Interview Nach Nine Eleven: Suspendierung wegen antiamerikanischer Äußerungen
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05. September 2021, 05:00 Uhr
Der 11. September 2001 ist bis heute unvergessen. Dreitausend Menschen sterben bei den islamistischen Terror-Anschlägen der Al Qaida auf das World Trade Center und auf das Pentagon. Die ganze Welt ist damals geschockt und gelähmt. Es gibt keine Erfahrung, wie man auf ein solches Ereignis reagieren sollte. Keine Handlungsanweisung, keinen Plan.
An den deutschen Schulen findet am Tag danach ganz normal Unterricht statt. Und die Lehrerinnen und Lehrer sind der erste Ansprechpartner für die verängstigten und empörten Schüler. So auch Petra Seedorff, die im September 2001 Lehrerin in Hohenstein Ernstthal ist und eine von drei Lehrerinnen in Sachsen, die infolge von mündlichen Äußerungen zum Anschlag auf das Word Trade Center kurzerhand vom Dienst suspendiert werden. Nun spricht sie das erste Mal öffentlich über die Ereignisse von damals.
Am 12. September 2001 – einen Tag nach den Anschlägen – hatten Sie als Lehrerin Unterricht an Ihrer damaligen Schule in Sachsen. Wollten die Schüler am Morgen danach über den Anschlag in den USA reden?
Petra Seedorff: Ich sollte an dem 12. September in der vierten Stunde Geschichte in einer zehnten Klasse geben. Natürlich habe ich vorher darüber nachgedacht, was man sagen könnte. Aber ich hatte kein Konzept. Es hatte zu dem Zeitpunkt auch wirklich keiner ein Konzept. Und es hat sich dann tatsächlich so ergeben, dass die Schüler Redebedarf hatten, denn in den ersten drei Stunden hatte niemand mit ihnen über diese Ereignisse gesprochen. Und ich habe sie reden lassen.
Was mich damals erstaunt hat, war, dass die Hälfte der Klasse nachmittags an diesem 11. September vorm Fernseher gesessen hatte. Und dann haben wir darüber geredet und diskutiert. Und da bin ich natürlich auch auf den weltpolitischen Kontext gekommen, dass man eine Sache nicht im luftleeren Raum betrachten könne. Also, dass dort Tausende Menschen ums Leben gekommen sind, das ist eine Tragödie, eine Katastrophe – unbesehen. Jedoch passiert so etwas nicht im luftleeren Raum, da gibt es Ursachen und Zusammenhänge. Die USA sind eben nicht nur das Land von Franklin D. Roosevelt, sondern auch von George W. Bush.
Aber wie kann es dann sein, dass Ihnen Ihre Aussagen vor den Schülern als antiamerikanisch ausgelegt worden sind?
Petra Seedorff: Das ist der Punkt, der mir unklar erscheint. Also, es war eine durchaus sehr emotionale Stimmung in der 31-köpfigen Klasse. Das war eine sehr muntere, sehr mitteilungsbedürftige Klasse. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es auch mehr Jungen als Mädchen. Und wir hatten ein recht freundliches, offenes Verhältnis zueinander. Dachte ich jedenfalls. An dem Abend dachte ich tatsächlich noch: Du hast nichts falsch gemacht.
Es hieß dann, es hätten sich Schüler irgendwann an dem Nachmittag laut auf der Straße unterhalten und ein Rentner habe das gehört und sich beim Schulleiter beschwert. Aber Sie hören schon, ich weiß es nicht. Aber der Rentner ist wohl das, was später als die "Öffentlichkeit von Hohenstein-Ernstthal" bezeichnet wurde. Die Öffentlichkeit von Hohenstein-Ernstthal habe sich beschwert.
Wie reagierten der Schulleiter und die Schulbehörde auf die Beschwerde des Bürgers aus dem Ort gegen Sie?
Petra Seedorff: An dem Donnerstagmorgen – das war dann der 13. September – bin ich ganz normal in die Schule gegangen und habe Unterricht gemacht. Dann wurde ich aus der Stunde rausgeholt und zum Schulleiter bestellt. Da wurde nur gesagt, es habe massive Elternbeschwerden gegeben. Das ist für Lehrer die absolute Totschlagkeule: Eltern haben sich beschwert. Man erfährt keine Namen und auch sonst nichts. Ich sollte dann bis zum nächsten Tag aufschreiben, was da in der Geschichtsstunde genau passiert sei. Das sollte dann ins Schulamt weitergeleitet werden. Am selben Nachmittag erhielt ich zudem noch einen Anruf vom Regionalschulamt, dass ich am anderen Vormittag dorthin kommen sollte.
Aber am nächsten Tag hatte sich die ganze Sache verändert. Die Presse war eingeschaltet worden. Woher die Mitteilung an die Zeitung gekommen ist, ist mir bis heute unklar. Die Presse wandte sich an dem Donnerstagnachmittag an das Regionalschulamt. Das wusste zu dem Zeitpunkt wohl auch noch nicht sehr viel oder gar nichts.
Als ich Freitag früh zum Unterricht gegangen bin, hatte die Freie Presse schon berichtet. Ohne mich zu fragen, ohne wahrscheinlich auch Schüler zu fragen. Die Zeitung hatte geschrieben, dass eine Lehrerin den Terroranschlag begrüßt hätte. Ich konnte nicht mal die Schule betreten, wurde sofort vom Schulleiter in sein Schulleiterzimmer beordert. Dort hat er mir dann gesagt, dass ich in keine Klasse mehr gehe, dass ich suspendiert sei, alles Weitere würde im Regionalschulamt geklärt. Als alleinerziehende Mutter, die als Lehrerin damals in Sachsen nicht besonders gut bezahlt worden ist, war es auch eine finanzielle, also eine existenzielle Sorge, wie wird das nun?
