Podcast | Diagnose: Unangepasst Sexualität und Sozialismus: Kontrollierte Frauen in der DDR
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03. Juni 2024, 18:18 Uhr
In der DDR waren Frauen, die ihre Sexualität abseits monogamer Ehe auslebten, Abweichlerinnen. Sie wurden nicht nur kontrolliert, sondern teils auch kriminalisiert, weggesperrt und misshandelt. Die DDR labelte viele von ihnen als "HwG-Person" oder Prostituierte. Die galten als Frauen mit "häufig wechselnden Geschlechtspartnern".
In der DDR wurden tausendfach Mädchen und junge Frauen gegen ihren Willen in geschlossenen venerologischen Stationen beispielsweise von Polikliniken oder in Krankenhäusern eingesperrt. Vorgeblich, um Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Doch wissenschaftliche Studien zeigen: Zwei Drittel der Frauen, die dort eingeliefert wurden, waren gesund und litten an keiner sexuell übertragbaren Krankheit.
Die Frauen und Mädchen wurden nach Ruhestörungen von Partys mitgenommen, am Bahnhof aufgegriffen oder als Ausreißerinnen beim Trampen an die Ostsee verhaftet. Die Maßnahmen erfolgten oft durch die Polizei. Doch diese polizeilichen Maßnahmen waren seit den 1960ern in der DDR illegal.
Das noch weiter aufzuarbeitende Kapitel der geschlossenen venerologischen Stationen zeigt, wie in der DDR mit weiblicher Sexualität, Sexarbeit und überhaupt mit Frauen umgegangen wurde, die in ihren Augen "unangepasst" waren. Welche Mechanismen von Kontrolle, Umerziehung und Misshandlung da greifen, das erzählt auch der ARD Podcast "Diagnose: Unangepasst - Der Albtraum Tripperburg".
Erziehung durch Disziplinierung
Die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Steffi Brüning hat sich intensiv mit dem staatlichen Blick auf weibliche Sexualität in der DDR befasst. Für sie ging es bei der Einweisung der gesunden Frauen in die geschlossenen Krankenstationen darum, Frauen durch Strafe und Zwang zu disziplinieren.
In ihrer wissenschaftlichen Arbeit wertete Steffi Brüning tausende Akten aus und sprach mit zahlreichen betroffenen Frauen. Dabei stellte sie fest, dass behördlich mehrere Begriffe in einen Topf geworden wurden. Eine frei ausgelebte Sexualität konnte von behördlicher Seite gleichgesetzt werden mit Sexarbeit, die jedoch in der DDR verboten war.
Dabei ist es von außen schwer zu erkennen, wie frei Menschen ihre Sexualität ausleben. Und so waren es vor allem Zuschreibungen von polizeilicher Seite: Weil junge Frauen auf einer wilden Party waren oder sie sich als Minderjährige nachts am Bahnhof aufhielten, galten sie als "sexuell freizügig" - und damit gleich als verdächtig, geschlechtskrank zu sein.
War der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten also tatsächlich bei Bedarf auch ein Vorwand, um Verhalten und weibliche Sexualität zu kontrollieren?
Dafür finden sich mehrere Indizien. So heißt es als Begründung für die Aufnahme in der geschlossenen venerologischen Station Leipzig z.B. in einer Akte über eine Patientin im Jahre 1977: Diese sei "aufgrund einer besonderen, den gesellschaftlichen Normen entgegen gesetzten Verhaltensweise" in die Poliklinik eingewiesen worden. "Für diese Verhaltensweise ist die o.g. genannte Bürgerin selbst verantwortlich." Und in der Hausordnung der geschlossenen venerologischen Station in Halle aus dem Jahr 1963 wird davon gesprochen, dass "diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen." Gesundheitliche Fürsorge und staatliche Erziehung werden an dieser Stelle offensichtlich vermischt.
Die gesellschaftliche Norm bezüglich Sexualität in der DDR war für Frauen, dass sie monogam leben sollten.
Doch Sexualmoral spielte auch eine Rolle. Die Wissenschaftlerin Steffi Brüning sagt: "Die gesellschaftliche Norm bezüglich Sexualität in der DDR war für Frauen, dass sie monogam leben sollten. Homosexualität bei Frauen war ein Tabuthema. Wenn Frauen dagegen verstoßen haben, galten sie als abweichend und wurden eben relativ schnell in diese HwG-Ecke geschoben."
