Digitale Forensik Soko Altfälle: drei Kindstötungen nach Jahrzehnten aufgeklärt
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14. September 2020, 11:26 Uhr
1991 wurde die zehnjährige Stephanie von einem Unbekannten in Weimar entführt. Zwei Tage später wurde das Mädchen tot gefunden – unter der Teufelstalbrücke bei Jena. Vom Täter fehlte über viele Jahre jede Spur. 2016 gründete Thüringen eine "Sonderkommission Altfälle" – sie sollte unaufgeklärte Kriminalfälle wie jenen von Stefanie noch einmal unter die Lupe nehmen. Mit der Hilfe der digitalen Forensiker von der Hochschule Mittweida gelang es, die Täter zu überführen.
Am Anfang waren Akten – Berge von Akten! Auf drei Altfälle aus den frühen Neunziger Jahren konzentrierte sich die neugeschaffene "Soko Altfälle" – drei Kinder waren damals in Thüringen entführt und später tot aufgefunden worden. Bei allen drei Verbrechen hatte man damals keinen Täter gefunden und musste irgendwann die Ermittlungen erfolglos abbrechen. Die Gruppe von erfahrenen Polizisten unter Führung des Ersten Kriminalhauptkommissars Andreas Gerstberger musste deshalb eine Strategie entwickeln, wie man einen neuen Blick auf die alten Fälle finden könnte.
Alte Akten müssen abgetippt werden
Es galt zunächst, die alten Akten zu ordnen, um eine Übersicht über vorhandene kriminaltechnische Spuren und Gutachten zu bekommen. Viele der alten Akten mussten komplett abgeschrieben werden, um überhaupt eine Digitalisierung zu ermöglichen. Denn die damals noch verwendeten Schriftarten konnten von der Software nicht gelesen werden. Am Ende waren es über 3.000 Seiten, die regelrecht abgetippt werden mussten. Erst nach Vorliegen des vollständig digitalisierten Aktenmaterials konnte es an die Planung der Untersuchung gehen. Die Fälle wurden neu bewertet, die vorhandenen Ermittlungsspuren nach Erfolgsaussicht geordnet. Informationslücken mussten geschlossen werden, ehe mit der neuen Ermittlungsarbeit begonnen werden konnte.
Ähnliches Tatmuster verrät möglichen Täter
Im Falle von Stefanie aus Weimar wurden zwei weitere Fälle von vermissten Kindern herangezogen – beim Vergleich der Aktenlage der drei Fälle führte schließlich die Ähnlichkeit der Tatmuster zu einem möglichen Täter: einem LKW-Fahrer, ursprünglich aus Weimar stammend, inzwischen in Berlin lebend. In allen Fällen hatte der Täter die Kinder jeweils angesprochen, nach einem etwas entfernteren Ziel gefragt und die Kinder um Hilfe gebeten. Hatte er Erfolg, stiegen die Kinder in sein Auto. Später missbrauchte er sie und setzte sie irgendwo aus. Der Mann hatte Vorstrafen, war erst 2013 aus der Haft entlassen worden. Die Ermittler beobachteten ihn fast 14 Tage, folgten ihm bei seinen Unternehmungen. Dann erfolgte der Zugriff durch ein SEK-Kommando in Berlin. Der Mann gestand bei der Vernehmung noch in Berlin, er habe Stephanie damals vom Spielplatz entführt. Zu einem sexuellen Missbrauch kam es bei dem Mädchen aber nicht. Und: der Täter bestritt die Tötung. Das Mädchen sei bei einem Zwischenstopp auf der Teufelstalbrücke heruntergefallen.
Für Kriminalhauptkommissar Dirk Stiebitz war die Arbeit an dem Fall Stephanie Drews mit besonderen Erinnerungen verbunden: "1991 war ich ein junger Kerl, kam frisch vom Studium, hatte an dem Wochenende auch noch Kriminalbereitschaft. Ich habe dann am Samstag und Sonntag mitgesucht. Es kamen zunächst etwa 100 Polizeibeamte zum Einsatz. Am Montag haben wir dann noch einen Polizeihubschrauber eingesetzt und auch nochmal die Suchmaßnahmen intensiviert, aber wir fanden sie nicht."