Was haben Sie damals gedacht? Fühlten Sie sich schuldig?
Petra Seedorff: Ich konnte es nicht begreifen. Wissen Sie, wenn man mit einer Sache konfrontiert wird, wo man denkt, das gibt's doch nicht, das ist doch nicht wahr, das stimmt doch nicht. Ich war völlig überfordert. Wenn man so viel wie ich mit Sprache umgeht, will man eigentlich durch Reden Sachen klären. So wollte ich an dem Freitag in die zehnte Klasse gehen und mit ihnen reden, was sie so sehr missverstanden hätten an jenem 12. September. Aber das durfte ich nicht. Es wurde mir verweigert. Aber ich dachte immer noch: Das wird sich klären. Das kann ja nur ein Missverständnis sein.
Im Regionalschulamt hat man mir dann nur gesagt, es gehe um ordentliche oder außerordentliche Kündigung. Und es würde eine Untersuchung geben. Das Problem war aber, dass der Satz in der Presse war: Ich hätte den Terroranschlag begrüßt. Und so ein Satz klebt an einem wie ein alter Kaugummi.
Was haben Sie denn aber nun genau gesagt, können Sie sich nach 20 Jahren noch daran erinnern?
Petra Seedorff: Ich kann den Kontext wiedergeben, den ich mit den Schülern besprochen habe. Ich erklärte sinngemäß: Es war das erste Mal, dass so ein Anschlag in den USA, im eigenen Land, passiert. Also bezogen darauf, dass es in den USA keinen Krieg im Land gegeben hatte außer den Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Und dass sonst alle Kriege, in die die USA involviert waren, nicht im eigenen Land stattfanden. Und wenn dann "das erste Mal" durch "endlich" ersetzt wird, ist ein Satz derart entstellt und kriegt so eine völlig andere Note.
Konnten Sie später mit den Schülern, Kollegen oder Eltern dieses entstellte Zitat aufklären?
Petra Seedorff: Nein. Nie wieder habe ich jemanden aus dieser Klasse gesehen. Aber sie wurden über mich befragt. In einem MDR-Bericht aus der Zeit, den ich erst jetzt gesehen habe, sprachen Mädchen von mir, als sei ich gestorben. Also im Präteritum. Das war schon erschütternd. Und noch erschütternder war, dass diese befragten Mädchen gar nicht in der betroffenen Klasse waren und deshalb auch nicht in jener Stunde dabei waren. Unmittelbar an dem Freitag war es ganz schlimm. Ich wollte mich verkriechen, Luft anhalten. Einfach weg.
Ich bin versetzt worden nach Olbernhau. Es ging mir nicht gut an dem ersten Tag. Es sollte erst einmal eine Art Vorstellungsgespräch geben und nicht gleich Unterricht. Und ich dachte, jetzt kriegst du bestimmt gleich den Kopf gewaschen. Wie geht jetzt jemand anderes damit um? Aber der Schulleiter bat mich dann in sein Zimmer und das erste, was er sagte, war: "Bei mir an der Schule hätte es das so nicht gegeben, wie es Ihnen passiert ist." Und es waren dann auch zwei schöne Jahre in Olbernhau.
Waren damit der Vorwurf des Antiamerikanismus aus der Welt und Ihr Ruf wieder hergestellt? Die Suspendierung wurde ja zurückgenommen und Sie durften auch wieder als Lehrerin arbeiten.
Petra Seedorff: Ich hatte eine Abmahnung erhalten und in der stand: 'Ein nicht genau zu zitierender Satz, dessen Wortlaut nicht nachprüfbar ist, wird zum Anlass genommen, die Abmahnung auszusprechen.' Das alles fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, auch die Versetzung nach Olbernhau. Ich habe in dieser Zeit eine Menge gelernt, auch über Menschen, über Freunde, wo man Zuspruch bekommt, auch von wo man es gar nicht gedacht hat.
Was ich aber sehr bedauerlich finde, ist, dass man damals etwas in den Fokus gerückt hat, was gar nicht so wichtig gewesen ist. Also da hat eine kleine Lehrerin was gesagt, was nicht in das erwartete Schema passte oder missverstanden werden konnte. Aber dieses große Ding eigentlich, worüber man hätte reden müssen – Ursachen für den Anschlag, Zusammenhänge – das ist damit hinten runtergefallen. Und das ist eigentlich das, was schlimm ist. Denn kritischer Unterricht sollte sich auch mit unbequemen Sachen beschäftigen und die Schüler befähigen, mit kontroversen Fragen umzugehen.
Inzwischen denke ich: Es gab nichts, wofür ich mich schämen muss. Vielleicht eine zu saloppe Wortwahl – das lasse ich offen. Ich mache den Beruf immer noch gerne, studiere Theaterstücke mit Schülern ein und bilde Deutschlehrer aus. Dieses Jahr 2001 hat Spuren bei mir hinterlassen – aber nicht zu vergleichen mit den Spuren, die der Anschlag weltweit hinterließ.
Das Interview führte Katja Herr.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 05. September 2021 | 22:00 Uhr