Mehr als drei Partner in drei Monaten
"HwG" - eine Abkürzung für "Häufig wechselnde Geschlechtspartner". Mit diesem Verwaltungsbegriff wurden seit der Kaiserzeit Frauen beschrieben, die ein sexuell selbstbestimmtes Leben führten. Das war in den Augen der Zeitgenossen jedoch freizügig und sittenwidrig. Schon damals führte das dazu, dass die Abgrenzung zu tatsächlicher Sexarbeit verschwamm - also Menschen, die behördlich als Personen mit häufig wechselnden Geschlechtpartnern galten, schnell als Ausübende von Sexarbeit gesehen wurden. Dies setzte sich in der DDR fort und verband sich mit den eng gefassten Vorstellungen von der angeblichen weiblichen Sexualität im Sozialismus: monogam, innerhalb von Ehe, passiv.
Dabei wurden Menschen als "HwG" erfasst, ohne dass der Begriff jemals definiert wurde, "so dass viele Türen offen waren für Willkür", sagt Steffi Brüning. Die Eigendefinition einer Krankenpflegerin, mit der die Wissenschaftlerin gesprochen hatte, lautete etwa: "Wenn sie mehr als drei Sexualpartner in drei Monaten hatten". Die Entscheidung über eine "HwG"-Eintragung trafen letztlich behördliche Fürsorgerinnen.
HwG Personen - dazu konnten in der DDR auch Männer zählen- galten fortan als dringend krankheitsverdächtig und unterlagen einer unverzüglichen Meldepflicht beim Arzt. Sie wurden namentlich beispielsweise an die Polikliniken gemeldet. Betroffene durften unter Strafandrohung bis zu einer ärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung keine sexuellen Beziehungen eingehen und mussten sämtliche Sexualpartner namentlich angeben.
Abgestempelt - im Sozialversicherungsausweis
Einmal behördlich erfasst, waren Betroffene "im Prinzip abgestempelt", sagt Bettina L., eine ehemalige Leipziger Krankenschwester, die dort zu DDR-Zeiten in der Poli- und Frauenklinik gearbeitet hat.
Die hatten dann einen ganz kleinen Stempel drin, mit roter Stempelfarbe. Das hieß HwG.
Damit hatte nicht nur jeder Arzt Anlass, Patientinnen entsprechend zu untersuchen, auch die Polizei interessierte sich dafür: "Wichtig war das sicher, wenn sie aufgegriffen worden sind, während der Messe oder so. Dann wurden sie gleich zum Frauenarzt gebracht", berichtet die ehemalige Krankenschwester. So konnte aus einer anfangs vielleicht bloßen Zuschreibung direkt eine konkrete Zwangsmaßnahme werden.
Aus Akten des Bundesarchivs wird die Größenordnung von Menschen ersichtlich, die vom "HwG"-Stigma betroffen waren: Zwischen 1960 und 1965 etwa wurden in der gesamten DDR fast 19.000 "HwG"-Personen erfasst. Demgegenüber stand eine geringe Infektionsrate. Diese lag im Jahr 1950 zum Beispiel unter knapp 5.000 mehrfach untersuchten "HwG"- Personen bei gerade einmal 1,96 Prozent.
Die "sozialistische Lebensweise"
Als ebenfalls krankheitsverdächtig galten Sexarbeitende. 1968 wurde Prostitution durch den sogenannten Asozialenparagrafen als Gefahr für das bürgerliche Zusammenleben verboten. Damit wurden Menschen als asozial gelabelt, die aus DDR Sicht "arbeitsscheu" waren oder "unlauterem" Erwerb nachgingen. Der SED ging es also neben der Sexual- auch um Arbeitsmoral, indem sie Prostitution als illegitime Erwerbsform festschrieb. Die unklar definierten Begriffe im Gesetzestext machen deutlich, dass keine konkreten Straftaten im Vordergrund standen. Es ging um Lebensweisen, die nach SED-Vorstellungen nicht der "sozialistischen Lebensweise" entsprachen.
Der unscharf definierte Paragraf macht die staatliche Verfolgung von Sexarbeitenden oft unsichtbar, weil viele weitere Delikte wie Arbeitsverweigerung oder Kleinkriminalität unter "asozial" zusammenfielen. Insofern lässt es sich heute nicht klar sagen, wie viele Menschen aus DDR-Sicht als Prostituierte galten.
Auch verschwand der Begriff Prostitution zunehmend aus den Akten, stattdessen wurde "HwG-Person" genutzt. Wenn in Quellen also "über einer Frau HwG-Person gelabelt steht", so Steffi Brüning, sei es schwer einzuschätzen, "ob es sich um Prostitution handelt, ob diese Frau einfach sexuell freizügig war oder ob das alles am Ende überhaupt nicht stimmt."
Eine systematische Inhaftierung unliebsamer Personen konnte die Rostocker Wissenschaftlerin aber 1973 nachweisen: Anlässlich der 10. Weltfestspiele in der DDR unternahm das MfS Anstrengungen, der Welt einen moralischen Staat zu präsentieren. Mehr als 1.600 "abweichende" Personen wurden nach dem Asozialenparagrafen zu Arbeitsdienst verurteilt, um aus dem öffentlichen Bild zu verschwinden. Darunter befanden sich 115 angebliche Prostituierte.