Unfall oder Mord auf der Teufelstalbrücke?
Die alte Teufelstalbrücke stand inzwischen nicht mehr. Sie war modernisiert worden und hatte jetzt zwei auch baulich getrennte Fahrspuren. Die Rekonstruktion des Sturzes von der Brücke war für die Ermittler der Soko "Altfälle" kaum mehr möglich. Sie schalteten die Hochschule Mittweida ein. Hier beschäftigt sich ein Studiengang mit digitaler Forensik. Schon mehrfach konnte das Institut von Prof. Dirk Labudde bundesweit mit computeranimierten 3-D-Modellen eines Tatorts zur Aufklärung von ungelösten Kriminalfällen beitragen.
2017 beginnt die Arbeit im Falle von Stephanie. In einer Computeranimation lässt das Team um Professor Dirk Labudde zunächst die alte Teufelstalbrücke wieder entstehen: "Wir haben in den Archiven nach Original-Bauplänen gesucht, um dann die gesamte Topologie dieses Tales mit dieser Brücke aus dieser Zeit zu rekonstruieren. Das heißt, wir haben den Zustand der Teufelstalbrücke 1991 im Rechner wieder zum Leben erweckt."
Digitale Forensik: Tatabläufe mit Computer simuliert
Dann wurden am Computer in Mittweida verschiedene Tatabläufe simuliert. Denn der Ort, wo das tote Mädchen gefunden wurde, lag rund acht Meter von jenem Punkt entfernt, an dem sie im freien Fall aufgeschlagen wäre. Eine Modellfigur des Mädchens wurde in 3D geschaffen, bis hin zur Ähnlichkeit des Kleides. In zahlreichen Versuchsanordnungen wurde immer deutlicher, dass Stephanie einen fremden Impuls, einen Stoß etwa, bekommen habe musste, um an diesem damaligen Auffindepunkt zum Liegen zu kommen.
Prof. Dirk Labudde Dirk Labudde hat in Rostock, Enschede und Kaiserslautern Theoretische Physik und Medizin studiert. 2009 wurde er als Professor an die Hochschule Mittweida berufen. 2014 gründete er dort Deutschlands ersten Bachelorstudiengang in Allgemeiner und Digitaler Forensik. Darüber hinaus ist Professor Labudde als Berater für verschiedene Polizeien der Länder und Staatsanwaltschaften tätig und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BKD). Er ist Mitautor von acht Fachbüchern und mehr als 250 Publikationen im Bereich der Bioinformatik und der Forensik. Für seine Lehrtätigkeit erhielt er mehrere Preise, unter anderem den Helmut-Lindner-Preis und den sächsischen Lehrpreis.
Der Entführer wurde in einer neuen Vernehmung damit konfrontiert: Es gebe nun einen Beweis, dass er das Mädchen von der Brücke gestoßen habe. Ohne weiteres Leugnen gab der Mann jetzt zu, dass es so gewesen war. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Durch Vorstrafen und eine Härtefallregelung wurde die Haft auf zwölf Jahre reduziert.
Auch bei zwei weiteren ungeklärten Mordfällen an Kindern aus den neunziger Jahren gelang es der "Soko Altfälle", die Täter zu ermitteln. Im Fall der zehnjährigen Ramona ist der Täter bereits verurteilt, im Fall des damals neunjährigen Bernd laufen noch weitere Ermittlungen.
Mordkommission löst "Soko Altfälle" ab
Im Frühsommer 2020 wurde die "Soko Altfälle" aufgelöst, eine neue zentrale Mordkommission in Erfurt geschaffen. Diese soll auch weiterhin die Aufklärung von sogenannten Altfällen fortsetzen. Ob das in dieser Struktur gelingen kann, muss die Zukunft zeigen. Die sehr besonderen Erfahrungen dieser oft langwierigen Arbeit auf den Spuren alter Verbrechen aber dürfen nicht verlorengehen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 13. September 2020 | 22:00 Uhr