfernt, einen Vertrag mit ihm und stellen sich freiwillig unter seine Schirmherrschaft. Hier setzt das russische Narrativ an, dass dieses Ereignis zu einer Vereinigung eines Brudervolkes mit Russland stilisiert.

Dabei fassten beide Seiten dessen Bedeutung völlig unterschiedlich auf, betont Geschichtsbloggerin Eidelmann: "Die Kosaken glaubten, dass es sich um eine Vereinigung unter Gleichen handelte. Vielleicht ist der Moskowiter Zar ein bisschen bedeutender, aber auf jeden Fall würden sie immer noch ihre Autonomie und ihre Rechte behalten. Die Vertreter Moskaus haben das ganz anders verstanden."

Selbst Tschernobyl wird unterschiedlich gedeutet

Und so erstreckt sich der Kampf der Narrative auf alle Epochen – bis zur Zeitgeschichte. Selbst der Bau des Kernkraftwerks in Tschernobyl und die spätere Nuklearkatastrophe dort werden in Russland und der Ukraine unterschiedlich gedeutet. Russen betrachten den AKW-Bau in den 1970er Jahren als eine Wohltat für die Ukraine, die dadurch moderner geworden sei. Ukrainer verweisen hingegen auf die zur Zeit des AKW-Baus stattfindende, vom sowjetischen Staat geförderte Russifizierungswelle.

Straßensperre nach AKW-Katastrophe von Tschernobyl, 1986
Auch der Umgang Moskaus mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl sorgte für eine Entfremdung der Ukrainer von Russland. Die Zentrale in Moskau setzte das Leben der Ukrainer leichtfertig aufs Spiel, um das wahre Ausmaß der Katastrophe unter den Teppich zu kehren. Bildrechte: MAGO / ITAR-TASS

Den Umgang der Zentrale in Moskau mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl empfinden viele Ukrainer zudem als respektlos und unverantwortlich. Die Regierung in Moskau versuchte, die Nachricht zunächst geheim zu halten und das Ausmaß der Katastrophe zu vertuschen. Später spielte sie die Gefahr für die Bevölkerung in Kiew herunter und ließ die pompösen Feierlichkeiten zum 1. Mai stattfinden, als wäre nichts geschehen.

Das Vertrauen in den Staat, der in ukrainischer Sichtweise für Moskau und damit für Russland steht, ging in die Brüche. Nach Tschernobyl stellten sich in der Ukraine erstmals breite Kreise gegen die Moskauer Führung: Umweltschützer, Bergarbeiter, Künstler, Oppositionelle. Das trug zum Erstarken der Unabhängigkeitsbestrebungen bei – bis sich der Unabhängigkeitswille 1991 Bahn brach.

MDR-Dokumentation zum Thema

Dem "Krieg der Erinnerungen" ist eine aktuelle MDR-Dokumentation gewidmet. Sie zeigt, dass der Kampf der Narrative viel älter ist als der aktuelle "heiße" Krieg zwischen Russland und der Ukraine, und macht begreifbar, wie seit Jahrhunderten russische Propaganda, Volksmärchen oder auch Spionageromane der 1970er Jahre, die den jungen Putin begeisterten, den russischen Angriffskrieg ideell vorbereitet haben. Die Dokumentation ist ab sofort in der ARD-Mediathek und am 18.08.2024 im MDR-Fernsehen zu sehen.

Das 1982 in Kiew aufgestellte Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft im Jahr 2022.
Bildrechte: Imago Images
MDR FERNSEHEN So, 18.08.2024 22:00 23:30
MDR FERNSEHEN So, 18.08.2024 22:00 23:30

MDR DOK Blackbox Ukraine - Kampf um die Geschichte

Blackbox Ukraine - Kampf um die Geschichte

Film von Andreas Fauser und Dirk Schneider

  • Stereo
  • Audiodeskription
  • 16:9 Format
  • HD-Qualität
  • Untertitel
  • VideoOnDemand

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Blackbox Ukraine – Kampf um die Geschichte | 18. August 2024 | 22:00 Uhr