Kriminalisierung und Förderung?
Frauen, deren Sexual- und Arbeitsverhalten nicht der "sozialistischen Lebensweise" entsprach, wurden als "asozial" kriminalisiert. Andererseits war die Kriminalisierung ein Druckmittel für das Ministerium für Staatssicherhet (MfS), Sexarbeit zu forcieren. Was paradox klingt, hatte für das Ministerium einen konkreten Nutzen: Es ging um Spionage.
Prominente Fälle sogenannter Honigfallen kamen Anfang der 1990er-Jahre ans Licht. Artikel wie jener von der "flotten Moni von der Stasi" zeichneten das Bild von jungen, attraktiven Frauen, die aus Spaß an Sex und Lust an Westprodukten für das MfS arbeiteten, um Informationen von West-Freiern zu erhalten. Doch dieses Bild muss korrigiert und ergänzt werden.
In die Überzeugung erpresst
Solche Frauen gab es zwar, das zeigen zahlreiche dokumentierte Fälle in den Akten. Aber oft wurden sie unter Druck gesetzt, als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) zu arbeiten. Einerseits gab es Frauen, die regelmäßiger Sexarbeit nachgingen und als "asozial" galten. Sie wurden durch Erpressung angeworben und sollten das eigene Milieu überwachen. Frauen, die hingegen als besonders attraktiv und systemtreu galten, sollten Beziehungen zu westlichen Diplomaten aufbauen. Dabei wurden Frauen IM aus Überzeugung, materiellem Interesse und persönlichen Vorteilen, aber auch durch Druck und Erpressung tätig.
Steffi Brüning beschreibt den Fall Magdalena N., die in einem Interview erklärte, sofort einer Mitarbeit zugestimmt zu haben: "Ich dachte auch, also da tust du was Gutes." Sie ging daraufhin sexuelle Beziehungen mit Männern ein, über die sie Informationen sammelte. Klara S. berichtete wiederum, dass der Kontakt mit dem MfS "scheußlich" gewesen sei. Dass sie als "freiwillig" aufgeführt wurde. Das Ministerium hätte ihr als Frau ohne geregelte Arbeit aber "die Pistole auf die Brust gesetzt", sodass sie sofort zustimmte.
Die Frauen sind schuld: Historisches zu HwG und Prostitution:
Seit der frühen Neuzeit wurde die Schuld für die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten vor allem als freizügig geltenden Frauen und Prostituierten zugeschrieben. Prostitution war sittenwidrig und stand ab 1871 im gesamten deutschen Kaiserreich unter polizeilicher Kontrolle. Die Polizei bestimmte, wer und was unter Prostitution fiel. Sie war vom Gewerberecht ausgeschlossen. Es gab eine Meldepflicht, Pflichtuntersuchungen und Einschränkungen bei der Wohnungswahl. Für polizeiliche Maßnahmen reichte die Verdächtigung der “Gewerbsunzucht”.
In der Weimarer Republik unterstand Prostitution nicht mehr polizeilicher, sondern der Aufsicht von Gesundheitsbehörden. Trotzdem blieb der Generalverdacht, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten. Damals etablierte sich der "HwG"-Begriff, durch den die Erfassung tatsächlicher Sexarbeit und einer sexuell als freizügig geltenden Lebensführung immer mehr verschwammen.
Die Nationalsozialisten übertrugen der Polizei wieder mehr Kompetenzen zur Repression gegen Prostituierte, "HwG"-verdächtige Personen und andere “auffällige” Frauen. Es drohten Zwangsbehandlungen, Entmündigung, Zwangssterilisation oder Konzentrationslager.
Auch die sowjetische Militäradministration führte nach dem Krieg ihren Kampf gegen Geschlechtskrankheiten polizeilich. Die Ausbreitung von Syphilis und Gonorrhoe stellten damals ein großes Problem dar. Eine Folge der massenhaften sexualisierten Gewalt, die Wehrmachts- und alliierte Soldaten überall in Europa verübten. Bis in die 1950er-Jahre gab es wöchentliche Razzien in Bars, Kinos und anderen Orten, wo sich vermutlich geschlechtskranke Personen aufhielten. Verhaftete wurden teilweise zwangshospitalisiert und zum Arbeitsdienst verurteilt.
Der Artikel entstand aus den Recherchen zum Podcast "Diagnose: Unangepasst - Der Albtraum Tripperburg". Den finden Sie in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcast gibt.
Dieses Thema im Programm: ARD Audio | Podcast "Diagnose Unangepasst" | 30. April 2024 | 06:00 Uhr